Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenaufteilung von Witwenrente an Witwe und frühere Ehefrau. Unterhaltsverpflichtung von früherem Ehemann bzw Verwandten. Sachaufklärung
Orientierungssatz
Bei der Aufteilung von Witwenrente nach AVG § 42 in Verbindung mit § 45 Abs 4 ist bei der Frage, ob eine Geschiedenenwitwenrente zu zahlen ist und eine Unterhaltsverpflichtung des verstorbenen Ehemanns gegenüber seiner früheren Ehefrau gemäß EheG § 60 bestand, hinsichtlich der Feststellung ihres notwendigen Lebensunterhalts nicht allein von den Leistungen auszugehen, die im Einzelfall nach den Vorschriften des BSHG zu erbringen sind.
Die Erheblichkeit einer Unterhaltsleistung des früheren Ehemannes bemißt sich nach dem Gesamtaufwand der Ehefrau für den notwendigen Lebensunterhalt und nicht etwa nur nach der bestehenden Deckungslücke, die wegen der Subsidiarität der Sozialhilfe (BSHG § 21) allein von dieser getragen worden ist.
Wenn dies von dem Berufungsgericht nicht beachtet worden ist, liegt eine mangelhafte Sachaufklärung und eine unrichtige Beweiswürdigung vor.
Normenkette
AVG § 42 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23; AVG § 45 Abs. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1268 Abs. 4 Fassung: 1957-02-23; EheG §§ 30, 60; SGG § 103; BSHG § 22; SGG § 128 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 19.11.1971) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 24.03.1971) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. November 1971 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der im Jahre 1902 geborene Versicherte hatte am 12. Mai 1938 die im Jahre 1906 geborene Beigeladene geheiratet. Aus der Ehe ist ein am 31. Juli 1940 geborener Sohn Horst hervorgegangen. Durch das am 29. November 1944 verkündete und sofort rechtskräftig gewordene Urteil des Oberlandesgerichts in Düsseldorf ist die Ehe aus beiderseitigem Verschulden geschieden worden.
Am 24. Juli 1947 heiratete der Versicherte die Klägerin. Der Ehe entstammt eine am 29. Juni 1948 geborene Tochter. Seit 1967 bezog er Altersruhegeld. Es belief sich im Jahre 1969 auf 756,- DM monatlich abzüglich 13,60 DM Krankenversicherungsbeitrag, also auf 742,40 DM netto. Daneben hatte er Mieteinkünfte von etwa 400,- bis 500,- DM monatlich. Für seine frühere Ehefrau zahlte er seit dem 1. Juni 1968 an das Sozialamt monatlich 50,- DM. Am 27. März 1969 ist er gestorben.
Mit Bescheid vom 13. Juni 1969 gewährte die Beklagte zunächst der Klägerin allein Hinterbliebenenrente in Höhe von monatlich 424,80 DM.
Mit Bescheid vom 9. Dezember 1969 bewilligte die Beklagte auch der wegen eines Hüftgelenkleidens erwerbsunfähigen früheren Ehefrau des Versicherten, der Beigeladenen, Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in Höhe von monatlich 98,70 DM vom 1. Mai 1969 an; gleichzeitig wurde die Rente der Klägerin vom 1. Februar 1970 an nach § 45 Abs. 4 AVG auf monatlich 326,- DM gekürzt.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Sie begehrt die Weiterzahlung ihrer vollen Witwenrente. Ihre dahingehende Klage hat das Sozialgericht (SG) Duisburg abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG), das die Rentenakte der Beklagten, die Sozialhilfeakte der Stadt Duisburg über die Beigeladene und die Akten über den Unterhaltsrechtsstreit der Beigeladenen gegen ihren Sohn Horst (8 C 630/67 des Amtsgerichts - SG - Duisburg-Ruhrort) beigezogen hat, führt aus der Versicherte sei der Beigeladenen zur Zeit seines Todes gemäß § 30 des Ehegesetzes (EheG) zur Zahlung eines Unterhaltsbeitrages verpflichtet gewesen. Die Beigeladene sei unterhaltsbedürftig gewesen. Sie habe nach dem eingeholten ärztlichen Gutachten praktisch nicht mehr erwerbstätig sein können. Gegen ihren Sohn habe sie keinen Unterhaltsanspruch gehabt, wie aus dem in den Akten 8 C 630/67 enthaltenen Urteil des Landgerichts - LG - Duisburg vom 6. März 1968 hervorgehe. Sonstige Einnahmen habe sie nicht gehabt. Sie habe Sozialhilfe von monatlich 110,- DM erhalten. Demgegenüber sei der Versicherte bei seinem Einkommen zu einer Unterhaltsleistung in Höhe von monatlich 50,- DM in der Lage gewesen, ohne seinen eigenen angemessenen Unterhalt oder den seiner Familienangehörigen unbilligerweise zu schmälern. Er habe dies auch selbst dadurch eingeräumt, daß er sich dem Sozialamt gegenüber zu entsprechenden Zahlungen bereit erklärt und sie regelmäßig geleistet habe.
Der Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG genüge nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Begründung eines Hinterbliebenenrentenanspruchs nach § 42 AVG und ein Betrag von 50,- DM monatlich stelle "Unterhalt" im Sinne der Rechtsprechung des BSG zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) dar. Die Klägerin erwähne selbst, daß das BSG nur den Grundsatz aufgestellt habe, daß in der Regel etwa 25 v. H. des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs des Unterhaltsberechtigten als Unterhalt im Sinne des § 1265 RVO und des § 42 AVG in Betracht kämen. Es handele sich also lediglich um einen Annäherungswert. Für einen Empfänger von 110,- DM Sozialhilfe bedeuteten aber 50,- DM monatlich einen beachtlichen Beitrag zur Deckung des Lebensbedarfs. Entgegen der Behauptung der Klägerin habe im übrigen das LSG Nordrhein-Westfalen in seinem dem Urteil des BSG in SozR § 1265 Nr. 49 zugrundeliegenden Falle den Mindestbedarf für das Jahr 1967 keineswegs ganz allgemein auf 200,- bis 240,- DM monatlich beziffert, sondern nur erwähnt, daß nach den von den Zivilgerichten zuerkannten Sätzen der notwendige Mindestbedarf heute mit monatlich 200,- bis 240,- DM anzunehmen sei. Für einzelne Fälle wie den vorliegenden könne durchaus etwas anderes gelten.
Das LSG Nordrhein-Westfalen hat in seinem Urteil vom 19. November 1971 die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Die Klägerin hat gleichwohl dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie rügt wesentliche Verfahrensmängel, die ihre Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft machen sollen, und beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteil des SG Duisburg vom 24. März 1971 die Beklagte gemäß dem Klageantrag zu verurteilen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren nicht vertreten lassen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II.
Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Revision beanstandet zu Recht die Ausführungen im angefochtenen Urteil, der gezahlte und der Beigeladenen zustehende Beitrag zum Lebensunterhalt von 50,- DM monatlich sei deshalb als Unterhalt im Sinne der Rechtsprechung des BSG zu § 1265 RVO anzusehen (vgl. dazu BSG 22, 44; SozR Nr. 41 und 49 zu § 1265 RVO sowie neuerdings 12 RJ 118/71 vom 17. Mai 1972, VdK-Mitt. 1972, 317), weil für einen Empfänger von 110,- DM Sozialhilfe, der kein sonstiges Einkommen habe, 50,- DM einen beachtlichen Beitrag zur Deckung seines Lebensunterhalts bedeuteten. Hiermit hat das LSG, wie zutreffend gerügt ist, sowohl § 103 als auch § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG verletzt. Die zuvor wiedergegebenen Ausführungen des LSG können nur so verstanden werden, daß es entsprechend der von der Beigeladenen tatsächlich bezogenen Sozialhilfe von 110,- DM monatlich diesen Betrag als den für sie zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarf angesehen hat, und daß deshalb die vom Versicherten an das Sozialamt gezahlten 50,- DM mehr als 25 v. H. dieses zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs von 110,- DM monatlich darstellten. Der Satz von 110,- DM monatlich, den die Beigeladene als Sozialhilfe erhalten hat, stellte aber nicht den Regelsatz für einen Alleinstehenden, sondern den für einen älter als 18 Jahre alten Haushaltsangehörigen dar (vgl. Übersicht über die soziale Sicherheit in Deutschland, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 8. Aufl. S. 239). Die Beigeladene mußte also im Haushalt eines Angehörigen gelebt und dort zumindest freie Unterkunft gehabt haben. Das bestätigt denn auch die über sie geführte Sozialhilfeakte. Danach hat sie im Haushalt ihrer über 80-jährigen Mutter gelebt, die ihrerseits eine Witwenrente und eine Unterhaltshilfe vom Lastenausgleichsamt erhielt. Schon zu diesen, für die Bestimmung des notwendigen Mindestbedarfs bedeutsamen Verhältnissen hat das LSG in dem angefochtenen Urteil keine Stellung genommen. Darüber hinaus entspricht, wie der 12. Senat des BSG in seinem bereits genannten Urteil vom 17. Mai 1972 zutreffend ausgeführt hat, nicht einmal der Regelsatz i. S. des § 22 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) dem Gesamtaufwand für den notwendigen Lebensunterhalt, also dem zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarf eines Unterhaltsberechtigten, weil daneben noch die Kosten für die Unterkunft zu berücksichtigen sind (vgl. §§ 3, 4 der VO zur Durchführung des § 22 BSHG vom 20. Juli 1962, BGBl I 515). Die Kosten für die Unterkunft dürfte das Sozialamt hier jedoch deshalb nicht berücksichtigt haben, weil die Beigeladene bei ihrer Mutter wohnte und keine Miete zahlte (vgl. §§ 16, 78 Abs. 2 BSHG). Außerdem ist ihr möglicherweise deswegen der übliche Alterszuschlag von 30 v. H. (vgl. die genannte Übersicht aaO S. 239) nicht bewilligt worden.
Bei der Feststellung des Mindestbedarfs im Sinne der Rechtsprechung des BSG kann demnach nicht, wie es das LSG getan hat allein von den Leistungen ausgegangen werden, die im Einzelfall nach den Vorschriften des BSHG zu erbringen sind. Denn die Erheblichkeit einer Unterhaltsleistung bemißt sich nach dem Gesamtaufwand für den notwendigen Lebensunterhalt und nicht etwa nur nach der bestehenden Deckungslücke, die wegen der Subsidiarität der Sozialhilfe (§ 2 BSHG) allein von dieser getragen worden ist. Daß dies vom LSG bei der von ihm vertretenen sachlich-rechtlichen Auffassung nicht beachtet worden ist, stellt eine unrichtige Beweiswürdigung und eine mangelnde Sachaufklärung dar. Schon dieser Verfahrensverstoß führt nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zur Statthaftigkeit der Revision und muß zur Folge haben, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Im übrigen wird das LSG erneut zu prüfen haben, ob es zutrifft, daß die Beigeladene gegen ihren Sohn keinen Unterhaltsanspruch gehabt hat. Lediglich aus dem in der Akte 8 C 630/67 des AG Duisburg-Ruhrort enthaltenen Urteil des LG Duisburg vom 6. März 1968 wird dies nicht hergeleitet werden können. Dieses zivilgerichtliche Urteil bindet weder die Beteiligten des anhängigen Verfahrens noch ergibt es, ob und in welcher Höhe zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten ein Unterhaltsanspruch der Beigeladenen gegen ihren Sohn bestanden hat. Hierüber dürften daher weitere Ermittlungen notwendig sein.
In der Zeit vom Erlaß des Berufungsurteils im Unterhaltsrechtsstreit vom 6. März 1968 bis zum Tode des Versicherten Ende März 1969 können sich die Verhältnisse sowohl bei der Beigeladenen als auch bei ihrem Sohn geändert haben, so daß mehr als ein Jahr zurückliegende, in einem anderen Verfahren getroffene Feststellungen nicht ohne weiteres zum Ausgangspunkt für die Beurteilung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Betroffenen zur Zeit des Todes des Versicherten gemacht werden können. Jedenfalls wird das LSG die Tatsachen festzustellen haben, von denen die rechtliche Beurteilung abhängt, ob die Beigeladene zur Zeit des Todes des Versicherten gegen ihren Sohn einen Unterhaltsanspruch hatte oder nicht; denn im Falle seiner Leistungsfähigkeit wäre er vor dem Versicherten unterhaltspflichtig gewesen (vgl. Palandt, BGB-Komm. § 60 EheG Anm. 3). Hierbei wird das LSG zu prüfen haben, ob der Versicherte eine Tochter hatte, die studierte sowie ob und inwieweit er ihr unterhaltspflichtig war und dadurch seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wurde.
Die Revision ist wegen ihrer begründeten Rügen nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Sie ist auch begründet, da nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei einer ausreichenden und erschöpfenden Sachaufklärung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Da der Senat die hiernach noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, ist somit nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zu verfahren. Bei der abschließenden Entscheidung wird das LSG sodann auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen