Entscheidungsstichwort (Thema)
Bescheid über Vorschußgewährung
Leitsatz (amtlich)
Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, daß ein Rentenversicherungsträger, der einem Versicherten aus dem Tuberkuloseversorgungswerk Geldleistungen gewährt, diese selbst durch eine bereits im voraus abgegebene Erklärung nicht - für den Fall später rückwirkend gewährter Invalidenrente - in Rentenvorschüsse umwandeln kann, wenn der Versicherte einen Antrag auf Gewährung eines Rentenvorschusses weder ausdrücklich noch stillschweigend gestellt hat.
Leitsatz (redaktionell)
Mitwirkungsbedürftige Verwaltungsakte auf Rechtsgebieten, in denen die Verwaltung grundsätzlich nur auf Antrag tätig wird, sind nichtig, wenn es an der Mitwirkung des Gewaltunterworfenen mangelt.
Normenkette
RVO § 1309 Fassung: 1934-05-17, § 1252 Fassung: 1934-05-17, § 1311 Fassung: 1934-05-17
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 1959 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts in Dortmund vom 15. Januar 1959 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Kläger wurde in der Zeit vom 9. August 1952 bis zum 31. Oktober 1953 wegen einer Lungentuberkulose (Tbc) von der Zentralstelle für Tbc-Hilfe in M... auf Kosten der Beklagten betreut. Vom 9. August 1952 bis zum 28. Januar 1953 war er in einer Lungenklinik untergebracht. Anschließend erhielt er - abgesehen von der Zeit vom 1. April 1953 bis zum 23. Juni 1953, während welcher er Arbeitslosenunterstützung (Alu) bezog - bis zum 31. Oktober 1953 wirtschaftliche Tbc-Hilfe in Höhe von monatlich 146,70 DM.
Am 29. November 1952 hatte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung der Invalidenrente beantragt. Da der Kläger sich weigerte, eine Rentenabtretungserklärung zu unterzeichnen, teilte ihm die Stadtverwaltung W... als örtliche Beauftragte der Zentralstelle für Tbc-Hilfe durch Schreiben vom 26. Juni 1953 mit, daß die Leistungen der wirtschaftlichen Tbc-Hilfe nur vorschußweise auf die zu erwartenden Renten gewährt würden.
Durch Bescheid vom 29. September 1953 gewährte die Beklagte die beantragte Invalidenrente vom 1. Dezember 1952 an in Höhe von 100,50 DM mit der Einschränkung, daß sie wegen der Gewährung stationärer Heilbehandlung erst vom 29. Januar 1953 an gezahlt werde; der für die Zeit vom 29. Januar 1953 bis zum 31. Oktober 1953 errechnete Nachzahlungsbetrag in Höhe von 914,50 DM werde allerdings "zur Befriedigung eines etwaigen Ersatzanspruchs anderer Stellen zunächst einbehalten". Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 12. Oktober 1942 Klage. Am 21. November 1953 zahlte die Beklagte von dem einbehaltenen Betrag an den Kläger 267,30 DM und an die Zentralstelle für Tbc-Hilfe 647,20 DM. Der Kläger erhielt am 21. November 1953 eine formlose Mitteilung von dieser letzteren Überweisung, die damit begründet wurde, daß die Tbc-Hilfe als Vorauszahlung auf die Invalidenrente anzusehen sei. Die Zentralstelle für Tbc-Hilfe zahlte ihrerseits von den ihr von der Beklagten überwiesenen 647,20 DM einen weiteren Teilbetrag von 245,- DM an den Kläger aus. Endgültig einbehalten blieb also nur noch der Rentenzahlbetrag, der für die Zeit nach der Erklärung der Stadtverwaltung W... vom 26. Juni 1953 fällig war. Die Auszahlung dieses Betrages in Höhe von 402,- DM begehrt der Kläger nun noch mit seiner Klage.
Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Beklagte durch Urteil vom 15. Januar 1959 dem Klageantrag entsprechend und ließ die Berufung zu.
Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 5. Mai 1959 das Urteil des SG auf, wies die Klage ab und ließ die Revision zu. Es vertritt den Standpunkt, daß die Beklagte berechtigt sei, den streitigen Betrag als Vorschuß auf die Invalidenrente anzusehen, so daß der erhobene Anspruch unbegründet sei.
Gegen dieses ihm am 2. Juni 1959 zugestellte Urteil hat der Kläger durch Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 31. Juni 1959, eingegangen am 1. Juli 1959, Revision eingelegt und hat diese durch Schriftsatz seines Prozeßbevollmächtigten vom 24. Juli 1959, eingegangen am 27. Juli 1959, begründet. Er ist der Auffassung, daß wirtschaftliche Tbc-Hilfe auch dann nicht als Vorschußzahlung auf eine rückwirkend gewährte Invalidenrente behandelt werden dürfe, wenn der Versicherte vor Zahlung der wirtschaftlichen Tbc-Hilfe hierauf hingewiesen worden sei.
Er beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen in Essen vom 5. Mai 1959 aufzuheben, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG in Dortmund vom 15. Januar 1959 zurückzuweisen und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Nach § 1309 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF sei sie berechtigt gewesen, die seit dem 26. Juni 1953 gezahlten Beträge auf die Invalidenrente anzurechnen. Diese Beträge seien Vorschüsse auf die Invalidenrente, wie dem Kläger durch Schreiben der Stadtverwaltung W... eröffnet worden sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da das LSG sie zugelassen hat, ist sie auch statthaft. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht. Es konnte ihr auch der Erfolg nicht versagt bleiben.
Im Streit befangen ist nur noch der für die Zeit vom 26. Juni bis zum 31. Oktober 1953, also für die Zeit seit der Erklärung der Stadtverwaltung W... über den Vorschußcharakter der Zahlungen fällige Rentenzahlbetrag in Höhe von 402,- DM. Da der Invalidenrentenanspruch auch für diese Zeit im Grundsatz nicht zweifelhaft ist, könnte die Beklagte die Auszahlung dieses Betrages nur dann verweigern, wenn sie bereits einen entsprechenden Vorschuß gezahlt hätte, wenn sie gegen ihn aufrechnen könnte, wenn der Kläger auf ihn verzichtet, ihn abgetreten oder ihn verpfändet hätte, wenn der Anspruch gepfändet wäre oder wenn ein Dritter einen Ersatz- oder Erstattungsanspruch hätte. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Insbesondere hat die Beklagte entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts keinen entsprechenden Rentenvorschuß gezahlt. Durch die Erklärung der Stadtverwaltung W... vom 26. Juni 1953 wurde die bis dahin unbedingt gewährte in eine nur noch auflösend bedingt gewährte wirtschaftliche Tbc-Hilfe umgewandelt. Als auflösende Bedingung wurde die rückwirkende Gewährung der Invalidenrente gesetzt. Gleichzeitig wurde unter der aufschiebenden Bedingung rückwirkend gewährter Invalidenrente ein Vorschuß auf die Invalidenrente gewährt. Es kann dahingestellt bleiben, ob eine nur bedingt gewährte wirtschaftliche Tbc-Hilfe gesetzlich zulässig ist, besonders wenn sie, wie hier, zunächst unbedingt gewährt worden ist, jedenfalls ist die in diesem Schreiben enthaltene Gewährung eines Vorschusses auf die Invalidenrente unzulässig.
Es ist schon zweifelhaft, ob die Stadtverwaltung W... überhaupt eine verbindliche Erklärung über die Gewährung eines Vorschusses auf die Invalidenrente abgeben konnte. Wenn sie auch örtliche Beauftragte der Zentralstelle für die Tbc-Hilfe ist, so dürfte sie doch wohl kaum ermächtigt gewesen sein, für die Beklagte verbindliche Erklärungen über die Gewährung eines Rentenvorschusses abzugeben. Einer Entscheidung dieser Frage bedarf es jedoch nicht, da dieser Verwaltungsakt - als solcher stellt sich dieses Schreiben dar - nichtig ist, weil der Kläger den Rentenvorschuß nicht beantragt hat. Diesen Grundsatz hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 30. Juni 1960 (BSG 12, 265) ausgesprochen, von dem abzuweichen kein Anlaß besteht. Die von der Beklagten hiergegen erhobenen Einwände greifen nicht durch. Selbstverständlich "kann" der Versicherungsträger Vorschüsse auf eine Invalidenrente zahlen. Dies bedeutet aber lediglich, wie die Beklagte zu verkennen scheint, daß er gesetzlich hierzu ermächtigt ist. Einer gesetzlichen Ermächtigung, wie sie sich aus §§ 119, 1299 RVO ergibt, bedarf es, da der Versicherungsträger anderenfalls Leistungen nicht erbringen darf. Daraus ist aber nichts für die Entscheidung der Frage zu entnehmen, ob der Vorschuß auf Antrag oder ohne Antrag gewährt werden kann. Wie der erkennende Senat bereits in seinem oben angeführten Urteil ausgeführt hat, ist, da in der Rentenversicherung allgemein Zahlungen nur auf Antrag erfolgen, auch ein Rentenvorschuß nur auf Antrag zu gewähren, zumal es sich nicht nur um die Gewährung eines Vorteils für den Versicherten handelt, sondern damit gleichzeitig die Verpflichtung verbunden ist, diesen Vorschuß wieder zurückzuzahlen, falls die Rentengewährung später abgelehnt wird, wobei zu bedenken ist, daß es dem Versicherten oft schwer fallen wird, den inzwischen verbrauchten Betrag wieder aufzubringen. Zwar bedarf es keines ausdrücklichen Antrages. Ist ein Rentenantrag gestellt, so wird hierin in der Regel auch der Antrag auf Gewährung eines Vorschusses zu erblicken sein. Die Beklagte übersieht aber, daß dies nach allgemeinen Auslegungsregeln dann nicht angenommen werden kann, wenn der Versicherte ausdrücklich etwas Gegenteiliges erklärt oder dies aus den Umständen zu entnehmen ist. In dem vorliegenden Fall war aber klar erkennbar, daß der Kläger keinen Vorschuß haben wollte. Da er es ausdrücklich abgelehnt hat, eine die Invalidenrente betreffende Abtretungserklärung zu unterschreiben, war ersichtlich, daß er die Rente neben den bereits gewährten anderen Leistungen für denselben Zeitraum gleichzeitig begehrte. Dem aber hätte die Zahlung eines Rentenvorschusses entgegengestanden, da dann die Zahlung der wirtschaftlichen Tbc-Hilfe entfallen wäre.
Entgegen der Ansicht der Beklagten ist dieser Verwaltungsakt nicht nur anfechtbar, sondern nichtig. Bei einem Feststellungsbescheid, durch welchen eine Rente aus der Rentenversicherung gewährt wird, handelt es sich um einen mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakt, wie bereits in dem oben angeführten Urteil des erkennenden Senats ausgeführt ist. Dies gilt ebenso für Verwaltungsakte, durch welche ein Vorschuß auf eine solche Rente gewährt wird, da auch Vorschüsse nur auf Antrag zu gewähren sind. Nach den im allgemeinen Verwaltungsrecht geltenden Grundsätzen aber sind mitwirkungsbedürftige Verwaltungsakte auf Rechtsgebieten, in denen die Verwaltung grundsätzlich nur auf Antrag tätig wird, nichtig und nicht nur anfechtbar, wenn es an der Mitwirkung des Gewaltunterworfenen mangelt (vgl. die in dem o.a. Urteil gegebenen Hinweise). Da es sich bei der Rentenversicherung um ein solches Rechtsgebiet handelt, hatte der erkennende Senat keine Bedenken, diesen Grundsatz auch in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuwenden. Richtig ist, daß dieser Grundsatz im allgemeinen Verwaltungsrecht für andersartige Verwaltungsakte, wie zB für Beamtenernennungen, Einbürgerungen, Konzessionserteilungen, Gewährungen u.ä., entwickelt worden ist. Es bestehen aber keine Bedenken, diesen Grundsatz auch auf leistungsgewährende Verwaltungsakte anzuwenden, da die Interessenlage hier nicht anders zu beurteilen ist. Auch durch Verwaltungsakte dieser Art wird die Rechtsstellung des Gewaltunterworfenen nicht nur verbessert, sondern erfährt auch eine Einschränkung, da durch eine Rentengewährung vielfach das Versicherungsverhältnis abgeschlossen und der Versicherte damit an der weiteren Entrichtung von Beiträgen, die später zu einem höheren Rentenzahlbetrag führen würden, gehindert wird. Für Verwaltungsakte, durch die ein Rentenvorschuß gewährt wird, kann aber, da es sich im Grundsatz um eine vorläufige Rentenzahlung handelt, nichts anderes gelten, zumal auch in diesem Falle der Versicherte nicht nur begünstigt, sondern, wie bereits nachgewiesen, u.U. auch belastet wird.
Ob dieser Verwaltungsakt auch nichtig ist soweit er die wirtschaftliche Tbc-Hilfe betrifft, bedarf hier keiner Untersuchung. Denn selbst wenn dies der Fall wäre, würde sich allenfalls ergeben, daß die wirtschaftliche Tbc-Hilfe weiterhin unbedingt gewährt wird. Ob die Gewährung wirtschaftlicher Tbc-Hilfe überhaupt an Bedingungen geknüpft werden darf, bedarf ebenfalls keiner Untersuchung, da dies für die hier allein entscheidende Frage, ob wirksam ein Rentenvorschuß gewährt worden ist, ohne Bedeutung ist.
Auch sonstige Gründe, die die Beklagte zur Verweigerung der Auszahlung dieses Rentenzahlbetrages berechtigen könnten, sind nicht gegeben. Weder hat der Kläger auf diesen Anspruch verzichtet, noch hat er ihn abgetreten, noch hat er ihn verpfändet, noch ist der Anspruch gepfändet worden. Auch kann die Beklagte nicht gegen diesen Anspruch des Klägers aufrechnen, wie bereits in dem Urteil des erkennenden Senats vom 24. Oktober 1957 (BSG 6, 61 ff), auf das im einzelnen verwiesen werden kann, entschieden worden ist. Ebenfalls ist in diesem Urteil bereits entschieden, daß ein Ersatz- oder Erstattungsanspruch Dritter nicht besteht. Auch insoweit kann auf dieses Urteil verwiesen werden.
Das angefochtene Urteil mußte, da die Klage und damit auch die Revision begründet ist, aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG in Dortmund vom 15. Januar 1959 zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen