Leitsatz (amtlich)
1. Für das Begehren des Versicherten auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger eine ihm aus dem öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnis obliegende Beratungspflicht nicht verletzt hätte, ist der Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zulässig (SGG § 51).
2. Zum Folgenbeseitigungsanspruch.
3. Hat der Versicherungsträger die ihm aus dem öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnis nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (vgl BGB § 242) obliegende Dienstleistungspflicht aus Anlaß eines Rentenfeststellungsverfahrens zur Beratung des Versicherten verletzt, indem er den Versicherten nicht auf solche Gestaltungsmöglichkeiten hingewiesen hat, die klar zutage liegen und deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig erscheint, daß sie jeder verständige Versicherte mutmaßlich nutzen wird, so ist er zur Herstellung des Zustandes, der bestehen würde, wenn er pflichtgemäß gehandelt hätte, durch Vornahme einer entsprechenden Amtshandlung verpflichtet (Weiterführung von BSG 1962-06-14 4 RJ 75/60 = SozR Nr 3 zu § 1233 RVO).
Leitsatz (redaktionell)
Der Versicherungsträger hat seine dem Versicherten gegenüber obliegende Betreuungs- und Aufklärungspflicht verletzt, wenn er es unterläßt, bereits im Rentenfeststellungsverfahren den Versicherten auf die Gestaltungsmöglichkeit des Versicherungsverhältnisses hinzuweisen. Dazu gehört auch die Aufklärung zu einer möglichen Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur Erfüllung der Wartezeit.
Normenkette
SGB 1 § 14 Fassung: 1975-12-11, § 15 Abs. 2 Fassung: 1975-12-11; BGB § 839 Abs. 1 Fassung: 1896-08-18, § 242 Fassung: 1896-08-18; GG Art. 34 S. 1 Fassung: 1949-05-23; VwGO § 40 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1960-01-21; RVO § 1324 S. 1 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Auf die Sprungrevision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 6. Februar 1975 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin unter Änderung des Bescheides vom 12. Oktober 1973 das Altersruhegeld bereits ab 1. September 1965 zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte das der Klägerin ab 1. Oktober 1971 gewährte Altersruhegeld bereits ab 1. September 1965 zu zahlen hat.
Die 1888 geborene Klägerin entrichtete in der Zeit von 1904 bis zum 28. Januar 1923 für 171 Kalendermonate Pflichtbeiträge zur Arbeiterrentenversicherung. Am 24. Juli 1965 beantragte sie, ihr Altersruhegeld zu gewähren. Das lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. August 1965 ab, weil bis zum 31. Dezember 1923 eine Beitragszeit von 180 Kalendermonaten nicht nachgewiesen sei. Der Bescheid wurde bindend.
Im Mai 1973 entrichtete die Klägerin neun freiwillige Monatsbeiträge und beantragte, ihr das Altersruhegeld ab 1. September 1965 zu zahlen. Sie vertrat die Auffassung, die Beklagte habe ihr bei Ablehnung des ersten Rentenantrages mitteilen müssen, daß sie die Wartezeit von 180 Kalendermonaten durch eine Beitragsentrichtung hätte erfüllen können. Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 12. Oktober 1973 Altersruhegeld ab 1. Oktober 1971. Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Düsseldorf durch Urteil vom 6. Februar 1975 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: Der Anspruch auf Altersruhegeld sei erst durch die Nachentrichtung der an der Wartezeit fehlenden neun Beiträge entstanden. Diese Beiträge seien für die Monate Januar bis September 1971 anzurechnen. Das Altersruhegeld stehe der Klägerin deshalb erst ab 1. Oktober 1971 zu. Die Klägerin habe keinen Anspruch darauf, so gestellt zu werden, als hätte sie die neun Beiträge bereits im August 1965 entrichtet. Der Beklagten obliege lediglich eine allgemeine Aufklärungspflicht. Eine Pflicht zur Aufklärung im Einzelfall habe sie nicht.
Mit der - zugelassenen - Sprungrevision rügt die Klägerin eine unrichtige Anwendung des materiellen Rechts durch das SG. Sie führt dazu aus: Das SG habe die der Beklagten aus dem Versicherungsverhältnis obliegende Fürsorgepflicht verkannt. Danach sei die Beklagte verpflichtet gewesen, die Klägerin über die bestmögliche Gestaltung ihres Versicherungsverhältnisses aufzuklären. Aus den schon mit dem ersten Rentenantrag im Juli 1965 eingereichten Versicherungsunterlagen habe die Beklagte erkennen können, daß der Anspruch auf Altersruhegeld nur am Fehlen weiterer neun Monatsbeiträge scheiterte. Angesichts der Schwierigkeit, die komplizierten Anspruchsvoraussetzungen zu überblicken, sei die Beklagte deshalb verpflichtet gewesen, sie auf die Möglichkeit der Beitragsnachentrichtung hinzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG aufzuhaben und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Änderung des Bescheides vom 12. Oktober 1973 das Altersruhegeld bereits ab 1. September 1965 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision der Klägerin ist zulässig und begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin das Altersruhegeld bereits ab 1. September 1965 zu gewähren.
Für den Anspruch der Klägerin ist der Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gemäß § 51 Abs. 1 SGG zulässig. Die Klägerin begehrt von der Beklagten, die von ihr 1973 entrichteten neun freiwilligen Monatsbeiträge nicht - wie geschehen - für die Monate Januar bis September 1971 (§ 1418 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), sondern für die Monate Dezember 1964 bis August 1965 anzurechnen und das Altersruhegeld bereits ab 1. September 1965 zu gewähren. Die Klägerin stützt ihr Begehren auf die Unterlassung der Beklagten, sie während des ersten Rentenfeststellungsverfahrens aufgrund des Antrags vom 24. Juli 1965 nicht auf die Möglichkeit der Nachentrichtung der noch fehlenden neun Monatsbeitrage hingewiesen zu haben. Sie macht damit einen Anspruch auf Wiedergutmachung eines Schadens durch Vornahme einer Amtshandlung geltend. Ob es sich bei diesem Anspruch - wie von Haueisen (DVBl 1973, 739 f) angenommen worden ist - um einen sog. Folgenbeseitigungsanspruch handelt, wie er im allgemeinen Verwaltungsrecht von Lehre und Rechtsprechung entwickelt (vgl. Bachof, Die Verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, 1951, S. 98 ff; Weyreuther, Verhandlungen des 47. Deutschen Juristentags, Bd. I Teil B S. 1 ff; Rüfner in Badura u.a. Allgemeines Verwaltungsrecht, Lehrbuch - 1975 - S. 404 ff; BVerwG NJW 1972, 269 ff) und gelegentlich auch in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSGE 34, 124, 126 f) erwogen worden ist, dürfte zweifelhaft sein. Wie bereits Weyreuther (aaO) ausgeführt hat, kann nämlich der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch nur durch die Beeinträchtigung eines Freiheitsgrundrechtes oder eines gleichgestellten Anspruchs auf Unterlassung entstehen, nicht aber aus der Verletzung von Leistungspflichten (ebenso Rüfner aaO; Maier/Hannemann, DAngVers 1975, 347, 352; vgl. auch BVerwG aaO). Die Entscheidung dieser Rechtsfrage kann indessen auf sich beruhen. Der von der Klägerin geltend gemachte Herstellungsanspruch wegen unzureichender Beratung des Versicherten durch den Versicherungsträger während eines Rentenfeststellungsverfahrens ergibt sich nämlich in jedem Fall aus einer - vertragsähnlichen - Nebenpflicht nach dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) aus dem öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnis (BSG SozR Nr. 3 zu § 1233 RVO; ferner für den Fall unrichtiger Auskünfte: BSGE 34, 124, 127).
Bei dem Streit um ein solches Begehren auf Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger pflichtgemäß verfahren wäre, handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten der Sozialversicherung, so daß der Rechtsweg vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben ist (§ 51 Abs. 1 SGG). Dem steht § 40 Abs. 2 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht entgegen. Nach ihrem Wortlaut eröffnet diese Vorschrift allerdings bei Schadensersatzansprüchen aus Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten den Rechtsweg vor den Gerichten der Zivilgerichtsbarkeit. Indessen wird mit dieser Regelung nur der Zweck verfolgt, den Rechtsweg vor den Zivilgerichten für solche öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zu erhalten, in denen ein enger Sachzusammenhang mit der Amtshaftung (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 des Grundgesetzes - GG -) schon bisher bestanden hat. Es sollen nicht alle Schadensersatzansprüche aus Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten den Zivilgerichten zugewiesen werden; dies war vielmehr nur für Ansprüche beabsichtigt, die bereits bisher vor die Zivilgerichte gehörten (vgl. BSGE 26, 129, 134; BSG SozR Nrn. 46 und 54 zu § 51 SGG; BGHZ 43, 269, 278; BGH JZ 1966, 443, 445; BVerwG DVBl 1971, 412, 413; Bettermann, JZ 1966, 445, 446; Jakumeit/Wilde, SGb 1971, 365 und Maier/Hannemann, aaO, S. 347, beide mit zahlreichen Hinweisen auf Literatur und Rechtsprechung). Da im vorliegenden Fall Streitgegenstand nicht der nach § 40 Abs. 2 Satz 1 VwGO allein vor die Zivilgerichte gehörende Anspruch auf Schadensersatz in Geld nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG ist, sondern die Vornahme einer Amtshandlung, ist der ordentliche Rechtsweg bereits wegen der traditionellen Unzuständigkeit der Zivilgerichte für solche Klagen ausgeschlossen (Eyermann/Frohler, VwGO, 6. Aufl., 1974, § 40 Anm. 80; Maier/Hannemann aaO S. 354; RGZ 150, 143; 156, 140; BGHZ 5, 102; BGH DVBl 1961, 557).
Der Anspruch der Klägerin ist auch begründet.
Entgegen der Auffassung des SG hat die Beklagte bei der Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Altersruhegeld im Bescheid vom 11. August 1965 ihre sich aus dem Versicherungsverhältnis ergebende Dienstleistungspflicht zur Beratung und verständnisvollen Förderung der Klägerin verletzt. Aus dem Inhalt des Ablehnungsbescheids ergibt sich, daß der Beklagten seinerzeit das Versicherungsverhältnis der Klägerin in allen Einzelheiten bekannt war. Da die Klägerin nach den von der Beklagten schon 1965 getroffenen Feststellungen lediglich eine Versicherungszeit von 171 Kalendermonaten zurückgelegt hatte, war zu erkennen, daß ihr sowohl für die Anrechnung dieser Versicherungszeit als auch für die Erfüllung der Wartezeit von 180 Kalendermonaten gemäß § 1248 Abs. 4 RVO in der 1965 geltenden Fassung noch neun Kalendermonate fehlten. Aus der Kenntnis der Gesetze und des Versicherungsverlaufes der Klägerin war für die Beklagte damals auch erkennbar, daß die Klägerin im Wege der freiwilligen Weiterversicherung nach § 1233 Abs. 1 RVO in seiner ab 1. Juli 1965 geltenden Fassung die noch fehlenden neun Monatsbeiträge nachentrichten konnte, um die Wartezeit sofort zu erfüllen. Eine solche Gestaltung war schließlich unverkennbar für die bereits damals 76-jährige Klägerin zweckmäßig. Die Beklagte war deshalb verpflichtet, die Klägerin anläßlich des 1965 eingeleiteten Rentenfeststellungsverfahrens auf diese Gestaltungsmöglichkeit ihres Versicherungsverhältnisses hinzuweisen (BSG SozR Nr. 3 zu § 1233 RVO). Indem sie dies unterließ, hat sie die ihr aus dem Versicherungsverhältnis obliegende Dienstleistungspflicht zur Beratung der Klägerin über die bestmögliche Gestaltung des Versicherungsverhältnisses verletzt und damit selbst eine wesentliche Ursache für die damalige Nichtentrichtung der zur Erfüllung der Wartezeit noch erforderlichen neun Monatsbeiträge gesetzt. Aus dieser pflichtwidrigen Unterlassung der der Beklagten obliegenden Beratung (vgl. für das ab 1. Januar 1976 geltende Recht: Art. I § 14 des Sozialgesetzbuches - SGB -) hat die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Herstellung des Zustandes, der bestehen würde, wenn die Beklagte pflichtgemäß verfahren wäre. Wegen Verletzung der ihr aus dem öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnis obliegenden Beratungspflicht ist die Beklagte mithin verpflichtet, die 1973 entrichteten neun freiwilligen Monatsbeiträge für die Monate Dezember 1964 bis August 1965 anzurechnen und der Klägerin bereits ab 1. September 1965 das Altersruhegeld zu zahlen. Die Revision der Klägerin muß deshalb Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen