Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 30.11.1994; Aktenzeichen L 4 V 29/93)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. November 1994 aufgehoben.

Die Rechtssache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über die Erhöhung des Berufsschadensausgleichs (BSchA).

Der 1920 geborene kriegsbeschädigte Kläger war nach dem Zweiten Juristischen Staatsexamen zunächst als Jurist im Angestelltenverhältnis und dann ab Juni 1960 als selbständiger Rechtsanwalt tätig. Nachdem er Anfang 1976 einen Herzinfarkt erlitten hatte, wurde seine Kanzlei bis zur Übergabe an einen Nachfolger im April 1978 von einem amtlich bestellten Vertreter geführt. Von da an bezog der Kläger Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Angestelltenversicherung, seit Vollendung des 65. Lebensjahres bezieht er Altersruhegeld und seit Mai 1988 außerdem eine berufsständische Zusatzrente.

Bei dem Kläger ist seit November 1976 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 90 vH und unter Berücksichtigung besonderen beruflichen Betroffenseins um 100 vH anerkannt. Bis dahin betrug die MdE 30 vH. Die Versorgungsverwaltung gewährte dem Kläger seit 1. November 1976 auch BSchA (Bescheid vom 5. November 1987, Teilabhilfebescheid vom 21. August 1991, Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 1992). Vergleichseinkommen ist danach das Gehalt nach Besoldungsgruppe A 16 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG). Als derzeitiges Bruttoeinkommen stellt der Beklagte dem Vergleichseinkommen die tatsächlich vom Kläger erzielten Alterseinkünfte, den Wert der eigenen Arbeitsleistung und außerdem Einnahmen aus Hausbesitz gegenüber, ohne letztere um Verlustzuweisungen auf eine Beteiligung als Kommanditist zu vermindern. Einnahmen aus Hausbesitz fingiert der Beklagte, seit der Kläger das Grundeigentum 1987 unentgeltlich auf seinen Sohn übertragen hat.

Der Kläger hat geltend gemacht, daß weder der Wert der eigenen Arbeitsleistung noch ab 1987 Einnahmen aus Hausbesitz anzurechnen und daß letztere jedenfalls um Verlustzuweisungen auf die Beteiligung als Kommanditist zu vermindern seien.

Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 6. November 1992; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 30. November 1994). Nach Auffassung des LSG sind die in den ersten Jahren nach dem 1976 erlittenen Herzinfarkt noch aus der Anwaltskanzlei zugeflossenen Einkünfte jedenfalls als Einkommen aus früherer selbständiger Tätigkeit zu berücksichtigen. Über sein Grundeigentum habe der Kläger 1987 ohne verständigen Grund verfügt. Deshalb seien von da an fiktive Einnahmen anzurechnen, die auch nicht mit Verlusten aus Abschreibungsgesellschaften ausgeglichen werden dürften.

Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Das LSG habe § 30 Abs 3 ff Bundesversorgungsgesetz (BVG) und § 9 Abs 2 Nr 3 Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) verletzt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. November 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 6. November 1992 sowie den Bescheid vom 5. November 1987 und den Teilabhilfebescheid vom 21. August 1991 idF des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 1992 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger einen höheren Berufsschadensausgleich zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er meint, daß die Frage nach der Zulässigkeit eines Verlustausgleichs bei Berechnung des BSchA, deretwegen das LSG die Revision zugelassen habe, möglicherweise wegen der am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Vorschrift des § 9 Abs 8 BSchAV dahingestellt bleiben könne. Nach dieser hier noch nicht berücksichtigten Vorschrift sei Selbständigen ein fiktives Alterseinkommen anzurechnen, wenn ihre tatsächlichen Alterseinkünfte hinter einer durchschnittlichen Altersversorgung zurückblieben.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist iS der Zurückverweisung begründet. Der Kläger hätte nur dann Anspruch auf höheren als den vom Beklagten bewilligten und gezahlten BSchA, wenn ihm überhaupt BSchA zustände. Schon das ist für die Zeit nach Vollendung des 65. Lebensjahres zweifelhaft, läßt sich nach den vom LSG getroffenen Feststellungen aber ebensowenig abschließend entscheiden wie die Frage, ob der Beklagte einen etwaigen Anspruch auf BSchA zu niedrig berechnet hat.

Nach § 30 Abs 3 und 4 Satz 1 BVG hat ein rentenberechtigter Beschädigter, dessen Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch Schädigungsfolgen gemindert ist, einen Anspruch auf BSchA, wobei der Einkommensverlust sich aus dem Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen und dem höheren Vergleichseinkommen ergibt. Vergleichseinkommen ist hier nach der von dem Beklagten vorgenommenen Einstufung das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 16 BBesG einschließlich Ortszuschlag nach Stufe 2. Nach Vollendung des 65. Lebensjahres des Klägers ist das Vergleichseinkommen auf 75 % abzusenken (§ 8 Abs 1 Nr 1 BSchAV). Das derzeitige Bruttoeinkommen eines Beschädigten ist entweder sein nachgewiesenes Einkommen oder – insbesondere bei Selbständigen – ein fiktiver Betrag. Auf das tatsächliche Einkommen ist nur bei abhängig Beschäftigten abzustellen. Bei Selbständigen bemißt sich der BSchA nach der Rechtsprechung des Senats (vgl BSGE 64, 283 = SozR 3100 § 30 Nr 76) nicht nach der Differenz zwischen dem, was der Beschädigte als Gesunder wahrscheinlich verdienen würde, und dem, was er als beschädigter Selbständiger tatsächlich verdient. Maßgebend ist vielmehr, wie er seine Arbeitskraft als Unselbständiger auf dem Arbeitsmarkt verwerten könnte – einerseits als Gesunder, andererseits als Beschädigter. Das folgt aus §§ 5 und 9 Abs 1 Nr 2 BSchAV iVm § 30 BVG und gilt nicht nur dann, wenn ein Selbständiger noch erwerbstätig ist, sondern auch in dem Fall, daß er aus dem Berufsleben ausscheidet und Rente bezieht. Auch dann wird nicht das tatsächlich erzielte Alterseinkommen dem Vergleichseinkommen gegenübergestellt, sondern ein fiktives Alterseinkommen, welches der Beschädigte als Unselbständiger bei Ausnutzung seiner Arbeitskraft erreicht hätte. Denn es ist nicht Sinn des BSchA bei Selbständigen, eine trotz der Schädigung mögliche, aber unterlassene Altersvorsorge durch entsprechend höhere Versorgungsleistungen auszugleichen (BSGE 64, 283 = SozR 3100 § 30 Nr 76 und Nr 77 und zuletzt: SozR 3-3642 § 9 Nr 3; SozR 3-3100 § 48 Nr 8).

Das LSG hat zwar die erstgenannten Entscheidungen des Senats zustimmend zitiert. Es hat die angefochtenen Bescheide aber nicht an diesem Maßstab geprüft, sondern für rechtmäßig gehalten, weil der Beklagte den schädigungsbedingten Einkommensverlust aus der Differenz zwischen den tatsächlich vom Kläger erzielten, in ihrer Höhe jetzt streitigen Einkünften als derzeitigem Bruttoeinkommen und dem höheren Vergleichseinkommen habe errechnen dürfen. Das LSG hätte statt dessen ohne Rücksicht auf tatsächliches Einkommen des Klägers einen fiktiven Wert für das derzeitige Bruttoeinkommen ermitteln und feststellen müssen, ob danach ein schädigungsbedingter Einkommensverlust besteht, der durch den BSchA in bereits bewilligter Höhe noch nicht ausgeglichen ist.

Im einzelnen gilt folgendes: Seit seinem – Anfang 1976 erlittenen – Herzinfarkt verfügte der Kläger nach den Feststellungen des LSG schädigungsbedingt über kein auf dem Arbeitsmarkt verwertbares Leistungsvermögen mehr. Deshalb hatte er bereits zu Beginn des hier streitigen Zeitraums auch kein fiktives Einkommen als unselbständig Beschäftigter. Als derzeitiges Bruttoeinkommen ist ihm aber dasjenige anzurechnen, was er an Invaliditätsversorgung erhalten hätte, wäre er bis Anfang 1976 unselbständig beschäftigt gewesen. Denn durch BSchA sollen lediglich schädigungsbedingte Einkommensverluste ausgeglichen, nicht aber Versorgungslücken bei Selbständigen geschlossen werden, die eine angemessene und ihnen mögliche Alters- und Invaliditätsvorsorge unterlassen haben. Bei Ausnutzung seiner Arbeitskraft als Unselbständiger hätte der Kläger bis zu dem 1976 erlittenen Herzinfarkt ein Arbeitseinkommen in Höhe seines Vergleichseinkommens (Besoldungsgruppe A 16) erzielt. Sein Berufserfolg als Rechtsanwalt, dem durch die auf die Besoldungsgruppe A 15 begrenzte Regeleinstufung nicht ausreichend Rechnung getragen werden konnte (§ 6 Abs 3 BSchAV), zwingt zu der Annahme, daß der Kläger auch als Jurist im öffentlichen Dienst hätte tätig werden können und dort jedenfalls zum Leitenden Regierungsdirektor (Besoldungsgruppe A 16) aufgestiegen wäre. Das LSG wird jetzt festzustellen haben, welche Altersversorgung der Kläger erhalten hätte, wenn er 1976 im Alter von 56 Jahren wegen Dienstunfähigkeit als Beamter pensioniert worden wäre. Dafür ist zu ermitteln, welche ruhegehaltsfähige Dienstzeit er nach den damals geltenden Vorschriften des Beamtenversorgungsrechts unter Berücksichtigung von Kriegsdienst, Studium, Referendarzeit und einer daran anschließenden Tätigkeit als Beamter des höheren Dienstes zurückgelegt und welches Ruhegehalt er danach erreicht hätte. Die Differenz zwischen diesem Ruhegehalt zuzüglich der Ausgleichsrente (§ 30 Abs 4 Satz 1 BVG) und den vollen Bezügen nach Besoldungsgruppe A 16 ist der schädigungsbedingte Einkommensverlust.

Für die Zeit nach Vollendung des 65. Lebensjahres ist das Vergleichseinkommen nach § 8 Abs 1 Nr 1 BSchAV auf 75 % der Besoldungsgruppe A 16 abzusenken. Sollte der Kläger nach den vom LSG noch zu treffenden Feststellungen als Beamter trotz Dienstunfähigkeit bereits mit 56 Jahren das höchstmögliche Ruhegehalt von 75 % der Besoldungsgruppe A 16 erreicht haben, so schiede bei diesem fiktiven Alterseinkommen BSchA ab Vollendung des 65. Lebensjahres von vornherein aus. Sollte das fiktive Ruhegehalt zuzüglich der Ausgleichsrente hinter dem Betrag von 75 % nach Besoldungsgruppe A 16 zurückbleiben, so wäre die Differenz der ausgleichsfähige Einkommensverlust.

Anders als vom Beklagten angenommen ist der BSchA hier nicht nach der bisher unbeachtet gebliebenen Neufassung des § 9 BSchAV zu berechnen. Der Verordnungsgeber hat § 9 BSchAV mit Wirkung vom 1. Juli 1990 um einen Abs 8 ergänzt (BGBl 1991, I S 136). Mit dieser Vorschrift sollte die Rechtsprechung des Senats zur unterlassenen Altersversorgung bei Selbständigen (vgl BSGE 64, 283 = SozR 3100 § 30 Nr 76 und Nr 77) berücksichtigt werden (vgl die Motive des Verordnungsgebers in BR-Drucks 719/90, S 21 f). Ungeachtet der gegen diese Regelung bestehenden schwerwiegenden Bedenken (vgl das unveröffentlichte Senatsurteil vom 29. September 1993 – 9/9a RV 33/92 – und BSG SozR 3-3642 § 9 Nr 3) gelten nach § 9 Abs 8 Satz 6 BSchAV die Sätze 1 bis 5 dieser Vorschriften nicht, wenn der BSchA für den Monat Juni 1990 bereits unter Anwendung des tatsächlich erzielten Bruttoeinkommens festgestellt war. Danach sollen die Nachteile der Neuregelung solche Versorgungsberechtigten nicht treffen, denen gegenüber die Versorgungsverwaltung sich bereits durch einen Bewilligungsbescheid auf der Grundlage der bis dahin geübten Verwaltungspraxis gebunden hatte. So liegt es hier. Der Beklagte hat den BSchA des Klägers bereits mit dem jetzt lediglich wegen der Höhe der Leistung angefochtenen Bescheid vom 5. November 1987 für die Zeit ab 1. November 1976 festgestellt und dabei die – in ihrer Höhe unter den Beteiligten streitigen – tatsächlich erzielten Alterseinkünfte des Klägers als derzeitiges Bruttoeinkommen berücksichtigt.

Das LSG wird auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174937

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