Entscheidungsstichwort (Thema)
Gutachtenauswertung. Sachaufklärung. Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Wertet das Gericht die medizinischen Gutachten nicht hinreichend auf Anhaltspunkte für die Bemessung der MdE aus oder verschafft es sich keine medizinischen Unterlagen, die die Feststellung der MdE ermöglichen, so verletzt es die §§ 103 und 128 SGG.
Normenkette
SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 10.02.1961) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. Februar 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
I
Gründe
Das Versorgungsamt (VersorgA) I Berlin stellte mit Bescheid vom 10. Juni 1952 bei dem Ehemann der Klägerin, Otto F... (F.),
"1. Inaktive Oberlappentuberkulose links,
2. Myocardschaden mit Coronarsklerose,
3. Narben am Rücken
als durch schädigende Einwirkungen des Wehrdienstes zu 1. und 3. hervorgerufen, zu 2. verschlimmert"
fest; es bewilligte F. eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 v.H. In dem Bescheid ist noch vermerkt: "Die allgemeine Arteriosklerose ist nicht als Versorgungsleiden festzustellen, da es sich insoweit um eine schicksalsmäßige Alterserkrankung handelt". Mit dem Einspruch machte F. geltend, er sei erwerbsunfähig, dies sei die Folge seines KZ-Aufenthalts von Juni 1945 bis 1948. Den Einspruch wies das Landesversorgungsamt (LVersorgA) Berlin mit Bescheid vom 15. Juli 1953 zurück. F. erhob Klage beim Sozialgericht (SG). Er starb am 6. Dezember 1954 an einem Schlaganfall mit Kreislaufversagen. Die Klägerin, die Ehefrau und Rechtsnachfolgerin des F., setzte den Rechtsstreit fort.
Das SG Berlin entschied mit Urteil vom 28. November 1956: "Unter Abänderung des Bescheides vom 10. Juni 1952 und unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Juli 1953 wird der Beklagte verurteilt, als weitere Versorgungsleiden Wesensänderung, Hirnleistungsschwäche, zentrale Regulierungsstörungen und vegetative Störungen anzuerkennen und die hierdurch sowie durch die bereits anerkannten Versorgungsleiden bedingte Gesamtminderung der Erwerbsfähigkeit auf 80 v.H. ab 1. Juli 1950 festzusetzen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen." Das SG führte aus, nach dem Gutachten des Chefarztes der Abteilung für Hirnverletzte im Waldkrankenhaus Berlin-Spandau, Dr. I... sei anzunehmen, daß bei F. ein gehirnastrophischer Prozeß mit Wesensänderung und Hirnleistungsschwäche bestanden habe, dieser Prozeß hänge mit der langen Dystrophie, die F. im KZ durchgemacht habe, zusammen; die MdE wegen dieser Schädigungsfolge betrage. 50 v.H.; die Gesamt-MdE sei mit Rücksicht darauf, daß F. durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem Beruf als Bauleiter besonders betroffen worden sei, mit 80 v.H. zu bewerten.
Der Beklagte legte Berufung ein; er trug vor; bei F. habe keine hirnorganische Störung durch Dystrophie vorgelegen, das Fortschreiten des Leidens und die apoplektischen Insulte (Schlaganfälle) seien auf eine Arteriosklerose zurückzuführen. Das Landessozialgericht (LSG) holte mehrere ärztliche Gutachten ein. Prof. Dr. I... in Essen führte aus: "Es würde m. E. zu weit gehen, wenn man diesen körperlichen und hinzukommenden auch seelischen Faktoren der KZ-Zeit keine Bedeutung für die Frage der Entwicklung der Arteriosklerose beimessen wollte. Wenigstens im Sinne einer richtunggebenden Verschlimmerung könnte man einen solchen Zusammenhang nicht ohne weiteres ablehnen". Prof. Dr. H... in Münster vertrat die Auffassung, daß "die Arteriosklerose des F. durch die KZ-Haft wahrscheinlich richtunggebend verschlimmert worden ist", es habe sich dadurch eine erheblich über das dem Alter entsprechende Maß hinausgehende Arteriosklerose mit Cerebralsklerose entwickelt.
Der Beklagte überreichte ein Gutachten des Prof. Dr. P... in Bonn. Dr. P... vertrat die Auffassung, die Coronarsklerose und der daraus resultierende Myocardschaden seien keine Schädigungsfolgen, wenn man sie jedoch als Schädigungsfolge betrachte, weil man den seelischen und körperlichen Belastungen des F. im KZ als " pathogenische Faktoren" Bedeutung zumesse, so müsse man folgerichtig auch die allgemeine Arteriosklerose und die Cerebralsklerose, die bei F. bestanden haben, als Schädigungsfolgen im Sinne der Verschlimmerung anerkennen, dann sei die MdE des F. nicht mit 50 v.H., sondern mit 100 v.H. zu bewerten gewesen.
Die Klägerin beantragte, "im Wege der Anschlußberufung", das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, als weitere Schädigungsfolgen Arteriosklerose und cerebrale Sklerose im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen und F. eine Rente nach einer MdE von 100 v.H. ab 1. Juli 1950 zu gewähren.
Das LSG Berlin entschied mit Urteil vom 10. Februar 1961: "Auf die Berufung und Anschlußberufung wird das Urteil des SG Berlin vom 28. November 1956 dahin abgeändert: Der Beklagte wird verurteilt, bei dem verstorbenen Ehemann der Klägerin als weitere Schädigungsfolge eine allgemeine Arteriosklerose mit Cerebralsklerose im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen und der Klägerin vom 1. Juli 1950 bis 31. Dezember 1954 eine Rente nach einer MdE von 60 v.H. zu bewilligen. Im übrigen werden die Klage abgewiesen und die Berufung und Anschlußberufung zurückgewiesen."
Das LSG führte aus, eine "Gehirnatrophie nach lang dauernder Dystrophie" habe bei F. nicht vorgelegen; es habe sich vielmehr um eine fortgeschrittene Arteriosklerose mit Cerebralsklerose gehandelt. Die allgemeine Arteriosklerose und die Cerebralsklerose, die vor allem den Gesamtleidenszustand des F. bestimmt hätten, seien jedoch nur "im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung" Folge der körperlichen und seelischen Strapazen des F. während seiner KZ-Haft; die Gesamt-MdE wegen der Schädigungsfolgen sei daher mit 60 v.H. zu beurteilen.
Das Urteil des LSG wurde der Klägerin am 1. März 1961 zugestellt. Die Klägerin legte am 30. März 1961 Revision ein und beantragte,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. Februar 1961 insoweit abzuändern, als ihrem Ehemann nicht die Rente eines Erwerbsunfähigen zugesprochen worden sei,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin begründete die Revision am 2. Mai 1961:
Das LSG habe F. zu Unrecht nur eine Rente nach einer MdE von 60 v.H. zugesprochen; aus den ärztlichen Gutachten sei nicht zu entnehmen, daß die allgemeine Arteriosklerose und die Cerebralsklerose des F. nur Schädigungsfolgen "im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung" gewesen seien; die Ärzte hätten sich vielmehr überwiegend für eine "richtunggebende Verschlimmerung" ausgesprochen; sie hätten die MdE wegen der Schädigungsfolgen jedenfalls nicht nur mit 60 v.H. bewertet. Das LSG habe auch nicht berücksichtigt, daß die MdE des F. höher zu bewerten gewesen sei, weil F. durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem Beruf als Bauleiter besonders betroffen worden sei. Das LSG habe die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; die Klägerin rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln.
Das LSG hat festgestellt, bei F. habe keine "Gehirnatrophie nach langdauernder Dystrophie" bestanden, F. habe vielmehr an einer fortschreitenden allgemeinen Arteriosklerose mit Cerebralsklerose gelitten, dieses Leiden habe seinen Zustand in den Jahren vor seinem Tod bestimmt, es sei auch für seinen Tod verantwortlich gewesen. Gegen diese Feststellung des LSG hat die Klägerin keine Verfahrensrügen erhoben, diese Feststellung ist daher nach § 163 SGG für das Bundessozialgericht (BSG) bindend. Auch soweit das LSG entschieden hat, die allgemeine Arteriosklerose mit Cerebralsklerose sei als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen, hat die Klägerin das Urteil des LSG nicht angegriffen. Streitig ist noch, ob F. wegen seiner durch den Bescheid vom 10. Juni 1952 als Schädigungsfolge festgestellten Gesundheitsstörungen "1. inaktive Oberlappentuberkulose links, 2. Myocardschaden mit Coronarsklerose (im Sinne der Verschlimmerung) 3. Narben am Rücken sowie wegen der "zusätzlich" vom LSG als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung festgestellten "allgemeinen Arteriosklerose mit Cerebralsklerose" die Rente eines Erwerbsunfähigen, jedenfalls aber eine höhere Rente als eine Rente nach einer MdE um 60 v.H. zugestanden hat. Hierbei ist es im wesentlichen darauf angekommen, mit welchem Grad der MdE der Verschlimmerungsanteil an der "Arteriosklerose mit Cerebralsklerose", die den Leidenszustand des F. bestimmt hat, zu bewerten gewesen ist. Das LSG hat F. eine Rente nach einer MdE von 60 v.H. zugesprochen; es hat dazu lediglich ausgeführt, die Anerkennung der Cerebralsklerose sei höchstens im Sinne einer "abgegrenzten Verschlimmerung" vertretbar, weil auch die Coronarsklerose nur im Sinne der abgegrenzten Verschlimmerung anerkannt worden sei, dies sei dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß eine durch Schädigungsfolgen bedingte Gesamt-MdE des F. um nur 60 v.H. und nicht, wie es dem Gesamtleidenszustand des F. entsprochen hätte, um 100 v.H. festzusetzen gewesen sei. Das LSG hat die Annahme, die MdE des F. wegen der Schädigungsfolge betrage 60 v.H., damit nur auf allgemeine Erwägungen gestützt, es hat nicht im einzelnen dargelegt und begründet, wie es zu diesem Ergebnis gekommen ist.
Das LSG hat sich nicht darauf berufen dürfen, daß der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid die Coronarsklerose nur "eingeschränkt" als Schädigungsfolge anerkannt hat, es hat vielmehr selbst feststellen müssen, in welchem Ausmaß die Verschlimmerung der "allgemeinen Arteriosklerose mit Coronarsklerose und Cerebralsklerose" durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG), insbesondere durch die KZ-Haft die Erwerbsfähigkeit des F. gemindert hat. Insoweit hat aber das LSG keine Feststellungen getroffen, aus denen sich ergibt, daß es den Verschlimmerungsanteil ausreichend bewertet hat. Auch die medizinischen Unterlagen, die das LSG herangezogen hat, vermögen die Schlußfolgerungen des LSG, die Schädigungsfolgen des F. seien insgesamt mit einer MdE von 60 v.H. zu bewerten, nicht zu stützen. Die ärztlichen Gutachter Prof. Dr. I... und Prof. Dr. H... haben angenommen, die Arteriosklerose (und damit auch die Cerebralsklerose) des F. hätten sich durch seelische und körperliche Einwirkungen der KZ-Haft "richtunggebend" verschlimmert. Das Gutachten des Prof. Dr. H... läßt - im Gegensatz zu der Annahme des LSG - keinen Zweifel darüber zu, daß Prof. Dr. H... die Auffassung vertreten hat, das auf konstitutioneller Grundlage entstandene Leiden des F. habe durch die KZ-Haft eine entscheidende Verschlimmerung erfahren, es habe sich nicht nur im zeitlichen, sondern auch im ursächlichen Zusammenhang mit der KZ-Haft bei F. "eine offensichtlich schwere und erheblich über das altersentsprechende Maß hinausgehende Arteriosklerose entwickelt". Das LSG hat zwar dem Gutachten des Prof. Dr. H... nicht folgen müssen, wenn es anderen medizinischen Unterlagen größeren Beweiswert hat zumessen dürfen; es hat aber jedenfalls das Gutachten des Prof. Dr. H... richtig und vollständig auswerten müssen, es hat diesem Gutachten, daß eine ausführlich begründete und auf den vorliegenden Einzelfall abgestellte medizinische Beurteilung enthält, auch nicht lediglich mit dem allgemeinen Hinweis begegnen dürfen, es sei ihm - dem LSG - bekannt, daß der Tod eines Mannes an Arteriosklerose im Alter von 61 Jahren durchaus keine Seltenheit sei. Prof. Dr. I... und Prof. Dr. H... haben zwar in ihren Gutachten den Grad der MdE für den Verschlimmerungsanteil nicht ausdrücklich bewertet; ihre Ausführungen lassen jedoch nicht den Schluß zu, daß sie den Verschlimmerungsanteil als wesentlich geringer geschätzt haben, als den Gesamtleidenszustand des F.; die Gutachten von Prof. Dr. I... und Prof. Dr. H... haben dem LSG jedenfalls keinen Anhalt dafür geboten, daß die Gesamt-MdE wegen der Schädigungsfolgen nur 60 v.H. betragen hat. Der Sachverständige Prof. Dr. P... hat es zwar - im Gegensatz zu Prof. Dr. I... und zu Prof.
Dr. H... - für nicht wahrscheinlich gehalten, daß die Arteriosklerose des F. durch KZ-Haft verschlimmert worden sei, er hat jedoch die Auffassung vertreten, wenn man die körperlichen und seelischen Belastungen im KZ als "pathogenetische Faktoren" für die Verschlimmerung einer Coronarsklerose betrachte, - wie es der Beklagte in dem Bescheid vom 10. Juni 1952 getan hat -, so müsse folgerichtig in gleicher Weise wie die Coronarsklerose auch die Cerebralsklerose als Schädigungsfolge angesehen werden, weil beide Gesundheitsstörungen nicht unabhängig nebeneinander bestanden hätten, sondern nur verschiedene Erscheinungsformen desselben Leidens, nämlich der allgemeinen Arteriosklerose, gewesen seien. Dem hat das LSG "grundsätzlich zugestimmt"; es hat deshalb auch die allgemeine Arteriosklerose und die Coronarsklerose als weitere Schädigungsfolgen im Sinne der Verschlimmerung "festgestellt"; es hat aber, soweit es die MdE des F. wegen der Schädigungsfolgen beurteilt hat, auch in den Gutachten des Prof. Dr. P... keine Stütze gehabt; Prof. Dr. P... hat - "ausgehend von dem Bescheid vom 10. Juni 1952, in dem die Widrigkeiten der KZ-Haft als pathogenetische Faktoren für die Verschlimmerung der Sklerose angesehen worden sind" - die MdE für die Leidensverschlimmerung auf 100 v.H. geschätzt. Das LSG hat danach die MdE des F. wegen der Leidensverschlimmerung und der anderen Schädigungsfolgen beurteilt, ohne die Tatsachen festgestellt zu haben, aus denen sich geeignete "Anhalte" für die Bewertung der MdE ergeben. Das LSG hat die vorhandenen medizinischen Unterlagen nach solchen "Anhalten" für die Bemessung der MdE auswerten müssen, oder es hat sich die medizinischen Unterlagen, denen es solche "Anhalte" hat entnehmen können, noch verschaffen müssen; da es dies nicht getan hat, hat es seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, nicht erfüllt und damit gegen § 103 SGG verstoßen; es hat auch § 128 SGG verletzt, weil es die ärztlichen Gutachten nur unzureichend und unvollständig ausgewertet hat und damit nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens gewürdigt hat. Das LSG hat auch insofern gegen die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verstoßen, als es nicht darauf eingegangen ist, ob F. wegen der Art der Schädigungsfolgen mit Rücksicht auf seinen Beruf als Bauleiter besonders betroffen gewesen ist und seine MdE deshalb nach § 30 Abs. 2 BVG höher zu bewerten gewesen ist. Das Vorbringen der Klägerin und das Urteil des SG, das die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BVG bejaht hat, haben das LSG veranlassen müssen, auch diese Frage zu erörtern und insoweit die rechtserheblichen Tatsachen festzustellen.
Die Klägerin hat die Verstöße des LSG gegen die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG in der nach § 164 Abs. 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; sie ist, da sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden ist, auch zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG bei weiterer Aufklärung des Sachverhalts und erschöpfender Würdigung der Beweise zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben; die Sache ist, da noch tatsächliche Feststellungen zu treffen sind, an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen