Entscheidungsstichwort (Thema)
Gestaltungswirkung von Nachentrichtungsanträgen nach ArVNG Art 2 § 51a. Änderungsbefugnis des Antragstellers nach bindend gewordenem Nachentrichtungsbescheid. Zugunstenbescheid. Ermessensrahmen
Orientierungssatz
Nach Eintritt der Bindungswirkung des Nachentrichtungsbescheides, kann der Berechtigte die Herabsetzung der Nachentrichtungssumme durch Entrichtung der Beiträge in einer niedrigeren Beitragsklasse beantragen, wenn der - ursprünglich begünstigende - Bescheid nachträglich für ihn belastend geworden ist; denn der Nachentrichtungsberechtigte darf nicht darauf verwiesen werden, nur durch die gänzliche oder teilweise Unterlassung der Beitragsentrichtung die Nachentrichtung seinen veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen. Vielmehr hat der Versicherungsträger auf den Antrag des Nachentrichtungsberechtigten nach pflichtgemäßem Ermessen unter Würdigung der vorgetragenen Umstände zu prüfen, ob die Rücknahme des belastend gewordenen Nachentrichtungsbescheides, die nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen uneingeschränkt statthaft ist, in Betracht kommt; der Versicherungsträger darf diese Prüfung nicht unter Berufung auf die Bindungswirkung des Nachentrichtungsbescheides ablehnen (vgl BSG 1980-02-22 12 RK 12/79 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 36).
Normenkette
ArVNG Art 2 § 51a Abs 2 Fassung: 1972-10-16; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 24.01.1980; Aktenzeichen L 4 J 28/79) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 11.01.1979; Aktenzeichen S 2 J 253/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die in einem bindend gewordenen Nachentrichtungsbescheid nach Art 2 § 51 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) festgestellten Beitragsklassen auf Antrag der Klägerin herabzusetzen hat.
Entsprechend einem von der Klägerin Ende 1975 gestellten Antrag hat die Beklagte mit dem bindend gewordenen Bescheid vom 16. Juni 1976 die Nachentrichtung von Beiträgen der jeweils höchsten Beitragsklasse für die Jahre 1956 bis 1973 im Gesamtbetrage von 47.088,-- DM zugelassen und der Klägerin Teilzahlung bis zum 30. Juni 1981 bewilligt. Ende Dezember 1977 beantragte die Klägerin, die Nachentrichtung statt nach den in dem Bescheid vom 16. Juni 1976 festgesetzten Beitragsklassen nunmehr nach der Klasse 100 für den gesamten Belegungszeitraum zuzulassen, weil sie zur Beantragung der Beitragsnachentrichtung in den höchstzulässigen Klassen durch eine irreführende Zeitungsmeldung veranlaßt worden sei. Darüber hinaus machten ihr jetzt auch unvorhersehbar gewesene Zahlungsschwierigkeiten die Beitragsnachentrichtung in dem festgestellten Umfange bis zum Ablauf der Ratenzahlungsfrist unmöglich.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28. März 1978 eine Änderung der in dem Bescheid vom 16. Juni 1976 festgestellten Beitragsklassen und Belegungszeiten mit der Begründung ab, dieser Bescheid sei bindend geworden und dürfe daher nicht geändert werden. Der Widerspruch ist gemäß § 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an das Sozialgericht (SG) abgegeben worden, das die Klage durch Urteil vom 11. Januar 1979 ebenfalls mit der Begründung abgewiesen hat, der Beitragsnachentrichtungsbescheid vom 16. Juni 1976 sei bindend geworden und dürfe nachträglich nicht mehr geändert werden.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 24. Januar 1980 zurückgewiesen: Der Ende Dezember 1977 gestellte Antrag begründe kein neues Nachentrichtungsrecht der Klägerin, weil er nach dem Ablauf der Antragsfrist des Art 2 § 51a Abs 3 Satz 1 ArVNG gestellt worden sei. Selbst bei einer wirksamen Anfechtung des Antrages von Ende 1975 durch die Klägerin würde ein fristgerechter Antrag fehlen. Die Beklagte handele schließlich nicht rechtsmißbräuchlich, wenn sie sich auf die genannte Ausschlußfrist berufe. Da der Bescheid der Beklagten vom 16. Juni 1976 ein wirksam zustande gekommener und bindend gewordener feststellender Verwaltungsakt sei, verbleibe es bei dessen Bindungswirkung, die sich nicht nur auf die Zulässigkeit der Nachentrichtung selbst, sondern auch auf die Beitragsklassen und Belegungszeiten erstrecke.
Die Klägerin macht mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision geltend, entgegen der vom LSG vertretenen Ansicht müsse es als zulässig angesehen werden, die in einem bindend gewordenen Nachentrichtungsbescheid festgestellten Beitragsklassen und Belegungszeiten jedenfalls dann bis zur Entrichtung der Beiträge herabzusetzen, wenn der Nachentrichtungsberechtigte nachträglich in eine unvorhergesehene Notlage gerate. Das sei bei ihr der Fall.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 24. Januar 1980, das Urteil des SG Dortmund
vom 11. Januar 1979 und den Bescheid der Beklagten
vom 28. März 1978 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält daran fest, daß die Bindungswirkung des Bescheides vom 16. Juni 1976 der von der Klägerin begehrten Herabsetzung der Beitragsklassen entgegenstehe.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet, die angefochtenen Urteile und der angefochtene Bescheid sind aufzuheben; die Beklagte hat nach pflichtgemäßem Ermessen über den Herabsetzungsantrag der Klägerin vom 30. Dezember 1977 zu entscheiden.
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 22. Februar 1980 - 12 RK 12/79 - (SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 36) unter teilweiser Modifizierung seiner bisherigen Rechtsprechung die Rechtsnatur des Nachentrichtungsantrags gemäß Art 2 § 49a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes -AnVNG- (= Art 2 § 51a ArVNG) näher abgegrenzt und - soweit hier von Bedeutung - dargelegt, daß dieser Antrag insoweit rechtsgestaltende Wirkung habe, als er den Antragsteller zur Nachentrichtung von Beiträgen dem Grunde nach berechtige, sofern der Antrag bis zum Ablauf der gesetzlichen Antragsfrist (31. Dezember 1975) gestellt worden sei. Die Konkretisierung des Antrages nach Zahl, Klasse und zeitlicher Verteilung der Beiträge könne aber auch noch später - im anschließenden Verwaltungsverfahren - erfolgen. Aus einer etwaigen Bestimmung der Beitragszahl und -klasse durch den Antragsteller folge nicht deren Unabänderlichkeit. Dem Nachentrichtungsberechtigten stehe zwar keine zeitlich unbegrenzte Änderungsbefugnis zu. Diese entfalle insbesondere, sobald die Beiträge tatsächlich entrichtet worden seien. Im übrigen dürften aber die gewählten Beitragsklassen und Belegungszeiten noch bis zum Eintritt der Bindungswirkung des Nachentrichtungsbescheides - den das LSG hier unwidersprochen auf den 26. Juni 1977 festgestellt hat - geändert werden.
Darüber hinaus, dh auch nach Eintritt der Bindungswirkung des Nachentrichtungsbescheides, könne der Berechtigte die Herabsetzung der Nachentrichtungssumme durch Entrichtung der Beiträge in einer niedrigeren Beitragsklasse beantragen, wenn der - ursprünglich begünstigende - Bescheid nachträglich für ihn belastend geworden sei; denn der Nachentrichtungsberechtigte dürfe nicht darauf verwiesen werden, nur durch die gänzliche oder teilweise Unterlassung der Beitragsentrichtung die Nachentrichtung seinen veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen. Vielmehr habe der Versicherungsträger auf den Antrag des Nachentrichtungsberechtigten nach pflichtgemäßem Ermessen unter Würdigung der vorgetragenen Umstände zu prüfen, ob die Rücknahme des belastend gewordenen Nachentrichtungsbescheides, die nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen uneingeschränkt statthaft sei, in Betracht komme; der Versicherungsträger dürfe diese Prüfung nicht unter Berufung auf die Bindungswirkung des Nachentrichtungsbescheides ablehnen.
An dieser Rechtsauffassung hält der Senat auch unter Berücksichtigung der von der Beklagten hiergegen erhobenen Bedenken fest. Dabei ist es für die Entscheidung unerheblich, ob durch eine spätere Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse beim Antragsteller nachträglich eine belastende Wirkung des Nachentrichtungsbescheides eintreten kann. Wäre dies mit der Beklagten zu verneinen, müßte die belastende Wirkung der Feststellung bestimmter Beitragsklassen und Belegungszeiten bereits auf den Zeitpunkt des Erlasses oder spätestens des Eintrittes der Bindungswirkung des Nachentrichtungsbescheides vorverlegt werden, weil die (potentiell) belastende Wirkung dann schon in der Festlegung dieser Nachentrichtungsmodalitäten im Nachentrichtungsbescheid zu sehen wäre. Auch aus dieser Sicht würde daher die Verpflichtung des Versicherungsträgers nicht entfallen, einen Antrag des Versicherten auf Änderung des belastenden Verwaltungsaktes bei Eintritt geänderter Verhältnisse nach pflichtgemäßem Ermessen zu bescheiden.
Zutreffend ist der Hinweis der Beklagten, daß der Rentenversicherungsträger nach der vom Senat vertretenen Ansicht im Einzelfall uU genötigt sein kann, zur Feststellung des Eintrittes einer (nachträglichen) Belastung Feststellungen sowohl zur Vermögenslage im Zeitpunkt der Erteilung des Nachentrichtungsbescheides als auch zur Zeit der Stellung des Änderungsantrages zu treffen. Es ist aber nicht ersichtlich, weshalb dem Versicherungsträger eine solche Prüfung nicht möglich sein sollte; er ist entgegen der von der Beklagten vertretenen Ansicht dabei auch nicht nur auf den Sachvortrag des Nachentrichtungsberechtigten angewiesen, den im übrigen die Beweislast einer nicht feststellbaren Änderung trifft.
Eine andere Beurteilung ist schließlich auch nicht deshalb geboten, weil die Beklagte und andere Versicherungsträger - nach Darstellung der Beklagten in einer größeren Zahl von Fällen - Auskünfte erteilt und Verwaltungsakte erlassen haben, in denen sie die Herabsetzung bindend festgestellter Beitragsklassen und die Verteilung der Beiträge auf andere Belegungszeiträume unter den hier gegebenen tatsächlichen Voraussetzungen abgelehnt haben. In gleicher Weise wie fehlerhafte begünstigende Verwaltungsakte, auch wenn sie in größerer Zahl erlassen worden sind, grundsätzlich keine präjudizielle Wirkung für andere Versicherte haben, können auch fehlerhafte belastende Verwaltungsakte keine vorgreifliche Wirkung für die noch nicht entschiedenen Fälle anderer Beteiligter entfalten.
Die Beklagte hat sich demnach unzutreffend auf die Bindungswirkung des Nachentrichtungsbescheides vom 16. Juni 1976 berufen und die erforderliche Prüfung unterlassen, ob sie an diesem Bescheid auch unter Berücksichtigung der von der Klägerin vorgetragenen Umstände weiterhin festhalten will. Da auch das LSG nicht befugt ist, diese Ermessensentscheidung der Beklagten zu ersetzen, ist auch die von der Beklagten hilfsweise beantragte Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Tatsacheninstanz nicht möglich. Vielmehr ist die Aufhebung der angefochtenen Urteile und des angefochtenen Bescheides erforderlich, damit die Beklagte nunmehr unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats über den Antrag der Klägerin nach pflichtgemäßem Ermessen entscheidet.
Allgemeine Hinweise zum Ermessensrahmen des Versicherungsträgers hat der Senat in dem in der Sache 12 RK 54/79 am heutigen Tage ergangenen Urteil gegeben. Auf dieses Urteil kann daher verwiesen werden. Die Beklagte wird unter Berücksichtigung dieser Grundsätze für den Fall der Klägerin insbesondere zu prüfen haben, ob ausreichende Gründe für die Annahme vorliegen, daß die von der Klägerin behauptete irreführende Pressemeldung ihre Entschließung beeinflußt hat oder ob sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin derart verschlechtert haben, daß ihr die Nachentrichtung von Höchstbeiträgen jetzt nicht mehr zuzumuten ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen