Entscheidungsstichwort (Thema)
Teilbindung eines Rentenbescheids, Umfang der Anfechtung. Beschränkung der Klage auf Teile eines Bescheids. Klageänderung. Klageerweiterung
Orientierungssatz
1. Eine Änderung des Klagegrundes ist dann nicht gegeben, wenn der Kläger aus demselben Sachverhalt, aus dem er seinen Anspruch auf eine höhere Rente von Anfang an herleitet, eine höhere Rente aufgrund eines höheren Jahresarbeitsverdienstes erstrebt.
2. Bei der Beurteilung der Frage, in welchem Umfang der Kläger den Bescheid des Sozialversicherungsträgers angefochten hat, ist zu berücksichtigen, daß SGG § 92 nur eine Sollvorschrift ua zur Bezeichnung des Streitgegenstandes, der zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sowie zu einer bestimmten Antragstellung enthält. Es kann danach im Grundsatz davon ausgegangen werden, daß ein Kläger im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, von besonderen Fallgestaltungen abgesehen, alles verlangen will, was ihm bei dem gegebenen Sachverhalt nach dem Gesetz zusteht.
Da der Kläger bei seinem Begehren auf eine höhere Verletztenrente nicht auf das Recht der Nachprüfung und Änderung des Rentenbescheides hinsichtlich des Jahresarbeitsverdienstes verzichtet hat, ist auch für diesen Teil des Rentenbescheides keine Bindungswirkung eingetreten.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03, § 87 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 90 Fassung: 1953-09-03, § 92 Fassung: 1953-09-03, § 99 Abs. 3 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 123 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 25.02.1976; Aktenzeichen L 2 Ua 871/75) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 29.04.1975; Aktenzeichen S 1 U 1167/74) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Februar 1976 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der in A/B geborene Kläger zog sich dort am 13. Mai 1949 im Alter von 16 Jahren bei seiner beruflichen Tätigkeit als Maschinist in einer Glashütte einen Bruch des rechten Fersenbeins zu. Nach seiner Umsiedlung in die Bundesrepublik Deutschland im Januar 1969 gewährte ihm die Beklagte durch Bescheid vom 10. Juni 1974 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH vom 31. Januar 1969 an; den Jahresarbeitsverdienst (JAV) für das Jahr vor dem Unfall stellte sie mit 2.340,- DM fest und errechnete daraus den aufgrund der Rentenanpassungsgesetze sich jeweils ergebenden höheren JAV.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) Mannheim hat die Beklagte in einem "Teil-Vergleich" als zusätzliche Unfallfolge eine erhebliche Bewegungsbehinderung im unteren Sprunggelenk anerkannt. Die Klage auf Gewährung einer Teilrente von mindestens 30 vH der Vollrente hat das SG durch Urteil vom 29. April 1975 abgewiesen. Mit der Berufung hat der Kläger zusätzlich die Feststellung weiterer, näher bezeichneter Gesundheitsstörungen als Unfallfolgen sowie die Berechnung der Rente nach einem höheren JAV "gemäß den für Jugendliche und Anlernlinge geltenden Sondervorschriften" begehrt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 25. Februar 1976) und zur Begründung ua ausgeführt: Soweit der Kläger erst im Berufungsverfahren geltend gemacht habe, der JAV sei zu niedrig bemessen, liege im vorliegenden Fall eine unzulässige Klageänderung vor, weil der angefochtene Bescheid der Beklagten hinsichtlich des JAV bindend geworden sei (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und für die Klageänderung kein Rechtsschutzinteresse bestehe. Mit der Klage habe der Kläger nur den Grad der MdE angefochten, nicht dagegen die davon zu trennende Festsetzung des JAV. Die Gesundheitsstörungen, deren Feststellung als Unfallfolge der Kläger begehre, seien zum Teil bereits berücksichtigt, im übrigen nicht erwiesen. Die MdE sei mit 20 vH zutreffend eingeschätzt worden.
Der Kläger hat die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung ua vorgetragen: Das LSG hätte auch hinsichtlich des JAV in der Sache entscheiden müssen, anstatt ein Prozeßurteil zu fällen. Durch Erhebung der Klage sei der angefochtene Bescheid insgesamt streitbefangen, da die Anfechtung nicht ausdrücklich auf einzelne Streitpunkte beschränkt worden sei. Darüber hinaus habe das Berufungsgericht die Anspruchsvoraussetzungen in demselben Umfang wie das erstinstanzliche Gericht zu prüfen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 25. Februar 1976 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision, falls nicht statthaft, zu verwerfen, sonst sie zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und regt hilfsweise an, das Urteil des LSG teilweise aufzuheben und nur zur Entscheidung über den JAV zurückzuverweisen.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).
Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Die Berufung ist zulässig. Sie betrifft nicht eine vorläufige Rente (§ 145 Nr 2 SGG, § 1585 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), da die Verletztenrente mehr als zwei Jahre nach dem Unfall und damit - entgegen der Bezeichnung im angefochtenen Bescheid - als Dauerrente festgestellt worden ist (§ 1585 Abs 2, § 622 Abs 2 Satz 1 RVO). Es liegt auch ein Berufungsausschlußgrund nach § 145 Nr 4 SGG nicht vor; soweit die Berufung den Grad der MdE betrifft, hängt wegen des der Höhe nach unbeschränkten Antrags des Klägers ("mindestens" 30 vH) die Schwerbeschädigteneigenschaft davon ab.
Zu Recht macht der Kläger mit der Revision geltend, das LSG hätte auch über die Höhe des JAV eine Sachentscheidung treffen müssen.
Das LSG hat den erst nach Einlegung der Berufung zusätzlich gestellten Antrag des Klägers, ihm die Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 30 vH "unter Zugrundelegung eines höheren JAV" zu gewähren, als eine an sich auch im Berufungsverfahren gemäß §§ 153, 99 SGG zulässige Klageänderung mit Erweiterung des Klagegrundes gewertet, die Klageänderung gleichwohl jedoch als unzulässig erachtet, weil der Bescheid über die Gewährung einer Verletztenrente hinsichtlich der Festsetzung des JAV mit der rechtzeitig erhobenen Klage nicht angefochten und daher bindend geworden sei (§ 77 SGG); wie sich schon aus dem Antrag in der Klageschrift ergebe, habe der Kläger anfänglich nur den festgestellten Grad der unfallbedingten MdE beanstandet. Dieser Auffassung ist nicht zu folgen. Eine Klageänderung liegt nicht vor; der Kläger hat vielmehr insoweit, ohne den Klagegrund zu ändern, den Klageantrag in der Hauptsache lediglich erweitert (§ 99 Abs 3 Nr 2 SGG). Aus demselben Sachverhalt, aus dem der Kläger seinen Anspruch auf eine höhere Rente von Anfang an hergeleitet hat, erstrebt er eine höhere Rente auch mit der Begründung der Rentenberechnung hätte ein höherer JAV zugrundegelegt werden müssen. Darin liegt keine Änderung des Klagegrundes (s ua Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, RdNr 2 und 3 zu § 99). Der somit nach § 99 Abs 3 Nr 2 SGG zulässigen Erweiterung des Klageantrags steht nicht eine Bindungswirkung des angefochtenen Bescheides hinsichtlich der Festsetzung des JAV entgegen.
Im Bescheid vom 10. Juni 1974 über die Feststellung der Verletztenrente hat die Beklagte außer der Höhe der MdE ua auch den JAV festgesetzt; sie hat hierzu ausgeführt, gemäß § 563 RVO aF sei der Rentenberechnung das 52-fache des durchschnittlichen Wochenverdienstes eines vergleichbaren Beschäftigten zugrundegelegt; die Anlage - mit Bezeichnung der zwischenzeitlichen Erhöhungen, zuletzt auf 10.745,25 DM - sei Bestandteil des Bescheides. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (SozR Nr 1 zu § 570 RVO), ist die Festsetzung des JAV als gesonderte Feststellung in einem Rentenbescheid der Bindungswirkung zugänglich, so daß die materielle Bestandskraft des Bescheides insoweit - zugunsten des Rentenberechtigten - für den Versicherungsträger grundsätzlich mit dem Erlaß des Verwaltungsakts, zu Ungunsten des Berechtigten mit der formellen Bestandskraft eintritt, wenn der gegen den Verwaltungsakt gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt wird (§ 77 SGG). Der Kläger hat aber mit einem am 18. Juni 1974 bei dem SG eingereichten Schriftsatz frist- und formgerecht (§§ 87 Abs 1, 90 SGG) Klage gegen den Bescheid erhoben. Weder in der Klageschrift noch in seinem weiteren Vorbringen hat er ausdrücklich erklärt, daß er mit seinem Begehren auf eine höhere Verletztenrente das Recht auf Nachprüfung und Änderung des Bescheides hinsichtlich der JAV-Festsetzung aufgeben und damit auf die Berechnung der Rente noch einen höheren JAV verzichten wolle. In der Klagebegründung hat er den erhobenen Anspruch (s § 123 SGG) auf eine höhere Rente, abgesehen von der Geltendmachung weiterer Unfallfolgen, zwar im wesentlichen darauf gestützt, die Beklagte habe die MdE zu niedrig festgesetzt; in dem Antrag, der in der mündlichen Verhandlung vor dem SG protokolliert worden ist, wird ebenfalls nicht der JAV, sondern nur die MdE angeführt. Auch daraus ist jedoch nicht auf den Willen des Klägers zu schließen, den im angefochtenen Bescheid festgesetzten JAV als zutreffend hinzunehmen und die Anfechtung durch Klage insoweit einzuschränken mit der Wirkung, daß der JAV nicht zu prüfen und deshalb bindend geworden ist (vgl hierzu BSG SozR Nr 10 zu § 78 SGG: ein Widerspruch ergreife im Zweifel alle Verfügungssätze des angefochtenen Verwaltungsakts, auch wenn der Betroffene sich in seiner Begründung nicht mit allen im angefochtenen Bescheid geregelten Ansprüchen befaßt habe; s auch BSG SozR Nr 1 zu § 514 Zivilprozeßordnung - ZPO -: ein - teilweiser - Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung sei nicht schon deshalb anzunehmen, weil die Versorgungsverwaltung den Antrag auf Änderung des angefochtenen Urteils in der Berufungsschrift zunächst auf einen abtrennbaren Teil des dem Kläger zugesprochenen Anspruchs beschränkt habe). Bei der Beurteilung der Frage, in welchem Umfang der Kläger den Bescheid der Beklagten angefochten hat, ist zu berücksichtigen, daß § 92 SGG nur eine Sollvorschrift ua zur Bezeichnung des Streitgegenstandes, der zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel sowie zu einer bestimmten Antragstellung enthält. Dieser im Unterscheid zu anderen Gerichtsbarkeiten, die insoweit Mußvorschriften enthalten, getroffenen Regelung liegt der Gedanke zugrunde, daß vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit häufig rechtsungewandte Personen klagen; durch ein Mindestmaß an formellen Vorschriften soll sichergestellt werden, daß ihre Klagen möglichst nicht aus formellen Gründen als unzulässig abgewiesen werden (vgl ua Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 242 h I, 242 f III). Es kann danach im Grundsatz davon ausgegangen werden, daß ein Kläger im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, von besonderen Fallgestaltungen abgesehen, alles verlangen will, was ihm bei dem gegebenen Sachverhalt nach dem Gesetz zusteht (s Brackmann, aaO S 242 f III). Dies ist jedenfalls auch hier nach der Lage des Falles anzunehmen, in dem der Kläger durch einen rechtskundigen Bevollmächtigten in den Tatsacheninstanzen nicht vertreten war.
Das LSG hätte mithin über den erweiterten Leistungsantrag des Klägers auf höhere Verletztenrente auch nach einem höheren JAV in der Sache entscheiden müssen. Da das Berufungsurteil insoweit keine tatsächlichen Feststellungen enthält, ist es gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Die von der Beklagten angeregte nur teilweise Aufhebung und Zurückverweisung hat der Senat für untunlich erachtet, zumal da nach der Art der Unfallfolgen eine zwischenzeitliche Änderung nicht auszuschließen ist.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen