Entscheidungsstichwort (Thema)

Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung. Kausalzusammenhang zwischen Berufskrankheit und Todesursache

 

Orientierungssatz

Nach RVO § 589 Abs 2 S 1 wird das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen entschädigungspflichtiger Berufskrankheit und Todesursache vermutet, wenn die Erwerbsfähigkeit des verstorbenen Versicherten durch bestimmte Berufskrankheiten (ua Silikose) um mindestens 50 vH gemindert war. Allerdings ist diese Vermutung nach RVO § 589 Abs 2 S 2 als widerlegt anzusehen, wenn offenkundig die Silikose nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes ist. Die Voraussetzungen für die Offenkundigkeit im Sinne dieser Vorschrift liegen dann vor wenn die Berufskrankheit mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten weder im medizinischen Sinne erheblich mitverursacht noch ihn um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat.

 

Normenkette

RVO § 589 Abs. 1, 2 Sätze 1-2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.01.1968)

SG Dortmund (Entscheidung vom 04.10.1966)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Januar 1968 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin bezog von der Beklagten wegen Silikose eine Unfallrente, die zuletzt seit dem 5. März 1957 60 v.H. der Vollrente betrug. Er starb am 20. April 1965. Eine Leichenöffnung ist nicht durchgeführt worden. In einer von der Beklagten eingeholten Stellungnahme der Berufsgenossenschaftlichen Krankenanstalten "B" in B vom 31. Mai 1965 wurde angenommen, der Ehemann der Klägerin sei an den Folgen eines metastasierenden Bronchialkarzinoms gestorben. Ein Zusammenhang der Berufskrankheit mit diesem Leiden sei nicht anzunehmen. Da das Bronchialkarzinom in seiner Bedeutung für den Tod ganz im Vordergrund gestanden habe, sei es offenkundig als allein wesentliche Todesursache anzusehen. Der Staatliche Gewerbearzt stimmte dieser Stellungnahme am 19. Juli 1965 zu. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12. August 1965 die Gewährung einer Witwenrente ab, weil es offenkundig sei, daß der Tod des Versicherten mit der Berufskrankheit nicht im ursächlichen Zusammenhang gestanden habe.

Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten des Facharztes für innere Medizin Prof. Dr. W vom 23. Mai 1966 eingeholt, das im wesentlichen zu dem Ergebnis kam, wahrscheinliche Todesursache sei ein Lungenkrebs, vermutlich ein Bronchialkarzinom. Es sei nicht wahrscheinlich, daß die Silikose wesentlich an dem Tod mitgewirkt habe. Jedoch sei die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß bei dem konkreten Todeseintritt die Silikose als Todesursache mitgewirkt habe. Das SG hat mit Urteil vom 4. Oktober 1966 - gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. W - den angefochtenen Bescheid vom 12. August 1965 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin die Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung ihres verstorbenen Mannes nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der Berufung angefochten. Das Landessozialgericht (LSG) hat ergänzende Stellungnahmen des Sachverständigen Prof. Dr. W vom 2. Juni 1967 und 11. September 1967 eingeholt. Mit Urteil vom 16. Januar 1968 hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, es sei nicht von ausschlaggebender Bedeutung, ob man den Begriff "offenkundig" in § 589 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) mit dem Begriff einer "an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" gleichsetze oder ihn dahin auslege, daß medizinisch "ernstlich ins Gewicht fallende Zweifel" am Nicht-bestehen von Zusammenhangsbeziehungen zwischen Silikose und Tod ausgeschlossen sein müßten. Im vorliegenden Falle lasse sich wegen letztlich nicht beseitigter Zweifel die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die Berufskrankheit am Tode des Ehemannes der Klägerin rechtlich wesentlich beteiligt gewesen sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe den Begriff der Offenkundigkeit in § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO verkannt; denn es sei nicht eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit, sondern lediglich zu fordern, daß keine ernsthaften Zweifel bestehen. Auch Prof. Dr. W habe es nicht für wahrscheinlich gehalten, daß die Silikose wesentlich an dem Tod mitgewirkt habe. Damit seien die Voraussetzungen für die Offenkundigkeit erfüllt. Dem stehe nicht entgegen, daß Prof. Dr. W die Möglichkeit der Mitwirkung nicht ganz von der Hand weisen konnte, denn mehr oder weniger bloß theoretische Möglichkeiten schlössen die Offenkundigkeit nicht aus. Der Sachverständige hätte die Einschränkung im übrigen auch nicht gemacht, wenn das Berufungsgericht in der Fragestellung der Beweisanordnung von der richtigen Auslegung des Begriffs der Offenkundigkeit ausgegangen wäre.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen LSG-Urteils (und des von diesem bestätigten Urteils der 25. Kammer des SG Dortmund - Kammer für bergbauliche Versicherung - vom 4. Oktober 1966 zu S 25 Kn 319/65) die Klage (gegen den wiederherzustellenden Bescheid der Beklagten vom 12. August 1965 zu Akten-Nr. 666,915/3) abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin hat in der Revisionsinstanz keinen ausdrücklichen Antrag gestellt. Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg; denn das LSG hat die Berufung der Beklagten im Ergebnis mit Recht zurückgewiesen und damit die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Hinterbliebenenrente an die Beklagte bestätigt.

Da die Erwerbsfähigkeit des verstorbenen Ehemannes der Klägerin durch die Silikose um mehr als 50 v.H. gemindert war, steht sein Tod nach § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO dem Tod durch Arbeitsausfall gleich. Der Senat hat bereits entschieden (BSG 28, 38), daß diese Vorschrift auch auf Fälle anzuwenden ist, in denen - wie hier - der Versicherte bereits vor dem 1. Juli 1963 an einer entschädigungspflichtigen Silikose mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 v.H. gelitten hat, wenn der Tod des Versicherten nach dem 30. Juni 1963 eingetreten ist. Das ist der Fall, denn der Versicherte ist am 20. April 1965 gestorben. Die in § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO enthaltene beschränkt widerlegbare Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Berufskrankheit und Tod ist nach § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO nur dann ausgeräumt, wenn offenkundig ist, daß der Tod mit der Berufskrankheit nicht im ursächlichen Zusammenhang steht. Nach dem bereits zitierten Urteil des Senats ist das Fehlen des ursächlichen Zusammenhangs dann offenkundig, wenn die Berufskrankheit mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit den Tod des Versicherten in medizinischem Sinne nicht erheblich mitverursacht und ihn mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht um wenigstens ein Jahr beschleunigt hat. Das LSG ist aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme davon ausgegangen, die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs sei wegen letztlich nicht beseitigter Zweifel nicht auszuschließen. Daran ist das Revisionsgericht nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden, denn die Beklagte hat dagegen keine begründeten Revisionsrügen vorgebracht. Die Beklagte macht zwar geltend, das LSG hätte keine ernsthaften Zweifel an dem Fehlen des Ursachenzusammenhangs haben dürfen. Damit greift sie die Beweiswürdigung des LSG an. Die Prüfung der Frage, ob ernsthafte Zweifel an dem Fehlen des Kausalzusammenhangs bestehen, gehört nicht dem Akt der Subsumtion der festgestellten Tatsachen unter das geltende Recht an, sondern dem der Subsumtion vorausgehenden Akt der Tatsachenermittlung und -feststellung. Sie beruht auf der Abwägung des vorliegenden Beweismaterials und vollzieht sich also im Bereich der dem Tatsachengericht vorgehaltenen freien richterlichen Beweiswürdigung. Die daraus folgende Überzeugungsbildung ist grundsätzlich allein Sache des Tatsachengerichts und kann auf entsprechende Rüge vom Revisionsgericht nur darauf nachgeprüft werden, ob sie verfahrensfehlerhaft zustandegekommen ist. Die Beklagte hat insoweit begründete Verfahrensrügen nicht erhoben. Wenn Prof. Dr. W es auch für wahrscheinlich gehalten hat, daß die Silikose am Tod des Ehemanns der Klägerin nicht wesentlich mitgewirkt hat, so konnte das LSG dennoch ernsthafte Zweifel an dem Fehlen des Kausalzusammenhangs haben, zumal der Sachverständige die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht ganz von der Hand gewiesen hat. Dabei brauchte das LSG die vom Sachverständigen eingeräumte Möglichkeit nicht als ganz entfernt liegend, d.h. rein theoretischer Art zu werten, denn eine solche Einschränkung hat der Sachverständige nicht gemacht. Es ist auch nicht erkennbar, daß der Sachverständige die Möglichkeit des Kausalzusammenhangs nicht eingeräumt hätte, wenn das LSG der Fragestellung seiner Beweisanordnungen die richtige Auslegung des § 589 Abs. 2 Satz 2 RVO zugrundegelegt hätte. Schon in seinem Gutachten vom 23. Mai 1966, dem die Beweisanordnungen des LSG nicht zugrundelagen, hat Prof. Dr. W unabhängig von der Rechtsansicht des LSG die Möglichkeit für nicht ausgeschlossen gehalten, daß für das aktuelle konkrete Todesereignis doch die Silikose mit eine Rolle gespielt haben könnte. Die in § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO aufgestellte Vermutung des Kausalzusammenhangs ist nach alledem nicht widerlegt; es muß also davon ausgegangen werden, daß der Versicherte an der Silikose gestorben ist. Der Klägerin steht daher nach § 589 Abs. 1 Nr. 3 RVO die Hinterbliebenenrente zu.

Die unbegründete Revision der Beklagten muß nach § 170 Abs. 1 SGG zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat konnte nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647945

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