Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit:

 

Orientierungssatz

Pauschale Verweisung - Bezeichnung, Konkretisierung und Prüfung von Verweisungstätigkeiten für Facharbeiter.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.02.1978; Aktenzeichen L 2 J 132/77)

SG Stade (Entscheidung vom 17.05.1977; Aktenzeichen S 5 J 249/76)

 

Tatbestand

I

Der 1926 geborene Kläger begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er war im erlernten Tischlerberuf bis 1975 beschäftigt. Seinen im März 1975 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 26. Mai 1975). Auch in den Vorinstanzen hatte der Kläger keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts -SG- Stade vom 17. Mai 1977 und des Landessozialgerichts -LSG- Niedersachsen vom 22. Februar 1978).

Das LSG hat ausgeführt: Der Kläger könne vollschichtig leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne Streß und Akkord sowie unter Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten und in Nachtschichten verrichten. Er werde zwar mit diesem Leistungsvermögen nicht mehr als Tischler arbeiten können, müsse sich aber auf die in der Auskunft des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen angeführten Tätigkeiten, in denen seine beruflichen Fachkenntnisse verwertbar oder die wie anerkannte Anlernberufe eingestuft seien, verweisen lassen. Im Hinblick auf die verhältnismäßig geringe Einschränkung des Leistungsvermögens bedürfe es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht der Erforschung und Benennung einer speziellen Verweisungstätigkeit. Es genüge die Überzeugung des Gerichts, daß es verschiedene zumutbare Tätigkeiten gebe, die der Kläger bei entsprechender Einsatzbereitschaft verrichten könne.

Mit der -vom Senat zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, die "pauschale" Verweisung sei unzulässig; es müsse an Hand der konkret zu bezeichnenden Tätigkeit festgestellt werden, ob diese seinem Leistungsvermögen entspreche und ihm zugemutet werden könne. Eine weitere Sachaufklärung hätte wahrscheinlich ergeben, daß er wegen seiner hypochondrisch-depressiven Verstimmung neurotischer Genese für keine der vom Landesarbeitsamt genannten Tätigkeiten geeignet sei.

Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. Mai 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit von April 1975 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG- ).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß. Die bisherigen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.

Das LSG hat zwar nicht ausdrücklich festgestellt, daß der - erlernte und bis 1975 ausgeübte - Tischlerberuf der "bisherige Beruf" iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) sei, es ist aber ersichtlich davon ausgegangen. Auch die Ausführung, der Kläger werde nicht mehr als Tischler arbeiten können, läßt sich als - unangegriffen gebliebene - Feststellung werten. Ob der Kläger berufsunfähig ist, hängt daher davon ab, welche seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten ihm "unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können" (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO). Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum "bisherigen Beruf" (Hauptberuf). Von ihm aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß zunächst der Hauptberuf ermittelt und - da die Verweisbarkeit von seiner Qualität abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden. Hierzu hat die Rechtsprechung des BSG ein nicht starr anzuwendendes Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe im wesentlichen in eine obere Gruppe (Leitberuf: Facharbeiter), eine mittlere Gruppe (Leitberuf: sonstiger Ausbildungsberuf) und die untere Gruppe der ungelernten Arbeiter unterteilt (zB BSGE 38, 153; 41, 129, 131); dabei darf grundsätzlich auf die nächstniedrigere Gruppe und unter bestimmten Voraussetzungen auf die untere Gruppe verwiesen werden (ua SozR 2200 § 1246 Nrn 17, 21).

Die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung, es bedürfe hier nicht der Erforschung und Benennung einer speziellen Verweisungstätigkeit, ist mit den vorgenannten Grundsätzen unvereinbar, denen zufolge gerade bei einem Facharbeiter die Verweisungsfrage individuell und konkret geprüft werden muß. Daran ändert auch nicht der Umstand, daß das Leistungsvermögen des Klägers nach der Ansicht des LSG "verhältnismäßig wenig eingeschränkt" sein mag. Eine konkrete Bezeichnungspflicht der in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeit(en) kann nur bei auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbaren Versicherten dann entfallen, wenn diese relativ leicht und unspezifisch in ihrem Leistungsvermögen gemindert sind, so daß das Vorhandensein geeigneter Tätigkeiten evident ist; dies gilt jedoch gerade nicht für Facharbeiter, die den erlernten Beruf nicht mehr ausüben können (vgl Urteil des Senats vom 19. April 1978 = SozR 2200 § 1246 Nr 30; Urteil des 5.Senats vom 15. Februar 1979 = SozR aaO Nr 38, wonach die für einen Facharbeiter in Erwägung gezogenen Verweisungstätigkeiten grundsätzlich konkret an Hand von tariflichen Lohngruppen in dem in BSGE 44, 288, 291 = SozR 2200 § 1246 Nr 23 aufgezeigten Umfang zu prüfen sind).

Seiner Bezeichnungspflicht, Konkretisierungspflicht und Prüfungspflicht ist das LSG auch nicht insofern nachgekommen, als es ausgeführt hat, der Kläger müsse sich auf die in der Auskunft des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen angeführten Tätigkeiten, in denen er seine beruflichen Fachkenntnisse verwerten könne oder die tariflich wie anerkannte Anlernberufe eingestuft seien, verweisen lassen. Eine derartige "pauschale" Verweisung ist ebenfalls unzureichend. Das LSG kann sich für seine gegenteilige Ansicht auch nicht mit Erfolg auf das Urteil des Senats vom 6. Februar 1976 - 4 RJ 125/75 - berufen. In mehreren Urteilen aus letzter Zeit (vom 20. Dezember 1978 - 4 RJ 23/78 -, 28. März 1979 - 4 RJ 11/78 - , 27. April 1979 - 4 RJ 60/78 -, 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 - und 30. August 1979 - 4 RJ 79/78 -) hat der Senat bereits dargelegt, mit dem urteil vom 6. Februar 1976 habe keine undifferenzierte, pauschale Verweisung ohne nähere Prüfung und substantiierte Feststellungen gebilligt werden sollen; die Gestaltung der jeweiligen Tätigkeiten sei zu unterschiedlich und dementsprechend verschieden hoch bewertet und entlohnt, als daß mit allgemeinen Formeln ein ganzer Komplex von Tätigkeiten als beruflich zumutbar bezeichnet, also die Verweisbarkeit bejaht und damit der Rentenanspruch verneint werden könnte (vgl auch Urteil des 5. Senats vom 15. Februar 1979 = SozR 2200 § 1246 Nr 38 mwN).

Die hiernach noch erforderlichen Ermittlungen und Feststellungen muß das Berufungsgericht nachholen. Dabei genügt es, wenn auch nur eine zumutbare Verweisungstätigkeit benannt und mit nachprüfbaren Feststellungen konkret geschildert wird (Urteil des Senats vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 - ), mag auch aus Praktikabilitätsgründen und Zweckmäßigkeitsgründen die Schilderung mehrerer solcher Tätigkeiten vorzuziehen sein. Neben der Zugehörigkeit der Verweisungstätigkeiten zum sonstigen Ausbildungsberuf oder der Gleichstellung mit diesem ist nach SozR 2200 § 1246 Nr 38 noch zu beachten, daß nur auf eine Tätigkeit verwiesen werden darf, die keine längere betriebliche Einweisungszeit und Einarbeitungszeit als drei Monate erfordert. Zumindest hierüber sagt die vom LSG erwähnte Stellungnahme des Landesarbeitsamtes nichts aus. Darüber hinaus wird noch zu prüfen sein, ob der Kläger der Einweisung und Einarbeitung in eine bestimmte neue Tätigkeit körperlich, geistig und psychisch gewachsen ist, wobei es allerdings nicht auf die Einstellung des Klägers, sondern nur auf die objektiven Gegebenheiten ankommen kann. Der Senat hat im Urteil vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 - bereits darauf hingewiesen, daß nur beim Vorliegen bestimmter Anhaltspunkte ein zusätzlicher psychologischer Eignungstest erforderlich sei, es dagegen in der Regel genügen dürfte, den medizinischen Sachverständigen ergänzend zur Umstellungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit des Versicherten Stellung nehmen zu lassen. Welcher Weg im vorliegenden Fall der geeignete ist, entscheidet das LSG nach seinem tatrichterlichen Ermessen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655969

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