Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei geringfügiger Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit
Leitsatz (redaktionell)
Eine geringfügige Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit durch eine private Besorgung (geringfügige Reparatur eines für die Wege zwischen Arbeitsstätte und Wohnung verwendeten privaten Fahrrads) führt nicht zu einer Unterbrechung des Unfallversicherungsschutzes; ob eine Unterbrechung geringfügig ist, richtet sich insbesondere nach der Zeit, die der Versicherte für die private Besorgung aufgewandt hat oder voraussichtlich hätte aufwenden müssen und nach der räumlichen Entfernung des Ziels, welches der Versicherte von seinem Arbeitsplatz aus erreichen wollte.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Februar 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger war als Innenschleifer (Automateneinsteller) bei einer Präzisionswerkzeugfabrik in G/S beschäftigt und wohnte - etwa 3 bis 5 km entfernt - in B Ü. Am 5. und 6. November 1968 hatte er Mittagsschicht von 14,00 bis 22,15 Uhr. Das vom Kläger für den Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte benutzte Fahrrad war während der Arbeitszeit am 5. November 1968 von einem Arbeitskollegen beschädigt worden. Der Kläger ging deshalb zu Fuß nach Hause. Für die Fahrt zur Arbeitsstätte am 6. November 1968 benutzte er den Bahnbus, und zwar früher als üblich, um die Schäden am Fahrrad (Verbiegung der Felgenbremse am Vorderrad, Bruch der Feder, Verbiegung des Lenkers, Riß des Bowdenzuges zur Schaltung, "Achter" im Hinterrad) vor Beginn der Schicht zu beseitigen. Für die Reparatur hätte er etwa eine starke Stunde benötigt; beim Beginn der Arbeitszeit fehlte jedoch für die vordere Felgenbremse noch ein Stück Federdraht, den er abends nach Schichtende einbauen wollte. Für die Entnahme eines Federstückes aus einer Werkzeugkiste an seinem Arbeitsplatz und das Abzwicken eines für die Reparatur erforderlichen Stückes sowie für die damit zusammenhängenden Handreichungen hätte der Kläger nicht einmal eine Minute gebraucht. Gegen 19,30 Uhr erlitt er beim Abzwicken einer Stahldrahtspirale, die zurückschnellte, eine durchbohrende Verletzung der Hornhaut des linken Auges. Dies führte zu einem Glaukom.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 12. Februar 1970 eine Entschädigung ab, da der Kläger bei einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit verunglückt sei.
Die hiergegen vom Kläger erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Ulm durch Urteil vom 21. Juli 1971 mit der Begründung abgewiesen, bei der auf dem Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung unvorhergesehen erforderlich werdenden Reparatur eines für den Weg benutzten Fahrzeuges könne zwar Versicherungsschutz bestehen; hier aber handele es sich um eine vor Antritt des Heimweges in Betrieb durchgeführte Reparatur, die eigenwirtschaftlich sei.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers durch Urteil vom 28. Februar 1973 das angefochtene Urteil sowie den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte zur Entschädigungsleistung verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Das vom Kläger reparierte Fahrrad sei nicht dessen "Arbeitsgerät" im Sinne des § 549 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gewesen. Die Reparatur eines für die Wege zwischen Arbeitsstätte und Wohnung verwendeten privaten Beförderungsmittels stehe zwar selbst dann nicht in einem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, wenn hierfür während der Arbeitszeit eine Betriebseinrichtung benutzt werde; da der Kläger die Reparaturbedürftigkeit des Fahrrades schon tags zuvor erkannt habe, seien auch die Voraussetzungen, unter denen nach der Rechtsprechung ausnahmsweise ein Versicherungsschutz für die Wiederherstellung der Fahrfähigkeit des Beförderungsmittels anerkannt werde - eine unvorhergesehen aufgetretene Störung der Betriebsfähigkeit - nicht gegeben. Gleichwohl habe der Kläger bei der unfallbringenden Betätigung unter Versicherungsschutz gestanden. Die in die versicherte Tätigkeit eingeschobene ausschließlich dem privaten Bereich des Klägers zuzurechnende Verrichtung sei während der Arbeitszeit am Arbeitsplatz gleichsam nebenbei vorgenommen worden und nach den gesamten Umständen als so geringfügig anzusehen, daß bei natürlicher Betrachtung eine Unterbrechung der versicherten Tätigkeit nicht eingetreten sei. Nur durch ihre subjektive Zweckbestimmung habe sich die - privaten Belangen dienende - Handlung des Klägers von dessen sonst gleichartiger betrieblicher Tätigkeit unterschieden; zu den betrieblichen Aufgaben des Klägers habe es nämlich gehört, Federn in die von ihm betreuten Schleifautomaten einzubauen und sie im Bedarfsfall zu diesem Zweck auch herzurichten. Es könne deshalb dahinstehen, ob das Bundessozialgericht - BSG - die Gleichartigkeit der eingeschobenen privaten Verrichtung mit der im Rahmen des Beschäftigungsverhältnisses ausgeübten Tätigkeit als eine Voraussetzung für die Annahme einer den Versicherungsschutz nicht beeinträchtigenden Unterbrechung ansehe (Hinweis auf BSG in SozR Nr. 72 zu § 542 RVO aF.) Die rechtlich als einheitlicher Vorgang zu wertende Verrichtung - Beschaffung von Zange und Feder, die sich am Arbeitsplatz befanden, Abzwicken der Feder, Weglegen des Federrestes und der Zange - sei nur geringen Umfangs gewesen und hätte weniger als eine Minute in Anspruch genommen. Nach natürlicher Lebensauffassung sei die privatorientierte Handlung des Klägers als ein Teil seiner betrieblichen Tätigkeit anzusehen. Der Kläger habe daher bei der zum Unfall führenden Betätigung unter Versicherungsschutz gestanden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat - die vom LSG zugelassene - Revision eingelegt und wie folgt begründet: Die Überbetonung des Zeitelements in der Rechtsprechung des BSG bei der Frage, ob eine eingeschobene private Tätigkeit den Versicherungsschutz aufhebe, sei verfehlt. Die Größe der Gefahr einer unfallbringenden Tätigkeit sei von deren Dauer nicht abhängig. Soweit irgend möglich, sollte deshalb der Grundsatz aufrecht erhalten bleiben, daß bei eigenwirtschaftlichen Betätigungen, auch wenn sie in versicherte Tätigkeiten eingebettet seien, kein Versicherungsschutz bestehe. Dies müsse jedenfalls in den Fällen gelten, in denen sich die private von der versicherten Tätigkeit eindeutig abgrenzen lasse. Darüber hinaus sei es zweifelhaft und widerspreche der Lebenserfahrung, daß der Kläger bei einer nur weniger als eine Minute dauernden privaten Betätigung verunglückt sei. Wahrscheinlich habe der Kläger während seiner Arbeitszeit vor dem Unfall um 19,30 Uhr mit der Reparatur begonnen und dafür die versicherte Tätigkeit erheblich längere Zeit unterbrochen.
Die Beklagte beantragt,
unter Änderung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Ulm vom 21. Juli 1971 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.
II
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die zulässige Revision des Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger bei der unfallbringenden Tätigkeit gegen Arbeitsunfall versichert war (§ 548 iVm § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO).
Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß der Versicherungsschutz des Klägers nicht schon aus § 549 RVO - Unfall bei der Instandsetzung eines Arbeitsgerätes - herzuleiten ist. Das vom Kläger reparierte Fahrrad war nicht ein Arbeitsgerät im Sinne des § 549 RVO, weil es seiner Zweckbestimmung nach nicht hauptsächlich für die Tätigkeit im Unternehmen benutzt wurde (vgl. BSG 24, 243, 246; vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 8. Aufl., S. 482 f mit weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum).
Keinen rechtlichen Bedenken begegnet auch die Rechtsauffassung des LSG, daß bei Maßnahmen des Versicherten, die - wie hier - zur Wiederherstellung der Betriebsfähigkeit eines für die Wege zwischen Arbeitsstätte und Wohnung benutzten Beförderungsmittels unternommen werden, regelmäßig kein Versicherungsschutz besteht (vgl. BSG 16, 77, 78 - SozR Nr. 35 zu § 543 RVO aF; Brackmann aaO S. 486n, 486m II mit Nachweisen), selbst wenn die Reparatur im Betrieb - z.B. während einer Arbeitspause - ausgeführt und dabei eine Betriebseinrichtung benutzt wird (BSG in SozR Nr. 72 zu § 542 RVO aF). Der vom LSG festgestellte Sachverhalt bietet keinen Anhalt für eine andere rechtliche Beurteilung; die Notwendigkeit der Maßnahme zur Wiederherstellung der Fahrbereitschaft hat sich insbesondere nicht unvorhergesehen erst während der Zurücklegung des Weges zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ergeben (vgl. BSG 16, 245, 247; SozR Nr. 63 zu § 543 RVO aF). Steht danach die Verrichtung, bei welcher der Kläger den Unfall erlitten hat, zwar nicht unter dem Gesichtspunkt einer unvorhergesehen notwendig gewordenen Reparatur des Beförderungsmittels mit seiner versicherten Tätigkeit in ursächlichem Zusammenhang, so ist jedoch der Versicherungsschutz deshalb gegeben, weil es sich bei der unfallbringenden Betätigung um eine in die versicherte Tätigkeit eingeschobene nur geringfügige Verrichtung gehandelt hat.
Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats, die sich an diejenige des Reichsversicherungsamts anschließt (vgl. EuM Bd. 22, 303; 23, 270; 33, 268; s. auch Mitglieder-Kommentar zur RVO, 2. Aufl., Anm. 4 I D 3 d - S. 62 - zu § 544 RVO aF, Anm. 6b - S. 84 - zu § 545a RVO aF), bleibt der Versicherungsschutz erhalten, wenn eine private Besorgung oder Verrichtung, die in die betriebliche Tätigkeit oder in das Zurücklegen der Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte eingeschoben wird, nach natürlicher Betrachtungsweise nur eine geringfügige Unterbrechung der versicherten Tätigkeit bewirkt (vgl. Urteil vom 31. Oktober 1969 - 2 RU 311/68 - in "Der Betrieb" 1969, 2283; BSG in SozR Nr. 31 zu § 548 RVO - jeweils mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Brackmann aaO S. 486v, ebenfalls mit weiteren Nachweisen). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Die demgegenüber von der Revision vertretene Auffassung liefe im Ergebnis darauf hinaus, die Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes davon abhängig zu machen, daß der arbeitende Mensch, einer Maschine vergleichbar, sich während der gesamten Arbeitszeit ausschließlich und ununterbrochen auf die Ausführung seiner Arbeit ausrichtet (vgl. Brackmann aaO S. 480t). Der Begriff der geringfügigen Unterbrechung läßt sich, wie der Senat bereits mehrfach herausgestellt hat (vgl. u.a. Urteil vom 31. Oktober 1969 aaO), nicht nach absoluten Maßstäben beurteilen (vgl. auch Brackmann aaO S. 480t). Von besonderer Bedeutung ist jedenfalls der Zeitfaktor, ferner die räumliche Entfernung vom Arbeitsplatz, die der Versicherte zur Erledigung der eingeschobenen privaten Verrichtung zurückgelegt hat oder zurücklegen wollte (vgl. u.a. BSG SozR Nr. 31 zu § 548 RVO). Dies bedeutet aber nicht, daß andere für den Einzelfall bedeutsame Tatsachen von der Gesamtwürdigung auszuschließen sind (vgl. BSG in BG 1965, 196). Ungeachtet des besonders wichtigen Zeitfaktors sind vielmehr alle für den Einzelfall sonst noch bedeutsamen Tatsachen bei der rechtlichen Wertung zu berücksichtigen (BSG-Urteil vom 31. Oktober 1969 aaO). Der Kläger hat sich nach den Feststellungen des LSG ein Stück Federdraht beschaffen wollen, das er für die restliche Reparatur seines Fahrrades nach Arbeitsschluß benötigte. Die gesamte Verrichtung - Beschaffung einer Zange und des Drahtes, Abzwicken des Drahtes und Weglegen von Zange und Draht - hätte weniger als eine Minute gedauert. Da sich Werkzeug und Material an seinem Arbeitsplatz befanden, brauchte sich der Kläger von diesem nicht zu entfernen. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG sind für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG), da die Revision lediglich Zweifel an der Sachdarstellung geäußert, nicht aber wirksame Verfahrensrügen erhoben hat. Die Verrichtung, bei der sich der Unfall ereignet hat, war hiernach hinsichtlich des Zeitaufwandes so kurzfristig, daß sie zu einer lediglich geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit führte, zumal da keine sonstigen Umstände des Falles ersichtlich sind, die eine andere Beurteilung rechtfertigen würden. Durch den räumlichen Faktor - keine Entfernung des Klägers vom Arbeitsplatz - wird vielmehr diese Wertung noch unterstützt. Es kann deshalb dahinstehen, ob darüber hinaus auch die - hier gegebene - Gleichartigkeit der eingeschobenen Verrichtung mit der Tätigkeit, die der Kläger im Rahmen seines Beschäftigungsverhältnisses regelmäßig vorzunehmen hatte, ein die Geringfügigkeit kennzeichnendes Merkmal ist. Wegen der vom LSG angedeuteten Zweifel sieht der Senat sich jedoch zu der Klarstellung veranlaßt, daß die den Besonderheiten des Falles entsprechenden Ausführungen im Urteil vom 9. Dezember 1964 (- 2 RU 101/59 - SozR Nr. 72 zu § 542 RVO) nicht dahin zu verstehen sind, daß nach der Auffassung des Senats die Gleichartigkeit der eingeschobenen privaten Verrichtung mit der Arbeit im Betrieb eine unabdingbare Voraussetzung für die Annahme einer dem Versicherungsschutz unschädlichen geringfügigen Unterbrechung sei.
Der Kläger hat sich weder in eine dem Betrieb "fremde Gefahr" noch in eine gegenüber der Betriebstätigkeit "erhöhte Gefahr" begeben. Es kann deshalb auch dahinstehen, ob unter diesen Gesichtspunkten der Versicherungsschutz während geringfügiger Unterbrechung zu versagen wäre (vgl. hierzu Brackmann aaO S. 486w mit Nachweisen). Die Ansicht (vgl. Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennz. 070 S. 10), während der geringfügigen Unterbrechung bestehe Versicherungsschutz stets nur gegen "allgemeine Gefahren", nicht jedoch gegen Gefahren, die aus der geringfügigen Verrichtung selbst herrühren (z.B. Verletzung am Zigarettenautomaten beim Ziehen der Zigaretten), teilt der Senat nicht (vgl. u.a. Urteil vom 31. August 1972 - 2 RU 51/71 -). Allerdings wäre unter den besonderen Voraussetzungen der sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr der Versicherungsschutz, wie im allgemeinen, auch während einer nur geringfügigen Unterbrechung ausgeschlossen (vgl. Brackmann aaO S. 486w). Ein solcher Fall liegt jedoch nach den Feststellungen des LSG nicht vor.
Das LSG hat die Beklagte somit zu Recht verurteilt, dem Kläger Entschädigungsleistungen zu gewähren. Die Revision der Beklagten ist deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen