Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Sachaufklärung
Orientierungssatz
Bejahen zwei medizinische Sachverständige den Zusammenhang zwischen Wehrdienst und Leiden, während ein dritter ihn verneint, jedoch hinzufügt, daß eine endgültige Antwort nur von einem Fachmediziner gegeben werden könne, so verletzt das Gericht § 103 SGG und § 128 SGG, wenn es den Zusammenhang verneint, ohne diesen Facharzt gehört zu haben.
Normenkette
SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 14.03.1962) |
SG Darmstadt (Entscheidung vom 10.10.1960) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. März 1962 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger leistete von Oktober 1935 bis Oktober 1937 und von August 1939 bis Kriegsende Wehrdienst. In einem Bescheid der Sozialversicherungsanstalt Thüringen in G vom 7. Dezember 1949 heißt es, daß bei dem Kläger "Lungentuberkulose bei Asthma bronchiale" als Wehrdienstbeschädigung anerkannt werde, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers 100 v. H. betrage und von Juni 1949 an Invalidenrente gewährt werde. Der Kläger erhielt nach seinen Angaben ab 1956 Rente nach einer MdE von 70 v. H.
Der Kläger beantragte - nach seiner Aufnahme im Bundesgebiet - im September 1957 Versorgung wegen seines Bronchialasthmas und seines Tbc-Leidens nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Das Versorgungsamt (VersorgA) Darmstadt ließ den Kläger durch den Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. H untersuchen und begutachten; Dr. H hielt den ursächlichen Zusammenhang mit dem Wehrdienst sowohl für die Lungen-Tbc als auch für das Asthmaleiden des Klägers für wahrscheinlich. Der Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. M vertrat dagegen in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme die Auffassung, daß das Asthmaleiden keine Schädigungsfolge sei. Das VersorgA stellte mit Bescheid vom 19. Februar 1959 bei dem Kläger "Lungentuberkulose" als Schädigungsfolge fest, es bewilligte dem Kläger eine Rente nach einer MdE von 30 v. H.; in dem Bescheid heißt es weiter, das Asthma bronchiale sei keine Schädigungsfolge, es handele sich bei dieser Krankheit um ein allergisches Leiden, das sich schon seit dem 16. Lebensjahr des Klägers durch Kopf- und Gesichtsekzeme geäußert habe. Den Widerspruch des Klägers wies das Landesversorgungsamt (LVersorgA) Hessen am 26. Juli 1959 zurück. Mit der Klage machte der Kläger geltend, er sei im September 1941 in Rußland an einer Bronchitis erkrankt, daraus habe sich das Asthma entwickelt; er sei deswegen auch seit November 1941 im Lazarett behandelt worden, vorher sei er nicht "einschlägig" erkrankt gewesen.
Das Sozialgericht (SG) hörte auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) den Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. S; Dr. S vertrat die Auffassung, die Auslösung des Asthmas sei wahrscheinlich den Bedingungen des Kriegs zu Last zu legen, die chronische asthmatoide Bronchitis sei daher Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung. Dieser Auffassung trat der Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. M in einer von dem Beklagten überreichten Stellungnahme entgegen; er meinte, die asthmatischen Beschwerden des Klägers seien lediglich zufällig zeitlich mit dem Wehrdienst zusammengefallen; Dr. M wies auf die Schwierigkeit der medizinischen Beurteilung eines Asthma bronchiale hin und sagte weitere Untersuchungen durch einen Asthmaspezialisten oder durch eine Universitätsklinik an.
Das SG Darmstadt stellte mit Urteil vom 10. Oktober 1960 bei dem Kläger Lungen-Tbc i. S. der Entstehung und Bronchialasthma i. S. der Verschlimmerung als Schädigungsfolgen fest; es sprach dem Kläger eine Rente nach einer MdE von 40 v. H. zu.
Der Beklagte legte Berufung ein; er machte geltend, das SG habe den Sachverhalt hinsichtlich der Ursachendes Asthmaleidens nicht genügend geklärt; das SG habe sich auf Grund der Ausführungen des Dr. M veranlaßt sehen müssen, weitere medizinische Erhebungen anzustellen, zumal gerade die Beurteilung eines Asthma bronchiale im Zusammenhang mit einem Hautleiden einen besonderen diagnostischen Aufwand erfordere.
Das Landessozialgericht (LSG) hob mit Urteil vom 14. März 1962 das Urteil des SG vom 10. Oktober 1960 auf und wies die Klage ab: Es sei nicht wahrscheinlich, daß das Bronchialasthma des Klägers durch besondere Einwirkungen des Wehrdienstes verschlimmert worden sei; es sei nicht nachgewiesen, daß sich aus einer Bronchitiserkrankung des Klägers im Herbst 1941 ein Asthma entwickelt habe; der Kläger sei im November 1941 im Lazarett nicht wegen Asthmas, sondern wegen Herzbeschwerden behandelt worden; "einschlägige Befunde" seien erst etwa 1 1/4 Jahr später erhoben worden, als der Kläger angegeben habe; erst bei der Behandlung eines impetiginösen Ekzems von November 1942 bis Januar 1943 sei eine Bronchitis mit asthmatischen Beschwerden als Nebenbefund erhoben worden; das Gutachten des Dr. S, auf das sich das SG gestützt habe, sei nicht überzeugend; ein weiteres Gutachten, auch über die Frage des Zusammenhangs der schon früher aufgetretenen Ekzeme mit den asthmatischen Beschwerden des Klägers, sei nicht erforderlich, weil im Krankenblatt des Lazaretts Kl.e am 29. Januar 1943 vermerkt sei, daß eine etwaige Verschlimmerung des Hautleidens keine Wehrdienstbeschädigung sei.
Das Urteil wurde dem Kläger am 5. April 1962 zugestellt. Der Kläger legte am 2. Mai 1962 Revision ein; er beantragte,
das Urteil des Hessischen LSG vom 14. März 1962 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Darmstadt vom 10. Oktober 1960 zurückzuweisen.
Der Kläger begründete die Revision am 10. Mai 1962. Er machte geltend, das LSG habe die ärztlichen Gutachten nicht richtig ausgewertet und den Sachverhalt hinsichtlich der Ursache des Asthmaleidens des Klägers nicht genügend geklärt; es habe, wie auch der Beklagte mit der Berufung angeregt habe, ein weiteres ärztliches Gutachten einholen müssen; das LSG habe danach die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt.
Der Beklagte stellte keinen Antrag.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln.
Streitig ist, ob - außer der Lungen-Tbc, für die der Kläger eine Rente nach einer MdE von 30 v. H. erhält - auch das Bronchialasthma des Klägers Folge einer Schädigung i. S. des § 1 BVG ist und ob dem Kläger deshalb eine höhere Rente zusteht. Das LSG hat dies verneint; es hat jedoch keine ausreichenden Unterlagen gehabt, um feststellen zu können, daß das Asthma bronchiale des Klägers nicht durch schädigende Einwirkungen des Wehrdienstes beeinflußt worden ist. Das LSG hat den ursächlichen Zusammenhang des Asthmaleidens mit dem Wehrdienst nicht schon deshalb verneinen dürfen, weil es nicht hat feststellen können, daß der Kläger - wie er behauptet hat - bereits seit November 1941 mehrere Monate nicht nur wegen Herzbeschwerden, sondern auch wegen des Bronchialasthmas in einem Lazarett in Wien behandelt worden ist. Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß der Kläger auf dem Vormarsch nach Rußland im Spätsommer oder Herbst 1941 an einer Bronchitis erkrankt ist; es hat ferner festgestellt, daß bei der Lazarettbehandlung des Klägers wegen eines impetiginösen Ekzems in Kl. von November 1942 bis Januar 1943 eine Bronchitis mit asthmatischen Beschwerden als Nebenbefund erhoben worden ist; es hat schließlich festgestellt, daß in dem fachärztlichen Befund des Reservelazaretts Herford vom 4. März 1943 hervorgehoben worden ist, daß "diesmal die Beschwerden einer asthmatoiden Bronchitis" im Vordergrund stünden. Auch das LSG ist danach davon ausgegangen, daß der Kläger während des Wehrdienstes an Bronchialasthma erkrankt gewesen ist, wenn es auch angenommen hat, ärztlicherseits seien einschlägige Befunde etwa 1 1/4 Jahr später erhoben worden, als "der Kläger die Krankheit hat festgestellt haben wollen". Die Frage, ob und inwieweit es für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des Bronchialasthmas mit dem Wehrdienst bedeutsam gewesen ist, in welchem Zeitpunkt während des Wehrdienstes die ersten einschlägigen Befunde erhoben worden sind, hat das LSG nicht von sich aus beurteilen können. Über die Frage, ob das Bronchialasthma, an dem der Kläger jetzt leidet, durch schädigende Einwirkungen des Wehrdienstes beeinflußt worden ist, haben dem LSG - wie schon dem SG - drei ärztliche Gutachten vorgelegen. Der Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. H hat den ursächlichen Zusammenhang des Asthmaleidens mit Einflüssen des Wehrdienstes bejaht, da "dessen Entstehung dem Wehrdienst zuzurechnen sei". Der Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. S hat ausgeführt, sowohl die Hauterkrankungen als auch das Asthma des Klägers seien Äußerungen von Allergien, die sich bei zusätzlichen äußeren Reizungen manifestiert hätten; der Kläger habe schon während seines aktiven Wehrdienstes eine Lungenentzündung und später eine Bronchitis durchgemacht, die beide Wegbereiter zur Allergisierung des Bronchialsystems gewesen seien; die letzte Auslösung habe dann die Bronchitis im Rußlandfeldzug ergeben, die chronische asthmatoide Bronchitis sei danach Schädigungsfolge i. S. der Verschlimmerung. Der Beklagte hat zu diesem Gutachten eine Äußerung des Facharztes für Lungenkrankheiten Dr. M überreicht; darin hat Dr. M die Auffassung vertreten, das Asthma bronchiale sei durch die Besonderheiten des Wehrdienstes nicht verursacht oder verschlimmert worden; es habe nur ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen vorgelegen; der Bronchitis im Jahre 1941 könne keine Bedeutung beigemessen werden; Dr. M hat aber hinzugefügt, gerade die Beurteilung eines Asthma bronchiale sei schwierig und erfordere einen erheblichen diagnostischen Aufwand, weil Testungen notwendig seien, um die Hauptallergene für die Allergie zu eruieren, für die medizinische Beurteilung dieses Falles sei auch besonderes Wissen auf dem Gebiete der inneren Medizin und der Dermatologie notwendig, es sei deshalb zweckmäßig, eine Universitätsklinik oder einen Asthmaspezialisten zu hören.
Auf Grund dieser medizinischen Unterlagen hat das LSG noch nicht überzeugt sein dürfen, daß schädigende Einwirkungen des Wehrdienstes ohne Einfluß auf das Bronchialasthma des Klägers gewesen sind. Das LSG hat zwar den Gutachten der Fachärzte Dr. M und Dr. S nicht folgen müssen, wenn es zu der Auffassung gekommen ist, diese Ärzte hätten ihrer medizinischen Beurteilung Tatsachen zugrunde gelegt, die das LSG nicht hat feststellen können; es hat sich dann aber andere geeignete medizinische Unterlagen verschaffen müssen, um die Frage des ursächlichen Zusammenhangs des Asthma bronchiale mit dem Wehrdienst beurteilen zu können. In der Äußerung des Facharztes Dr. M hat das LSG keine ausreichende medizinische Beweisgrundlage sehen dürfen, zumal Dr. Müller ausdrücklich auf die Schwierigkeit der medizinischen Beurteilung und auf die Notwendigkeit weiterer medizinischer Erhebungen hingewiesen hat; Dr. M hat sich offenbar auch nicht abschließend äußern wollen. Das LSG hat auch nicht schon deshalb feststellen dürfen, daß das Bronchialasthmaleiden des Klägers nicht durch besondere Einwirkungen des Wehrdienstes beeinflußt worden sei, weil in dem Lazarettkrankenblatt von Kl. vom 29. Januar 1943 vermerkt worden ist, "ein Zusammenhang einer etwaigen Verschlimmerung des Hautleidens mit einer dienstlichen Verrichtung wird ärztlicherseits verneint". Die Frage, ob das Asthma des Klägers hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs mit dem Wehrdienst ebenso zu beurteilen ist wie sein Hautleiden, hat das LSG ebenfalls nur auf Grund geeigneter medizinischer Unterlagen beurteilen dürfen; auch insoweit hat es aber auf Grund der bisherigen medizinischen Unterlagen den Sachverhalt noch nicht als geklärt ansehen dürfen. Das LSG hat demnach weitere medizinische Erhebungen über das Krankheitsbild des Klägers und seine Ursachen anstellen müssen; es hat jedenfalls noch ein ärztliches Gutachten einholen müssen, an dem auch ein Facharzt für innere Medizin und ein Facharzt für Dermatologie beteiligt sind, wie es Dr. M angeregt hat.
Da das LSG nicht, wie es geboten gewesen ist, ein weiteres Gutachten eingeholt hat, hat es insoweit die Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG); es hat insoweit auch die Pflicht, sich seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden (§ 128 SGG) nicht voll erfüllt. Der Kläger hat den Verstoß gegen diese Verfahrensvorschriften in der nach § 164 Abs. 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist sonach nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und somit zulässig.
Die Revision ist auch begründet, denn es ist möglich, daß das LSG bei weiterer Aufklärung des Sachverhalts und neuer Würdigung der Beweise zu einem anderen Ergebnis kommt.
Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben; der Senat kann nicht selbst entscheiden, da noch weitere Erhebungen erforderlich sind; die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen