Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 11.07.1967) |
SG Münster (Urteil vom 16.12.1966) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Juli 1967 wird aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 16. Dezember 1966 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die verheiratete Klägerin – ihr Ehemann ist auswärts berufstätig – war im Jahre 1965 beim Finanzamt Münster-Land beschäftigt; seit dem 24. Mai 1965 war sie zur Oberfinanzkasse in Münster abgeordnet. Ihre Arbeitszeit von früh 8.00 Uhr bis abends 17.30 Uhr war durch eine halbstündige Mittagspause unterbrochen.
Am 31. Mai 1965 fuhr die Klägerin mit dem Pkw wie üblich während der Mittagspause zu der von ihrer Arbeitsstätte 1600 m entfernten Wohnung ihrer Eltern, um dort zu Mittag zu essen. Nach dem Mittagessen stolperte sie auf dem Weg zu ihrem Kraftfahrzeug vor dem Haus ihrer Eltern und stürzte auf den linken Ellenbogen. Dadurch kam es zu einem Abbruch des speichenseitigen Gelenkknorrens des linken Ellenbogens. Dieser wurde operativ verschraubt.
Die Ausführungsbehörde für Unfallversicherung des beklagten Landes versagte durch Bescheid vom 14. Januar 1966 die begehrte Unfallentschädigung, weil den Angehörigen der Dienststelle geboten gewesen sei, das Mittagessen in der von der Finanzkasse 800 m entfernten Kantine des Rechenzentrums der Oberfinanzdirektion einzunehmen in der unmittelbaren Nähe der Oberfinanzkasse befänden sich zudem mehrere Gaststätten, in denen die Klägerin das Mittagessen ebenfalls hätte einnehmen können. Der erheblich weitere Weg zur elterlichen Wohnung habe dagegen nicht mehr in Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit gestanden.
Da der Beklagte einen Arbeitsunfall verneinte, brach er ein zunächst eingeleitetes berufsgenossenschaftliches Heilverfahren ab und widersetzte sich dem Begehren der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) um Übernahme der für die Klägerin aufgewendeten ärztlichen Behandlungskosten.
Das Sozialgericht (SG) Münster hat – nach Beiladung der DAK – durch Urteil vom 16. Dezember 1966 den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides verurteilt, den Unfall der Klägerin als Arbeitsunfall zu entschädigen, weil ein innerer Zusammenhang des von der Klägerin zu ihren Eltern zwecks Einnahme des Mittagessens zurückgelegten Weges mit der dienstlichen Tätigkeit zu bejahen sei.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat auf die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 11. Juli 1967 unter Änderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Das von der Klägerin bei ihren Eltern eingenommene Mittagessen habe zwar der Erhaltung der Arbeitskraft wesentlich gedient. Seine Einnahme in der elterlichen Wohnung sei jedoch entscheidend von privaten Interessen (bessere Kost, Geldersparnis) bestimmt gewesen. Dies schließe den inneren Zusammenhang mit der dienstlichen Tätigkeit aus. Etwas anderes würde nur gelten, wenn die Klägerin zur elterlichen Wohnung keine längere Wegstrecke als zur Kantine des Rechenzentrums der Oberfinanzdirektion hätte zurücklegen müssen. Da diese jedoch doppelt so lang sei und damit zu einer nicht unwesentlichen Erhöhung des Versicherungsrisikos geführt habe, seien die privaten Erwägungen, welche die Klägerin veranlaßt hätten, zwecks Einnahme des Mittagessens die elterliche Wohnung aufzusuchen, rechtlich wesentlich. Unerheblich sei, daß dieser Weg von der Klägerin infolge Benutzung eines Kraftwagens ebenso schnell zurückgelegt worden sei als wann sie zur Kantine des Rechenzentrums zu Fuß gegangen wäre.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin und die Beigeladene haben dieses Rechtsmittel eingelegt.
Die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin haben die Revision im wesentlichen wie folgt begründet:
Der Klägerin sei von einem Gebot, das Mittagessen in der Kantine des Rechenzentrums der Oberfinanzdirektion einzunehmen, nichts bekannt gewesen; sie habe, da sie erst eine Woche bei der Oberfinanzkasse beschäftigt gewesen sei, nicht einmal von dieser Kantine gewußt. Wesentlich für die Fahrt zur elterlichen Wohnung sei die Notwendigkeit gewesen, zwecks Erhaltung der Arbeitskraft ein Mittagessen zu sich zu nennen. Gegenüber diesem entscheidenen Zweck der Fahrt zu den Eltern komme den der privaten Lebenssphäre zuzurechnenden Überlegungen der Zweckmäßigkeit, der Einfachheit und der gewohnten Kost nur eine untergeordnete Bedeutung zu.
Die Beigeladene ist aus ähnlichen Erwägungen der Ansicht, daß die Klägerin im Zeitpunkt ihres Unfalls unter Versicherungsschutz gestanden habe.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Versicherungsschutz sei auch deshalb zu verneinen, weil die Klägerin sich in eine selbst geschaffene Gefahr begeben habe; sie habe, um zu ihren Eltern zu gelangen, durch die um die Mittagszeit durch einen starken Verkehr belebte Innenstadt von Münster fahren müssen.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides zu verurteilen, den Wegeunfall vom 31. Mai 1965 zu entschädigen.
Die Beigeladene beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Münster vom 16. Dezember 1966 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revisionen sind begründet.
Nach der Unfallrechtsprechung stehen Beschäftigte auf Wegen, die sie in der Mittagspause zurücklegen, um das Mittagessen einzunehmen, im allgemeinen unter Versicherungsschutz (RVA, Breithaupt 1935, 149; BSG SozR Nr. 26, 47 zu § 543 RVO aF; LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1963, 869; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand März 1969, Anm. 8 zu § 550 RVO, S. 264; Podzun, SozVers 1962, 156, 157; Schreier, SozVers. 1963, 182). Bei der Wahl der Örtlichkeit, in der der Versicherte zu Mittag essen will, ist ihm nach der Rechtsprechung des Senats (SozR Nr. 47 zu § 543 RVO aF) ein nicht zu gering zu bemessender Spielraum einzuräumen. Darauf, daß die Klägerin zur elterlichen Wohnung eine doppelt so lange Wegstrecke zurückzulegen hatte als zur Kantine des Rechenzentrums der Oberfinanzdirektion, kommt es versicherungsrechtlich nicht an, zumal da die Klägerin zur elterlichen Wohnung ihren Pkw benutzt und damit nicht mehr Zeit aufgewendet hat als die Bediensteten, die den Weg zum Rechenzentrum zu Fuß zurückzulegen pflegten. Bei einem Unfall auf diesem Weg hätte der Beklagte der Klägerin ohne weiteres den Versicherungsschutz zugebilligt. Nach der Rechtsprechung des Senats (BSG 20, 219, 221) wird dieser durch das Zurücklegen des Weges nach oder von der Arbeitsstätte nicht davon beeinflußt, ob der Versicherte hierzu ein privates Verkehrsmittel benutzt.
Unternehmensfremde Umstände, welche den Versicherungsschutz entfallen lassen würden (vgl. SozR Nr. 47 zu § 543 RVO aF), hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Da die Klägerin, um zu ihren Eltern zu gelangen, nicht mehr Zeit benötigt hat, als wenn sie zur Kantine gegangen wäre, ergibt sich insbesondere kein Anhalt dafür, daß sie bei der Rückkehr zur betrieblichen Tätigkeit nach beendetem Mittagessen aus betriebsfremden Gründen in besonderer Hast gewesen und deshalb zu Fall gekommen ist.
Die Ansicht des Beklagten, der Versicherungsschutz sei ausgeschlossen, weil die Klägerin sich wegen des um die Mittagszeit in der Innenstadt von Münster herrschenden erheblichen Verkehrs gefährdet habe, trifft nicht zu denn die Klägerin ist, wie sich aus den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt, nicht den Auswirkungen einer selbst geschaffenen Gefahr erlegen. Sie ist auf dem Gehsteig hingefallen; dies hätte ihr genauso gut zustoßen können, wenn sie die Kantine aufgesucht hätte.
Ob ein Gebot des Arbeitgebers vorgelegen hat, das Mittagessen in der Kantine des Rechenzentrums einzunehmen, ist nach § 548 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ohne rechtliche Bedeutung.
Da sich die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls auf dem Rückweg zur Arbeitsstätte befunden hat, stand sie nach § 550 RVO unter Versicherungsschutz. Das Urteil des Berufungsgerichts war deshalb aufzuheben. Die Berufung des Beklagten gegen die seine Entschädigungspflicht bejahende Entscheidung des SG war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Dr. Baresel, Dr. Kaiser
Fundstellen