Leitsatz (amtlich)
Ermächtigt eine Trägerinnung einer Innungskrankenkasse die Kreishandwerkerschaft zur Durchführung eines Übereinstimmungsverfahrens nach SVwG § 14 Abs 6 aF, so kann diese den Prozeß im eigenen Namen für die Innung führen (gewillkürte Prozeßstandschaft).
Die Innung ist jedoch zum Rechtsstreit beizuladen (SGG § 75 Abs 2).
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Gefährdung des Bestandes oder der Leistungsfähigkeit einer AOK iS von RVO § 251 Abs 1 Nr 1 ist erst dann anzunehmen, wenn die AOK im Vergleich zu gleichartigen Kassen des betreffenden Wirtschaftsraumes infolge der Abgabe der Mitglieder die bei den Vergleichskassen erhobenen Beiträge erheblich überschreiten müßte oder wenn ihre Leistungen nicht unwesentlich unter denen vergleichbarer Kassen liegen würden. Eine erhebliche Beitragsüberschreitung kann bei einer Beitragserhöhung von nur 0,15 % nicht angenommen werden.
Die Frage, ob die Leistungsfähigkeit einer OKK durch die Überführung von Mitgliedern an eine IKK gefährdet ist, kann nur nach den Verhältnissen bei Erlaß der letzten Verwaltungsentscheidung geprüft werden. Nachträgliche Änderungen in den Verhältnissen müssen unberücksichtigt bleiben.
2. Eine die Leistungsfähigkeit gefährdende erhebliche Beitragsüberschreitung liegt im allgemeinen nicht vor, wenn der Beitragsvomhundertsatz durch die Abgabe von Mitgliedern an die IKK um etwa 0,15 vH steigt.
Normenkette
SGG § 69 Fassung: 1953-09-03, § 75 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; SVwG § 14 Abs. 6 Fassung: 1951-02-22
Tenor
Auf die Revision der beigeladenen Allgemeinen Ortskrankenkasse für den Kreis Grafschaft B wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 21. Dezember 1965 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Überführung von Mitgliedern der beigeladenen Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) auf die beigeladene Innungskrankenkasse (IKK).
Zu den Trägerinnungen der IKK gehört ua eine Baugewerken-Innung, deren Bezirk sich seit der Neuordnung des Handwerksrechts in den Jahren nach 1933 auf den ganzen Kreis Grafschaft B erstreckt, während die Zuständigkeit der IKK wegen einer erst 1951 aufgehobenen Sperrvorschrift auf den früheren, nur das südliche Kreisgebiet (sog. Obergrafschaft) umfassenden Innungsbezirk beschränkt blieb, die in Baubetrieben der nördlichen Hälfte des Kreises Beschäftigten also nicht erfaßt. Die in diesen Betrieben Beschäftigten sind deshalb bei der beigeladenen AOK versichert. Anfang 1955 beantragte die klagende Kreishandwerkerschaft im Auftrage der Baugewerken-Innung die Durchführung eines - qualifizierten - Übereinstimmungsverfahrens nach § 14 Abs. 6 des Gesetzes über die Selbstverwaltung (GSv) aF (Überführung von mehr als 450 versicherungspflichtigen Beschäftigten einer einzelnen Innung), nachdem bereits 1953 für die übrigen 17 Trägerinnungen der IKK die Übereinstimmung des Mitgliederkreises nach § 14 Abs. 5 GSv herbeigeführt worden war. Der zuständige Regierungspräsident (Oberversicherungsamt) lehnte nach Einholung eines Sachverständigengutachtens den Antrag wegen Gefährdung der Leistungsfähigkeit der beigeladenen AOK ab (Bescheid vom 17. März 1956 und Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 1956). Die darauf von der Klägerin im eigenen Namen erhobene Überführungsklage wies das Sozialgericht (SG), das denselben Sachverständigen nochmals hörte, mit Urteil vom 25. November 1960 als unbegründet ab.
Die Berufung der Klägerin hatte Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hielt sie kraft "gewillkürter Prozeßstandschaft" zur Erhebung der Klage für befugt. Entgegen der Ansicht des SG sei auch die Leistungsfähigkeit der beigeladenen AOK durch die streitige Überführung von etwa 1230 Bauhandwerker nicht gefährdet gewesen; zugrunde zu legen seien dabei die Verhältnisse bei Erlaß der angefochtenen Verwaltungsakte. Die Baugewerken-Innung hat das LSG nicht zum Rechtsstreit beigeladen (Urteil vom 21. Dezember 1965).
Die AOK hat mit der zugelassenen Revision gerügt, das LSG habe zu Unrecht die Klagebefugnis der Kreishandwerkerschaft bejaht und die Beiladung der Baugewerken-Innung unterlassen (Verstoß gegen § 75 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Im übrigen hätte die Gefährdung ihrer Leistungsfähigkeit nicht allein nach den früheren Verhältnissen, sondern unter Berücksichtigung der bis zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung eingetretenen Veränderungen geprüft werden müssen, da die angefochtenen Verwaltungsakte bisher nicht vollzogen worden seien; das Urteil des LSG wäre dann anders ausgefallen. Die AOK beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 21. Dezember 1965 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Osnabrück vom 25. November 1960 zurückzuweisen.
Die klagende Kreishandwerkerschaft und die beigeladene IKK halten die Rügen der AOK nicht für begründet und beantragen,
deren Revision zurückzuweisen.
Das beklagte Land hat keine Anträge zur Revision gestellt.
II
Die Revision der beigeladenen AOK ist begründet.
Ihre Rüge, die Baugewerken-Innung sei zu Unrecht nicht zum Verfahren beigeladen worden, greift durch.
Der Rechtsstreit betrifft die Überführung von Versicherten einer AOK auf eine IKK nach den Vorschriften des § 14 GSv in der hier noch anzuwendenden alten Fassung = § 33 GSv nF (Herstellung der Übereinstimmung des Mitgliederkreises der IKK und ihrer Trägerinnungen). Da es sich um die Überführung von mehr als 450 versicherungspflichtigen Beschäftigten einer einzelnen Innung handelt, kommt nicht das "einfache", sondern das qualifizierte Überführungsverfahren nach § 14 Abs. 6 GSv in Betracht, für das die Vorschriften über die Errichtung von IKKen (§ 250 ff RVO) entsprechend gelten. Antragsberechtigt ist deshalb - ähnlich wie beim Anschluß einer neuen Innung an eine bereits bestehende IKK (vgl. dazu BSG 7, 169) - die Innung, deren Beschäftigte überführt werden sollen (§ 252 RVO und Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Aufl., Anm.1 zu § 252 RVO). Der Überführungsanspruch nach § 14 Abs. 6 GSv steht also, wenn überhaupt, der betroffenen Innung zu.
Im vorliegenden Fall hat den Antrag nicht die Innung, sondern für sie, aber im eigenen Namen, die Kreishandwerkerschaft gestellt und - nach Ablehnung durch das beklagte Land - im Klagewege weiter verfolgt. Das LSG hat dies mit Recht unter dem Gesichtspunkt der "gewillkürten Prozeßstandschaft" für zulässig gehalten.
Auch im sozialgerichtlichen Verfahren kann der Klaganspruch von einem Dritten im eigenen Namen geltend gemacht werden, wenn ihn der Anspruchsinhaber dazu ermächtigt hat und in der Person des Dritten ein eigenes Rechtsschutzbedürfnis an der Erhebung der Klage besteht (BSG 10, 131). Beide Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Baugewerken-Innung hat die Kreishandwerkerschaft mit der Durchführung eines Überführungsverfahrens beauftragt und ihr damit zugleich die Ermächtigung erteilt, das Verfahren für die Innung zu betreiben. Das eigene Rechtsschutzinteresse der Kreishandwerkerschaft - als des Zusammenschlusses der innerhalb des Kreisgebiets bestehenden Handwerksinnungen (§ 86 der Handwerksordnung) - ergibt sich aus ihrem gesetzlichen Auftrag, "die Handwerksinnungen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen" (§ 87 Nr. 2 der Handwerksordnung). Diese Unterstützungspflicht begründet für die Kreishandwerkerschaft ein eigenes rechtliches Interesse an der sachgemäßen, die handwerklichen Belange wahrenden Erfüllung der Innungsaufgaben. Die Kreishandwerkerschaft, die im übrigen zu den Körperschaften des öffentlichen Rechts gehört (§§ 89 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 53 der Handwerksordnung), ist mithin, entgegen der Ansicht der Revisionsklägerin, kraft gewillkürter Prozeßstandschaft befugt, den vorliegenden Rechtsstreit im eigenen Namen zu führen.
Begründet ist dagegen die Rüge der Revision, die Baugewerken-Innung hätte zum Rechtsstreit beigeladen werden müssen. Nach § 75 Abs. 2 SGG sind Dritte zum Verfahren beizuladen, wenn sie an dem streitigen Rechtsverhältnis derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Das ist hier der Fall.
Das streitige Rechtsverhältnis - der Anspruch auf Überführung von Mitgliedern der AOK auf die IKK - wird zwar von der Kreishandwerkerschaft in eigenem Namen mit der Klage geltend gemacht, jedoch nicht als ein eigener, sondern als ein fremder Anspruch. Träger des Anspruchs ist, wie ausgeführt, die Baugewerken-Innung. Als Rechtsinhaberin ist sie an dem Streitverhältnis unmittelbar beteiligt, nicht nur wirtschaftlich interessiert, wie etwa ein Dritter, für den die Frage, ob der streitige Anspruch besteht, lediglich Vorfrage für das Bestehen einer eigenen Rechtsbeziehung zu einem der Prozeßbeteiligten ist. Auch gegenüber der Baugewerken-Innung kann deshalb über das hier streitige Rechtsverhältnis nur einheitlich entschieden werden. Insofern gilt nichts anderes als in Prozessen, in denen eine Krankenkasse als Einzugsstelle der Rentenversicherung (§ 1399 RVO) deren Beitragsansprüche oder ein Träger der Sozialhilfe nach § 1538 RVO den Anspruch eines von ihm unterstützten Versicherten gegen den Versicherungsträger geltend macht; auch hier müssen die "materiell" Berechtigten, d.h. der Rentenversicherungsträger und der Sozialhilfeempfänger, zum Verfahren beigeladen werden (vgl. BSG 15, 118 Leitsatz 3; 23, 168 iVm 24, 138, 141 Mitte und Ende; 24, 281, 282 Mitte).
Daß in den genannten Fällen die Prozeßführungsbefugnis der Krankenkasse und des Sozialhilfeträgers auf Gesetz beruht, während es sich im vorliegenden Fall um eine gewillkürte Prozeßstandschaft der Kreishandwerkerschaft handelt, macht im Ergebnis keinen Unterschied (wenn zB der Verband der Angestellten-Krankenkassen "im Auftrag" einer angeschlossenen Ersatzkasse einen Prüfungsantrag gestellt hat und darüber Streit entsteht, ist die betroffene Ersatzkasse zum Prozeß beizuladen, BSG 17, 89, 96). Auch in Fällen einer gewillkürten Prozeßstandschaft wiegt das öffentliche Interesse an der Vermeidung widersprechender Entscheidungen, die dasselbe Rechtsverhältnis betreffen, so schwer, daß von der Beiladung des Rechtsträgers zum Rechtsstreit des "Prozeßstandschafters" nicht abgesehen werden kann. Die Baugewerken-Innung hätte deshalb zu dem von der Kreishandwerkerschaft geführten Prozeß beigeladen werden müssen. Da die unterbliebene Beiladung im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann (§ 168 SGG), hat der Senat das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen.
Sollte auch die neue Verhandlung nach Hinzuziehung der Baugewerken-Innung bestätigen, daß eine Überführung der in Betracht kommenden Versicherten auf die IKK - das LSG hat von etwa 1230 Bauhandwerkern gesprochen - die AOK seinerzeit, d.h. bei Erlaß der letzten Verwaltungsentscheidung, nur zu einer Beitragserhöhung um etwa 0,15 % genötigt hätte, so wäre ihre Leistungsfähigkeit durch die Abgabe der genannten Versicherten nicht gefährdet worden. Eine solche Gefährdung - die, wenn sie vorliegt, die Durchführung eines Übereinstimmungsverfahrens nach § 14 Abs. 6 GSv aF ausschließt (§ 251 Abs. 1 Nr. 1 RVO) - kann nicht allein mit der ungünstigen Vermögenslage der AOK oder der Notwendigkeit begründet werden, im Falle einer Mitgliederüberführung die Beiträge zu erhöhen oder die Leistungen herabzusetzen. Eine Gefährdung ist vielmehr erst dann anzunehmen, wenn die AOK im Vergleich zu gleichartigen Kassen des betreffenden Wirtschaftsraumes infolge der Abgabe der Mitglieder die bei den Vergleichskassen erhobenen Beiträge erheblich überschreiten müßte oder wenn ihre Leistungen nicht unwesentlich unter denen vergleichbarer Kassen liegen würden (BSG 14, 71 Leitsatz 2). Von einer in diesem Sinne "erheblichen" Beitragsüberschreitung kann bei einer Beitragsanhebung um lediglich 0,15 % nicht die Rede sein, wie das LSG zutreffend angenommen hat. Daß im übrigen bei der vorzunehmenden Vergleichswertung alle Faktoren ausgeschieden werden müssen, die zwar die wirtschaftliche Entwicklung der AOK beeinflussen (z.B. ein hoher Rentneranteil), die jedoch nicht kausal auf der in Frage stehenden Mitgliederabgabe beruhen, hat der Senat schon in BSG 14, 71, 77 ff entschieden.
Der Senat tritt dem LSG schließlich darin bei, daß die Frage, ob die Leistungsfähigkeit der beigeladenen AOK durch die Überführung von Mitgliedern an die IKK gefährdet wird, nur nach den Verhältnissen bei Erlaß der letzten Verwaltungsentscheidung zu prüfen ist, eine - von der AOK behauptete - nachträgliche Änderung der Verhältnisse zu ihren Ungunsten also unberücksichtigt bleiben muß. Hätte nämlich seinerzeit eine Überführungsanordnung erlassen werden müssen, so hätte die IKK damit einen verfahrensrechtlichen "Besitzstand" erworben, der ihr durch eine - auf den damaligen Zeitpunkt bezogen - unbegründete Anfechtungsklage nicht wieder genommen werden konnte. Ob die gleiche Erwägung auch bei Streitigkeiten gilt, die die Neuerrichtung einer IKK oder den Anschluß einer neuen Innung an eine IKK betreffen, läßt der Senat offen.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen