Leitsatz (amtlich)
Betrifft die Berufung eines Versicherten (Hinterbliebenen) bei ihrer Einlegung nicht nur Rente für abgelaufene Zeiträume (SGG § 146), so wird sie nicht dadurch unzulässig, daß der beklagte Versicherungsträger während des Berufungsverfahrens die Rente von einem Zeitpunkt an bewilligt, der vor Einlegung der Berufung liegt, und der Kläger daraufhin seinen Berufungsantrag entsprechend beschränkt.
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1958-06-25
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Mai 1976 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin, die geschiedene Ehefrau eines am 6. Juni 1971 gestorbenen Versicherten, beansprucht Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Das Sozialgericht hat die Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 3. Januar 1972 abgewiesen (Urteil vom 27. März 1973). Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte die Rente - aufgrund einer Neufassung der genannten Vorschrift durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 - mit Wirkung vom 1. Januar 1973 bewilligt (Anerkenntnis im Schriftsatz der Beklagten vom 20. September 1973 und Bescheid vom 11. Juni 1975). Daraufhin hat die Klägerin ihren Berufungsantrag auf die Gewährung von Rente für die Zeit vom 6. Juni 1971 bis zum 31. Dezember 1972 beschränkt.
Das Landessozialgericht (LSG) hat ihre Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 17. Mai 1976): Die Berufung sei zwar im Zeitpunkt ihrer Einlegung zulässig gewesen; schon damals habe aber ein Rentenanspruch der Klägerin - für einen vor Einlegung der Berufung beginnenden Zeitraum - bestanden, die Rente sei nur noch nicht festgestellt gewesen. Die Berufung habe deshalb allein Rente für "bereits abgelaufene Zeiträume" im Sinne des § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) betroffen.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und u.a. eine Verletzung des § 146 SGG gerügt: Die zur Zeit der Einlegung zulässige Berufung habe die Beklagte nicht dadurch unzulässig machen können, daß sie als Rechtsmittelgegnerin den Rentenanspruch später teilweise anerkannt habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung oder Änderung aller Vorentscheidungen die Beklagte zu verurteilen, Hinterbliebenenrente auch für die Zeit vom 6. Juni 1971 bis zum 31. Dezember 1972 zu gewähren.
Die Beklagte hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das LSG hätte ihre Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern hätte den noch streitigen Teil des Rentenanspruchs auf seine sachliche Berechtigung prüfen müssen; denn die Berufung der Klägerin betraf entgegen der Ansicht des LSG nicht "nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume" (§ 146 SGG).
Das LSG hatte zwar in seinem Urteil vom 17. Mai 1976 nur noch über Rente für einen abgelaufenen Zeitraum, nämlich die Zeit vom 6. Juni 1971 bis zum 31. Dezember 1972, zu entscheiden, nachdem die Klägerin ihren Berufungsantrag auf diese Zeit beschränkt hatte. Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels richtet sich jedoch, wie das Bundessozialgericht (BSG) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer oberster Bundesgerichte und der herrschenden Meinung im Schrifttum schon wiederholt ausgesprochen hat, grundsätzlich nicht nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts, sondern nach denen, die bei Einlegung des Rechtsmittels vorlagen (vgl. insbesondere SozR SGG § 146 Nrn. 6, 8, 9 und 12; Meyer-Ladewig, SGG, Vorbemerkungen vor § 143, Anm. 10; Peters/Sauter/Wolff, Kommentar zur SGb, 4. Aufl., 26. Nachtrag, § 143 SGG, Anm. 4, S. III/12 unten, a.A. Anm. 4 zu § 146, S. III/40 - 1 - in der Mitte, sofern es sich dort nicht um ein Formulierungsversehen handelt, wie der Hinweis auf SozR SGG § 146 Nr. 6 vermuten läßt).
Von diesem Grundsatz ist - trotz gewisser Bedenken - auch das LSG ausgegangen; es hat aber eine Ausnahme für den Fall angenommen, daß der vom Versicherungsträger während des Berufungsverfahrens teilweise anerkannte Rentenanspruch bereits vor Einlegung der Berufung entstanden ist, bei deren Einlegung also schon bestanden hat, vom Versicherungsträger nur noch nicht festgestellt war. Dieser Auffassung kann der erkennende Senat nicht folgen.
Allerdings macht auch die Rechtsprechung des BSG von dem genannten Grundsatz dann eine Ausnahme, wenn der Rechtsmittelkläger sein Rechtsmittel nach dessen Einlegung willkürlich so weit einschränkt, daß es nicht mehr den gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen entspricht (vgl. die in SozR a.a.O. abgedruckten Entscheidungen; ähnlich die Rechtsprechung der Zivilgerichte zu § 4 der Zivilprozeßordnung - ZPO -, vgl. Baumbach/Lauterbach, ZPO, 35. Aufl., § 4 Anm. 2). "Willkürlich" ist dabei eine spätere Einschränkung des Rechtsmittels dann, wenn für sie ein vernünftiger Grund nicht erkennbar ist oder aber von vornherein, d.h. schon im Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels, genügender Anlaß bestanden hat, das Rechtsmittel nur beschränkt einzulegen, so daß die erst nachträgliche Einschränkung "willkürlich" erscheint und unter Umständen sogar den Verdacht nahelegt, der Rechtsmittelkläger habe die Zulässigkeit des Rechtsmittels erschleichen wollen.
Von einem in diesem Sinne willkürlichen Verhalten der Klägerin kann indessen im vorliegenden Fall nicht die Rede sein. Auch wenn man mit dem LSG annimmt, daß für sie ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente schon vor Einlegung der Berufung entstanden ist - nämlich mit Wirkung vom 1. Januar 1973, mit dem die Neufassung des § 1265 RVO auch für früher eingetretene Versicherungsfälle in Kraft getreten ist (Art. 1 § 1 Nr. 14 i.V.m. Art. 6 § 8 RRG, Art. 2 § 19 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes i.d.F. des RRG) -, so hatte die Klägerin doch so lange keinen Anlaß, ihre Klage auf die Zeit vor dem 1. Januar 1973 zu beschränken, als ihr Rentenanspruch für die Zeit danach weder von der Beklagten anerkannt noch von einem Gericht festgestellt war. Daran ändert es nichts, daß das eine oder das andere hier schon vor Einlegung der Berufung hätte geschehen können (und vielleicht auch hätte geschehen sollen, da die Neufassung des § 1265 RVO auf dem RRG beruht, das bereits am 16. Oktober 1972 ausgefertigt und zwei Tage später verkündet worden ist). Im vorliegenden Fall hat nicht ein willkürliches Verhalten der Rechtsmittelklägerin zu einer Einschränkung des Streitstoffs im Berufungsverfahren geführt, sondern das Verhalten der Beklagten und Rechtsmittelgegnerin, die sich erst nach Einlegung der Berufung durch die Klägerin zur teilweisen Anerkennung des Rentenanspruchs entschlossen hat, obwohl sie dies schon während des erstinstanzlichen Verfahrens hätte tun können. Durch dieses Verhalten, dem die Klägerin dann mit einer entsprechenden Einschränkung ihres Berufungsantrages in sachgemäßer Weise Rechnung getragen hat, kann das Rechtsmittel der Klägerin nicht nachträglich unzulässig geworden sein.
Ist die Berufung somit trotz der späteren, durch das Anerkenntnis der Beklagten veranlaßten Beschränkung der Klage auf die Zeit vor dem 1. Januar 1973 zulässig geblieben, so hätte das LSG auch über den eingeschränkten Klagantrag sachlich entscheiden müssen. Dieses wird nunmehr nach Zurückverweisung des Rechtsstreits nachzuholen sein, Dabei wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben.
Fundstellen