Leitsatz (amtlich)
Österreichische Pflichtversicherungszeiten vor dem 1973-01-01 sind anrechenbare Versicherungsjahre iS des ArVNG Art 2 § 55a.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 55a Fassung: 1972-10-16; SVAbk AUT Art. 26 Fassung: 1951-04-21, Art. 27 Fassung: 1951-04-21
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 06.10.1976; Aktenzeichen L 14 Ar 544/75) |
SG Regensburg (Entscheidung vom 22.10.1975; Aktenzeichen S 10 Ar 419/74) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Oktober 1976 und das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 22. Oktober 1975 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 1. April 1974 verurteilt, der Klägerin die unter Anwendung des Art 2 § 55a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes berechnete Rente zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin eine höhere als die festgestellte Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zusteht.
Die Klägerin hat zur deutschen Rentenversicherung 238 und zur österreichischen Rentenversicherung 104 Monatspflichtbeiträge entrichtet. Sie bezieht vom österreichischen Versicherungsträger die Invalidenpension und von der Beklagten aufgrund des Bescheides vom 3. Februar 1970 mit Wirkung vom 1. November 1969 die Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 1. April 1974 den Antrag der Klägerin vom 20. März 1974 ab, die Rente durch Anhebung der Rentenbemessungsgrundlage gemäß Art 2 § 55a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zu erhöhen.
Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen erhobene Klage mit Urteil vom 22. Oktober 1975 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 6. Oktober 1976 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des Art 2 § 55a ArVNG seien nicht erfüllt, weil die Klägerin nicht 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre in der deutschen Rentenversicherung zurückgelegt habe. Die österreichischen Versicherungszeiten seien den deutschen Versicherungszeiten nicht hinzuzurechnen, weil es die Vorschrift nur auf das Lohngefälle auf dem deutschen Arbeitsmarkt abstelle und nur solche Versicherte begünstigen wolle, die in Deutschland in der Vergangenheit kein der erbrachten Leistung entsprechendes Einkommen erhalten haben. Eine Einbeziehung der österreichischen Versicherungszeiten sehe auch das deutsch-österreichische Sozialversicherungsabkommen (BGBl II 1969, 1235, 1261) nicht vor. Dieses schreibe in Art 26 Abs 1 eine Gleichstellung bzw Zusammenrechnung der beiderseitigen Versicherungszeiten nur vor, wenn von der Zusammenrechnung bzw von der Gleichstellung die Begründetheit eines Rentenanspruchs abhängig sei. Die in Art 2 § 55a ArVNG getroffene Regelung sei aber für das Bestehen des Rentenanspruchs nicht relevant. Es handele sich vielmehr um eine reine Berechnungsvorschrift, die einen Rentenanspruch bereits voraussetze.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, die Voraussetzungen des Art 2 § 55a ArVNG seien erfüllt, denn sie habe bei der gebotenen Berücksichtigung auch der österreichischen Versicherungszeiten 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre zurückgelegt. Die Anrechnungsfähigkeit der österreichischen Versicherungszeiten ergebe sich aus den Artikeln 26, 27 und 28 des deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommens.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 6. Oktober 1976, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 22. Oktober 1975 sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. April 1974 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Rente nach Mindesteinkommen - Art 2 § 55a ArVNG - zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hat sich zur Sache nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin hat Erfolg.
Die Beklagte und die Vorinstanzen haben es zu Unrecht abgelehnt, die Rente der Klägerin durch Erhöhung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage nach Art 2 § 55a ArVNG zu erhöhen.
Das Begehren der Klägerin scheitert nicht schon daran, daß der Rentenbescheid vom 3. Februar 1970 mangels Anfechtung bindend geworden ist. Art 2 § 55a Abs 2 ArVNG schreibt unter den dort genannten Voraussetzungen die Erhöhung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage nach Abs 1 der genannten Vorschrift auch für bereits bindend festgestellte Renten vor, wenn - wie im vorliegenden Fall - der Versicherungsfall in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum 31. Dezember 1972 eingetreten ist. In solchen Fällen steht die Bindungswirkung des Rentenfeststellungsbescheides der Neufeststellung nicht entgegen. Auch die übrigen Voraussetzungen des Art 2 § 55a Abs 2 ArVNG für eine von § 1253 der Reichsversicherungsordnung (RVO) abweichende Rentenberechnung durch Erhöhung der maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage liegen vor. Die Klägerin hat insbesondere auch die nach der genannten Vorschrift erforderlichen 25 anrechnungsfähigen Versicherungsjahre ohne Zeiten der freiwilligen Versicherung und Ausfallzeiten zurückgelegt. Zwar entfallen auf die deutsche Rentenversicherung nur 238 Monate, also weniger als 25 Jahre; jedoch sind die in Österreich zurückgelegten Pflichtversicherungszeiten hinzuzurechnen, so daß sich insgesamt eine Zeit der Versicherungspflicht von mehr als 25 Jahren ergibt.
Nach Art 27 Abs 3 des deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommens sind die österreichischen Versicherungszeiten nicht nur für die Erfüllung der Wartezeit, sondern auch für die Rentenberechnung zu berücksichtigen. Sie sind daher im Sinne des Art 2 § 55a ArVNG "anrechnungsfähige" Versicherungszeiten. Mit der Einführung einer Mindestbemessungsgrundlage in Art 2 § 55a ArVNG wollte der Gesetzgeber einen Ausgleich für die Fälle schaffen, in denen die Rentenbemessungsgrundlage wegen der besonderen, in der Vergangenheit liegenden Lohnverhältnisse in Deutschland - insbesondere infolge eines regionalen oder branchebedingten Lohngefälles oder wegen der Lohndiskriminierung der Frauenarbeit - nicht dem Wert der geleisteten Arbeit entspricht (vgl BT-Drucks VI/3767 S. 8, schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung). Mit dem LSG ist daher davon auszugehen, daß der Gesetzgeber nur die Rentenbemessungsgrundlage aufbessern wollte, die sich auf die deutschen Versicherungszeiten und damit auf das Lohngefälle in Deutschland bezieht. Die Anwendung des Art 2 § 55a ArVNG darf daher weder zu einer Berücksichtigung der österreichischen Lohnverhältnisse noch zu einer Begünstigung der österreichischen Versicherungszeiten führen. Das ist aber nicht der Fall, wenn die österreichischen Pflichtversicherungszeiten bei dem Erfordernis der 25 anrechnungsfähigen Versicherungsjahre berücksichtigt werden.
Nach Art 27 Abs 6 des deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommens wird die Rentenbemessungsgrundlage allein aus den deutschen Beiträgen errechnet. Die Lohnverhältnisse in Österreich bleiben also unberücksichtigt. Die Erhöhung der deutschen Rentenbemessungsgrundlage auf den Wert von 6,25 führt im Ergebnis auch nicht zu einer Begünstigung der österreichischen Versicherungszeiten. Zwar werden die österreichischen Versicherungszeiten bei der Berechnung der sogenannten Zunächstrente nach Art 27 Abs 3 des deutsch-österreichischen Sozialversicherungsabkommens den deutschen Versicherungszeiten gleichgestellt, so daß die sich aus den deutschen Versicherungszeiten ergebende Rentenbemessungsgrundlage auf die österreichischen Versicherungszeiten erstreckt wird. Wenn auch bei der Berechnung des Rentenzahlbetrages nach dem Grundsatz pro rata temporis gemäß Art 27 Abs 4 des deutschösterreichischen Sozialversicherungsabkommens rein theoretisch österreichische Versicherungszeiten anteilmäßig zu berücksichtigen sind, so werden doch in entsprechendem Umfang deutsche Versicherungszeiten ausgeschieden, so daß die österreichischen Versicherungszeiten praktisch keine Auswirkung auf die Errechnung des Rentenzahlbetrages haben. Die Zahl der Versicherungsjahre, die durch Multiplikation mit der Rentenbemessungsgrundlage für den Rentenzahlbetrag maßgebend ist, entspricht in vollem Umfang den deutschen Versicherungszeiten, so daß die Anhebung der Rentenbemessungsgrundlage praktisch nicht zu einer Begünstigung der österreichischen Versicherungszeiten führt. Zwar mag die Rentenberechnung unter Berücksichtigung dieser Grundsätze dann Schwierigkeiten machen, wenn die österreichischen Versicherungszeiten nicht allein aus Pflichtbeiträgen aus der Zeit vor dem 1. Januar 1973 besteht. Diese nicht unüberbrückbaren Schwierigkeiten können aber nicht dazu führen, die österreichischen Versicherungszeiten für das Erfordernis der 25 anrechnungsfähigen Versicherungsjahre unberücksichtigt zu lassen, zumal es sich bei der Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ausschließlich um Pflichtbeiträge aus der Zeit vor dem 1. Januar 1973 handelt.
Werden danach durch die Anhebung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage gemäß Art 2 § 55a ArVNG weder die Lohnverhältnisse in Österreich berücksichtigt noch österreichische Versicherungszeiten begünstigt, so ist kein Grund ersichtlich, die österreichischen Pflichtversicherungszeiten bei dem Erfordernis der 25 anrechnungsfähigen Versicherungsjahre unberücksichtigt zu lassen. Dieses Erfordernis hat mit den Gründen, die für die geringen Bemessungsgrundlagen ursächlich sind, nichts zu tun. Der Gesetzgeber wollte vielmehr lediglich sicherstellen, daß nur solchen Rentnern gezielt geholfen wird, die durch einkommensgerechte Beitragsentrichtung den Nachweis geführt haben, daß ihre geringe Rente nicht auf einer aus freiem Willen zu niedrigen Beitragsleistung beruht, sondern trotz erfüllten Arbeitslebens auf einer zu geringen Entlohnung (vgl hierzu BT-Drucks VI/2584, Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Alterssicherung der Frauen und Kleinstrentner; BT-Drucks VI/3767 S. 8, schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung über den Entwurf eines Rentenreformgesetzes). Die Gründe, die den deutschen Gesetzgeber veranlaßt haben, die Erhöhung der Rentenbemessungsgrundlage für solche Versicherte vorzusehen, die 25 anrechenbare Pflichtversicherungsjahre zurückgelegt haben, treffen auch auf die Klägerin zu. Sie hat mehr als 25 Pflichtversicherungsjahre zurückgelegt, die nach dem deutschösterreichischen Sozialversicherungsabkommen anrechenbar sind, gehört also zum Kreis der Rentner, bei denen die geringe persönliche Rentenbemessungsgrundlage nicht auf einer aus freiem Willen zu niedrigen Beitragsleistung, sondern trotz eines erfüllten Arbeitslebens auf dem in Deutschland in der Vergangenheit herrschenden Lohngefälle zurückzuführen ist.
Der Senat hat die danach begründete Revision der Klägerin, die vorinstanzlichen Urteile sowie den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß verurteilt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen