Entscheidungsstichwort (Thema)
Oberarmamputierter Handarbeiter
Leitsatz (redaktionell)
Die Verneinung der Invalidität hängt nicht davon ab, ob der Versicherte tatsächlich Arbeiten verrichtet. Es muß in erster Linie von dem Gesundheitszustand des Versicherten ausgegangen werden, mithin von der objektiven, die Gesundheit des Versicherten bedingenden Lage. Bei Oberarmamputierten hängt die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit wesentlich davon ab, ob sie imstande sind, eine Arbeitsprothese zu tragen. Wenn ein Versicherter längere Zeit keine Arbeiten verrichtet, so können daraus ohne nähere Feststellung der Ursachen keine Schlüsse über seine Erwerbsfähigkeit gezogen werden.
Normenkette
RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 8. September 1955 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Dem im Jahre 1907 geborenen Kläger, der bis zu seinem 31. Lebensjahr als Walzer tätig war, ist im Jahre 1939 infolge eines Arbeitsunfalls der linke Arm annähernd in der Mitte des Oberarms amputiert worden. Danach war er als Bote und Pförtner tätig. Im Jahre 1947 machte er sich als Inhaber eines Kiosks selbständig, diesen verpachtete er zum 1. Februar 1951. Er bezieht auf Grund seines im Jahre 1939 erlittenen Arbeitsunfalls Unfallrente (bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 v.H.).
Die Beklagte lehnte den ersten Antrag des Klägers auf Gewährung der Invalidenrente vom 3. Februar 1951 mit Bescheid vom 21. Februar 1952 ab; das Oberversicherungsamt Schleswig wies die dagegen eingelegte Berufung des Klägers mit Entscheidung vom 17. Mai 1952 rechtskräftig zurück. Am 3. Dezember 1953 beantragte der Kläger unter Beifügung eines Befundberichts des praktischen Arztes Dr. T. erneut die Gewährung von Invalidenrente. Die daraufhin von der Beklagten veranlaßte Untersuchung des Klägers durch den Facharzt für innere Krankheiten Dr. med. Sch. den Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohrenleiden Dr. S. und durch den Nervenarzt Dr. ... vom 23. Februar 1954 ergab außer dem Verlust des linken Armes in Oberarmmitte: Angeborene Nervenschwäche, rein nervös bedingte vorübergehende Stimmlosigkeit und eine mittelgroße Fettgeschwulst im Nacken. Die Gutachter hielten den Kläger für fähig, leichte Arbeiten im Sitzen und Stehen fortgesetzt, mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung zu verrichten. Die Beklagte lehnte danach mit Bescheid vom 13. Mai 1954 auch den neuen Rentenantrag des Klägers ab. Das Sozialgericht wies die dagegen erhobene Klage ab. Es folgte dabei dem Gutachten des als Sachverständigen gehörten Facharztes für innere Krankheiten Dr. F. in Lübeck, nach dessen Gutachten der Kläger noch in der Lage sei, die vergleichbare Lohnhälfte zu verdienen. Der Kläger legte gegen dieses Urteil Berufung ein und überreichte eine Bescheinigung des Facharztes für innere Krankheiten Dr. med. habil. ... in Hamburg. Das Landessozialgericht hörte in der mündlichen Verhandlung als ärztlichen Sachverständigen den Facharzt für innere Krankheiten Dr. B. und verurteilte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts und des Bescheides vom 15. Mai 1954 die Beklagte, dem Kläger unter Annahme von Invalidität seit Dezember 1953 einen neuen Rentenbescheid zu erteilen: Es sei nicht entscheidend, ob bei einem Handarbeiter der Verlust des linken Oberarms schon für sich allein die Annahme vor Invalidität rechtfertige. Im allgemeinem werde man allerdings davon ausgehen müssen, daß ein solcher Versehrter jedenfalls dann vom Wettbewerb auf dem allgemeinen Arbeitsfeld ausgeschlossen sei und sich wirtschaftlich nicht behaupten könne, wenn er nicht durch Arbeitsleistung (oder in anderer Weise) bewiesen habe, daß er dennoch fähig sei, die vergleichbare Lohnhälfte zu verdienen. Bei dem Kläger lägen jedoch außer dem Armverlust eine Reihe anderer Gesundheitsstörungen vor, die bei der Bewertung der verbliebenen Erwerbsfähigkeit berücksichtigt werden müßten. Die Störungen der Sprache und des Ganges könnten allerdings nicht berücksichtigt werden, sie seien nicht organischer Natur, könnten willensmäßig beeinflußt werden und seien somit heilbar. Der Kreislauf sei nach dem Gutachten des Dr. B. nicht unausgeglichen, es lägen auch keine krankhaften Herzbefunde vor; die von Dr. ... angegebenen orthostatischen Kollapsneigungen bedingten keine Nerzschwäche. Die vorhandene Gefäßsklerose entspreche dem Alter des Klägers. Es bestünden auch keine Leber- oder Gallenschwellungen und keine Oedeme. Der Senat habe sich aber durch Augenschein davon überzeugt, daß der Kläger vorzeitig gealtert sei. Ferner habe er berücksichtigt, daß der Kläger im Jahre 1937 eine Magenoperation nach Billroth II durchgemacht habe. Zwar könne nicht angenommen werden, daß der Kläger deshalb an wesentlichen Beschwerden seitens des Magens leide, diese Operation stelle aber einen so schweren Eingriff in die körperliche Funktionen des Klägers dar, daß sie bei Bewertung der Erwerbsfähigkeit nicht unberücksichtigt gelassen werden könne. Die Oberzeugung, daß der Kläger invalide sei, werde dadurch bestärkt, daß er seit seinem Arbeitsunfall im Jahre 1939 nur in typischen Invalidenberufen beschäftigt gewesen sei. Es sei auch nicht unglaubhaft, daß er seit dem Jahre 1951 nicht mehr in seinem Kiosk tätig sein könne weil er dazu nicht mehr imstande sei. Danach sei festzustellen, daß der Kläger die gesetzliche Lohnhälfte nicht mehr verdienen könne.
Das Urteil des Landessozialgerichts, in dem die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen wurde, ist der Beklagten am 29. Oktober 1955 zugestellt worden. Sie beantragt mit ihrer heim Bundessozialgericht am 24. November 1955 eingegangenen Revision,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Zur Begründung ihrer Revision macht die Beklagte geltend: Zunächst beruhe die angefochtene Entscheidung auf einer Verletzung des § 103 SGG. Das Landessozialgericht habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Aus dem Sachverhalt ergebe sich weder das bisherige Arbeitsleben des Klägers noch allgemein sein Werdegang. Insbesondere habe das Landessozialgericht keine Ermittlungen darüber angestellt, welche Arbeiten dem Kläger noch zugemutet werden könnten und ob er damit noch die für ihn maßgebende Lohnhälfte verdienen könne. Das Landessozialgericht hätte seine Entscheidung nicht allein auf die Angaben des Klägers sowie allein auf die Untersuchung durch einen Arzt stützen dürfen. Das Urteil des Landessozialgerichts beruhe sodann auf unrichtiger Anwendung des § 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. . Nach den ärztlichen Feststellungen sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers wie folgt eingeschränkt:
1.) Verlust des linken Armes, abgesetzt im mittleren Teil des Oberarms,
2.) angeborene Nervenschwäche,
3.) rein nervös bedingte vorübergehende Stimmlosigkeit,
4.) mittelgroße Fettgeschwulst im Nacken.
Auf Grund dieses Befundes seien dem Kläger alle leichten Arbeiten im Sitzen und Stehen fortgesetzt, mittelschwere Arbeiten im Sitzen fortgesetzt, im Stehen mit Unterbrechung zuzumuten, soweit solche Arbeiten von einem Einarmigen mit Verlust des linken Armes im Oberarm geleistet werden könnten. Die Auffassung des Landessozialgerichts, der Kläger sei als Oberarmamputierter deshalb invalide im Sinne des § 1254 RVO a.F., weil er nicht durch tatsächliche, über einen längeren Zeitraum dauernde, wirtschaftlich nutzbringende Arbeitsleistung bewiesen habe, daß er sich auf dem allgemeinen Arbeitsfeld zu behaupten vermöge, beruhe auf einem unzutreffenden Invaliditätsbegriff. Die Prüfung, ob ein Versicherter invalide sei, müsse sich auf alle Umstände erstrecken, die gerade für diesen Versicherten maßgebend seien. § 1254 RVO a.F. gestalte es nicht, einen Oberarmamputierten von vornherein als invalide zu betrachten. In den letzten Jahrzehnten habe nicht nur die Entwicklung im Prothesenbau durch Konstruktion und Verbesserung von Arbeitsarmen Fortschritte gemacht. Die Einsatzmöglichkeit Amputierter habe sich insbesondere durch die weitgehende Mechanisierung der Industrie bedeutend vergrößert. Zahlreiche Maschinen ließen sich auch von Einarmigen bedienen, ohne daß hierfür besondere geistige Fähigkeiten oder längere Ausbildung erforderlich seien. Der Kläger sei von Beruf Bote. Diesen Beruf habe er von 1938 bis 1947 ausgeübt und habe ihn nur aufgegeben, weil er sich im Jahre 1947 als Inhaber eines Verkaufspavillons selbständig gewacht habe. Warum der Kläger dem von ihm zehn Jahre hindurch ausgeübten Beruf als Bote jetzt nicht mehr nachgehen könne, sei nicht ersichtlich. Die außer dem Oberarmverlust bei ihm noch vorhandenen weiteren Gesundheitsstörungen seien so geringfügig, daß sie nicht ins Gewicht fielen. Dies habe auch das Vordergericht nicht verkannt, soweit es sich um die Störungen der Sprache und des Ganges des Klägers handele. Diese Störungen seien durch eine seelische Pohlhaltung des Klägers verursacht. Das Landessozialgericht habe aber offensichtlich die Bedeutung der im Jahre 1937 durchgeführten, vom Kläger gut überstandenen Magenresektion überschätzt, die nun schon mehr als 20 Jahre zurückliege. Inzwischen sei eine Anpassung der Verdauungsorgane an die durch die Operation veränderten Verhältnisse eingetreten, dies ergebe sich aus dem überdurchschnittlich guten Allgemeinzustand des Klägers sowie aus der nicht beeinträchtigten Blutbildung. Der Kläger habe selbst nicht einmal über Beschwerden von Seiten der Verdauungsorgane geklagt. Die von ihm überstandene Magenresektion habe daher keine zusätzliche, die Erwerbsfähigkeit mindernde Bedeutung. Diese sei vielmehr ausschließlich durch den Verlust des linken Armes bedingt. In Übereinstimmung mit dem medizinischen sachverständigen des Landessozialgerichts seien dem Kläger daher alle Arbeiten zuzumuten, die von einem Einarmigen geleistet werden könnten.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, das Landessozialgericht habe den Sachverhalt hinreichend erforscht. Im übrigen tritt er den rechtlichen und tatsächlichen Ausführungen der Beklagten entgegen: Die Stadt Geesthacht sei Notstandsgebiet mit einer großen Zahl von Arbeitslosen. Versehrte mit einem so ungünstigen Gesundheitszustand wie der Kläger könnten dort überhaupt nicht in Arbeit vermittelt werden. Sein erlernter Beruf sei der eines Walzers. Die Tätigkeit als Bote habe er nur ausgeführt, weil er wegen des Armverlusts seine frühere Tätigkeit nicht wehr habe verrichten können. Der Kläger leide sehr wohl an Magenbeschwerden, nur machten ihm die anderen Beschwerden, insbesondere die Gehbehinderung weit mehr zu schaffen. Er könne seit seiner Magenoperation einen großen Teil von Nahrungsmitteln nicht mehr vertragen, er nehme auch ständig Medikamente ein und müsse bei seiner Ernährung außerordentlich vorsichtig sein. Das Landessozialgericht habe die Invalidität des Klägers zutreffend bejaht.
II.
Die Beklagte hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet. Die Revision ist statthaft, weil sie das Landessozialgericht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch begründet.
Das Landessozialgericht hat die Vorschrift des § 1254 RVO a.F., die für den vom Kläger erhobenen Rentenanspruch bis zum 31. Dezember 1956 maßgebend ist, nicht zutreffend angewandt. Es ist bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers im wesentlichen davon ausgegangen, ein oberarmamputierter Handarbeiter müsse so lange als invalide angesehen werden, als er nicht durch Arbeitsleistung bewiesen habe, daß er fähig sei, die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Nach § 1254 RVO a.F. hängt die Verneinung der Invalidität aber nicht davon ab, ob der Versicherte tatsächlich Arbeiten verrichtet. Bei Prüfung der Erwerbsfähigkeit muß in erster Linie von dem Gesundheitszustand des Versicherten ausgegangen werden, mithin von der objektiven, die Gesundheit des Versicherten bedingenden Lage. Sodann ist zu prüfen, welche Arbeiten der Versicherte noch verrichten kann, d.h. welche Fähigkeiten zur Vorrichtung abhängiger Arbeiten er tatsächlich noch besitzt und ob er durch eine seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit, die ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufs zugemutet werden kann, in der Lage ist, die für ihn maßgebende Lohnhälfte zu verdienen. Bei Oberarmamputierten hängt die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit wesentlich davon ab, ob sie imstande sind, eine Arbeitsprothese zu tragen. Zwar muß bei Versicherten, die ein wichtiges Glied verloren haben, die verbliebene Erwerbsfähigkeit unter Berücksichtigung neu erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten besonders sorgfältig geprüft werden. Wenn ein Versicherter längere Zeit keine Arbeiten verrichtet, so können daraus ohne nähere Feststellung der Ursachen keine Schlüsse über seine Erwerbsfähigkeit gezogen werden.
Das angefochtene Urteil enthält keine Feststellung darüber, welche Arbeiten dem Kläger noch zuzumuten und ob Arbeitsplätze dieser Art in dem für ihn in Betracht kommenden Wirtschaftsgebiet vorhanden sind. Der vom Landeasozialgericht gehörte ärztliche Sachverständige hatte in seines Gutachten ausgeführt, daß der Kläger alle mittelschweren Arbeiten im Sitzen fortgesetzt ausführen könne und hierzu bemerkt, der Kläger habe selbst geäußert, er würde solche Arbeiten ausführen, wenn er sie hätte. Das Landessozialgericht geht in den Gründen des angefochtenen Urteils auf diese ärztliche Stellungnahme nicht ein, sondern schließt aus der von ihm durch Augenschein festgestellten vorzeitigen Alterung des Klägers und der im Jahre 1937 durchgeführten Magenresektion, daß diese Gesundheitsstörungen ausreichten, die Invalidität des armamputierten Klägers zu bejahen. Da die Frage, in welchem Umfang die über 20 Jahre zurückliegende Magenresektion die Erwerbsfähigkeit des Klägers beeinträchtigt, im wesentlichen auf ärztlichen Gebiet liegt, hätte das Landessozialgericht zumindest eine Stellungnahme des von ihm gehörten ärztlichen Sachverständigen über die beim Kläger etwa noch vorhandenen Magenbeschwerden und ihren Einfluß auf seine Erwerbsfähigkeit einholen müssen.
Das angefochtene Urteil ist hiernach aufzuheben. Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen ist der Senat nicht in der Lage, eine Entscheidung in der Sache selbst zu treffen. Der Rechtsstreit ist daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Das Berufungsgericht wird nunmehr nach nochmaliger ärztlicher Untersuchung des Klägers - gegebenenfalls im Benehmen mit dem Arbeitsamt - zu prüfen haben, welche Tätigkeiten dem Kläger im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand noch zugemutet werden konnten und ob er durch eine ihm zumutbare Arbeit in seiner Wohngegend oder in erreichbarer Nähe die für ihn maßgebende Lohnhälfte hätte verdienen können. Bei Prüfung der Invalidität des Klägers wird es auch darauf ankommen, ob er einen ihm zumutbaren Arbeitsplatz nur mit Hilfe des Schwerbeschädigtengesetzes hätte erhalten können (BSG. 1 S. 82, hier 89/90). Soweit der Kläger nach dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter Rente für die Zeit vom 1. Januar 1957 an begehrt, wird der beklagten Landesversicherungsanstalt erforderlichenfalls noch Gelegenheit zu geben sein zu prüfen, ob die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Maßnahmen der Berufsförderung wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann (§§ 1236, 1237 RVO n.F.).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen