Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente. Berechnung einer Unterhaltsverpflichtung. Beweislast. Anspruchsverzicht. Erlaßvertrag
Leitsatz (amtlich)
Zur Berechnung einer Unterhaltsverpflichtung iS von § 1265 RVO, die sich auf § 60 EheG 1946 gründet (Fortführung von BSG vom 26.11.1981 – 5b/5 RJ 86/80 = SozR 2200 § 1265 Nr 59 und Abgrenzung zu BSG vom 28.2.1990 – 8 RKn 3/89 = SozR 3-2200 § 1265 Nr 1).
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
RVO § 1265 Abs. 1 S. 1; EheG 1946 §§ 58, 60; BGB § 397
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Mai 1994, das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 6. Mai 1993 und der Bescheid der Beklagten vom 14. Juni 1989 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin aus der Versicherung des W. … S. Hinterbliebenenrente ab 1. März 1989 zu gewähren.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Rente aus der Versicherung ihres am 25. Januar 1978 verstorbenen geschiedenen Ehemannes W. … S. … zu gewähren ist.
Die 1937 geborene Klägerin war in zweiter Ehe seit dem 30. Dezember 1970 mit dem Versicherten verheiratet. Durch Urteil des LG Krefeld vom 20. Februar 1974 wurde die Ehe aus beiderseitigem gleichem Verschulden geschieden; das Urteil ist seit dem 26. Februar 1974 rechtskräftig. Aus der Ehe sind keine Kinder hervorgegangen. Die Klägerin hat allerdings aus erster Ehe vier Kinder in die Ehe mitgebracht (geboren in den Jahren 1956, 1957, 1958 und 1966). Die Klägerin und der Versicherte haben nicht wieder geheiratet. Am 19. Dezember 1976 gebar die Klägerin ein weiteres Kind.
Ausweislich des Versicherungsverlaufs war der Versicherte im gesamten Jahr 1973 versicherungspflichtig beschäftigt. Vom 3. Januar 1974 bis 26. März 1974 war er arbeitslos. Vom 22. April 1974 bis 10. Mai 1974, vom 8. Juli 1975 bis 26. September 1975, vom 10. Dezember 1975 bis 17. Mai 1977 und vom 1. Juli 1977 bis 15. Juli 1977 sind Pflichtbeiträge angegeben. In den ersten fünf Monaten des Jahres 1977 erzielte er insgesamt Einkünfte in Höhe von 8.734,00 DM (auf den Monat umgerechnet 1.746,80 DM), im Juli insgesamt 1.265,68 DM (893,00 DM Arbeitsentgelt und 372,68 DM Krankengeld) sowie ab August 1977 monatlich 1.088,36 DM Krankengeld.
Die Klägerin hatte vor der Scheidung zuletzt 1961 eine Erwerbstätigkeit ausgeübt und war nach der Scheidung vom 2. September 1974 bis 13. Juni 1975 und vom 20. Januar 1976 bis 29. Februar 1976 versicherungspflichtig beschäftigt. Eine erneute Beschäftigung nahm sie nach der Geburt ihres jüngsten Kindes (1976) erst im August 1980 auf.
Am 20. Februar 1989 beantragte die Klägerin Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes. Im Zusatzfragebogen beantwortete sie die Frage II 1a, in welcher Höhe und in welchen Zeitabständen der Versicherte ihr im letzten Jahr vor seinem Tod tatsächlich Unterhalt geleistet habe, mit: „gar nicht”. Die Frage II 1b, aus welchen Gründen trotz einer Unterhaltsverpflichtung vom Versicherten Zahlungen nicht oder nur teilweise geleistet worden seien, beantwortete sie mit: „keine Unterhaltsverpflichtung”. Auf die Frage II 1c, aus welchen Gründen ggf eine Feststellung der Unterhaltsverpflichtung durch Unterhaltsurteil, Vergleich oder Anerkenntnis des Versicherten unterblieben sei, gab sie an: „Wegen eigener Berufstätigkeit der Antragstellerin”. Außerdem enthält das Antragsformular den handschriftlichen Zusatz: „Antrag unter Bezug auf das BSG-Urteil 5/5b RJ 100/86 (Unterhaltsverzicht)”.
Im Hinblick auf ein Schreiben des LG Krefeld vom 20. September 1978, das an die Klägerin gerichtet ist und wie folgt lautet:
„Sehr geehrte Frau W. …,
in Sachen S. … gegen dto. erhalten Sie anliegend Ihr Urteil vom 20.2.1974 zurück. Nach Durchsicht der hiesigen Akten wurde festgestellt, daß durch Prozeßvergleich vom 18.2.1974 auf Unterhaltsleistungen verzichtet wurde.”,
teilte das LG Krefeld auf Anfrage der Beklagten durch Schreiben vom 21. April 1989 mit, daß ein Prozeßvergleich über einen Unterhaltsverzicht nicht vorliege. Die Akten seien zwischenzeitlich ausgesondert; es befinde sich dort lediglich das Scheidungsurteil vom 20. Februar 1974. Daraufhin lehnte die Beklagte die Gewährung einer Hinterbliebenenrente ab (Bescheid vom 14. Juni 1989). Sie stützte sich auf die §§ 1265, 1266 Abs 2 RVO und führte aus, der Versicherte habe der Klägerin weder im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet, noch sei er zum Zeitpunkt des Todes zur Unterhaltsleistung verpflichtet gewesen. Ein Anspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO bestehe nicht, weil die Klägerin auf Unterhalt verzichtet habe, obwohl sie zum Zeitpunkt der Scheidung bzw der Verzichtserklärung einen Unterhaltsanspruch bzw eine begründete Aussicht auf einen nachweisbaren Unterhaltsanspruch gehabt habe.
Die hiergegen gerichtete Klage war erfolglos (Urteil des SG Düsseldorf vom 6. Mai 1993). Das LSG Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 25. Mai 1994 zurückgewiesen und sich der Begründung des erstinstanzlichen Urteils im wesentlichen angeschlossen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 103, 106 SGG, § 1265 RVO) und trägt vor: Ihr sei in Anwendung von § 1265 Abs 2 Satz 2 Nr 1 RVO die Geschiedenen-Witwenrente zu gewähren, weil eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten nicht bestanden habe. Im angefochtenen Urteil habe das LSG den Rentenanspruch daran scheitern lassen, daß nicht aufklärbar sei, ob eine Unterhaltsverpflichtung allein wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder auch deshalb nicht bestanden habe, weil sie – die Klägerin – auf ihre Ansprüche verzichtet habe. Der Grund für das Nichtbestehen der Unterhaltsverpflichtung sei jedoch in den objektiv vorhandenen schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen zu sehen. Falls das LSG insoweit Aufklärungsbedarf gesehen hätte, hätte es weiter ermitteln müssen. Einen Verzicht auf Unterhaltsansprüche habe sie nicht erklärt. Insoweit habe das LSG ihr zu Unrecht die Beweislast auferlegt. Zumindest sei ihr eine Rente zu gewähren, weil sie im Zeitpunkt der Scheidung ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen gehabt habe.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Mai 1994 sowie des Sozialgerichts Düsseldorf vom 6. Mai 1993 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 14. Juni 1989 zu verurteilen, der Klägerin aus der Versicherung des W. … S. … Hinterbliebenenrente ab 1. März 1989 zu gewähren,
hilfsweise,
der Klägerin die Rente nach Maßgabe des § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO mindestens bis zum 31. Dezember 1994 (Vollendung des 18. Lebensjahres des Sohnes Sebastian) zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ua vor: Da die Klägerin den Rentenantrag erst sehr spät gestellt habe, habe sie es auch zu vertreten, daß die Scheidungsakten des LG Krefeld inzwischen ausgesondert seien. Die Unmöglichkeit, den Unterhaltsverzicht zu beweisen, könne deshalb der Beklagten nicht angelastet werden. Vielmehr müsse eine Beweislastumkehr angenommen werden. Jedenfalls sei in bezug auf einen Rentenanspruch gemäß § 1248 Abs 1 Satz 2 RVO weitere Sachaufklärung notwendig, weswegen der Hilfsantrag auf Zurückverweisung gestellt werde.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Die Vorinstanzen haben zu Unrecht einen Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente gemäß § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO verneint. Das LSG hätte auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG und die Verwaltungsentscheidung der Beklagten aufheben und diese zur Gewährung einer Hinterbliebenenrente an die Klägerin verurteilen müssen.
1. Der Rentenanspruch der Klägerin richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, weil die Klägerin ihren Rentenantrag vor dem 1. April 1992 gestellt hat (20. Februar 1989) und der begehrte Rentenbeginn vor dem 1. Januar 1992 liegt (§ 300 Abs 2 SGB VI).
2. Entgegen der Auffassung des LSG liegen die Voraussetzungen eines Rentenanspruchs gemäß § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO vor.
Nach dieser Vorschrift wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben worden ist, nach dem Tod des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr (a) der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder (b) aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder (c) wenn er im letzten Jahr vor seinem Tod Unterhalt geleistet hat. Die Klägerin war die frühere Ehefrau des Versicherten W. … S. …, und die Ehe wurde durch Urteil des LG Krefeld vom 20. Februar 1974 geschieden. Zwar hat der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tod keinen Unterhalt an die Klägerin geleistet (c). Auch liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß ein Unterhaltsanspruch aus sonstigen Gründen bestand (b). Die Klägerin hatte aber, was das LSG verkannt hat, nach den Vorschriften des Ehegesetzes zur Zeit des Todes des Versicherten (25. Januar 1978) gegen ihn einen Unterhaltsanspruch (a).
„Zeit des Todes” iS von § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO ist der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tod des Versicherten. Dies ist in der Regel eine Zeitspanne von einem Jahr, die auch kürzer sein kann, wenn sich in diesem Jahr wesentliche Änderungen in den Verhältnissen des Versicherten ergeben haben (Urteil des Senats vom 8. September 1993 – 5 RJ 20/90 – HVBG-Info 1994, 331). In dem maßgeblichen Zeitraum vom 25. Januar 1977 bis 24. Januar 1978 war die Klägerin nicht erwerbstätig. Sie hatte im Dezember 1976 ein weiteres Kind bekommen. Dagegen erzielte der Versicherte in den ersten fünf Monaten des Jahres 1977 monatliche Einkünfte in Höhe von durchschnittlich 1.746,80 DM, im Juli 1.265,68 DM sowie ab August monatlich nur noch 1.088,36 DM Krankengeld. Zuungunsten der Klägerin wird unterstellt, daß durch den Krankengeldbezug in dem letzten Jahr vor dem Tod des Versicherten wesentliche Änderungen in den wirtschaftlichen Verhältnissen eingetreten sind, so daß für die Beurteilung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes die Zeit vom 1. August 1977 bis zum 24. Januar 1978 mit monatlichen Einkünften des Versicherten in Höhe von 1.088,36 DM zugrunde gelegt wird.
Hiervon ausgehend hatte die Klägerin gegen den Versicherten einen Unterhaltsanspruch. Grundlage für einen solchen Anspruch ist auch über den 30. Juni 1976 hinaus der zu diesem Zeitpunkt allgemein außer Kraft getretene § 60 EheG (Art 12 Nr 3 des Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 – BGBl I 1421). Danach kann bei Scheidung aus beiderseitigem gleichem Verschulden dem Ehegatten, der sich nicht selbst unterhalten kann, ein Beitrag zu seinem Unterhalt zugesprochen werden, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des anderen Ehegatten und der nach § 63 EheG unterhaltspflichtigen Verwandten des Bedürftigen der Billigkeit entspricht. Daß auch der Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag einen Unterhaltsanspruch iS von § 1265 RVO darstellt, ist anerkannt (BSG, Urteil vom 9. Februar 1965 – 1 RA 313/61 – SozR Nr 29 zu § 1265 RVO).
Die Voraussetzungen des § 60 EheG sind bei der Klägerin erfüllt. Ihre Ehe mit dem Versicherten ist aus beiderseitigem Verschulden geschieden worden, ohne daß einer der beiden die überwiegende Schuld an der Scheidung hatte. Ferner ist dem angefochtenen Urteil mit hinreichender Deutlichkeit die Feststellung zu entnehmen, daß die Klägerin sich im maßgeblichen Zeitraum jedenfalls wegen der Erziehung ihres jüngsten Kindes und mangels eigenen Arbeitseinkommens ohne fremde Hilfe nicht selbst unterhalten konnte. Der Unterhaltsbeitrag nach Billigkeit iS von § 60 EheG erreicht im allgemeinen nicht die Höhe eines Unterhaltsanspruchs, der gemäß § 58 EheG bestehen würde, wenn der Versicherte die alleinige oder überwiegende Schuld an der Scheidung gehabt hätte; der Unterhaltsbeitrag wird in der Regel auf die Hälfte dieses Unterhaltsanspruchs festgesetzt (Urteil des Senats vom 26. November 1981 – 5b/5 RJ 86/80 – SozR 2200 § 1265 Nr 59). Zumindest muß dem Unterhaltsschuldner aber ein sog Selbstbehalt verbleiben. Es kann dahinstehen, ob insoweit ein Betrag von 910,00 DM anzusetzen ist, wie es das LSG unter Hinweis auf den nicht näher begründeten „Eigenbedarf” im BSG-Urteil vom 28. Februar 1990 (8 RKn 3/89 – SozR 3-2200 § 1265 Nr 1) getan hat, oder – richtigerweise – ein Betrag von 1.000,00 DM, wie der für das Jahr 1978 ergangenen unterhaltsrechtlichen Rechtsprechung (vgl OLG Düsseldorf, Beschluß vom 2. Juni 1978 – 3 WF 163/78 – FamRZ 1978, 695) oder der ab 1979 geltenden „Düsseldorfer Tabelle” (vgl FamRZ 1978, 854) zu entnehmen ist. Denn selbst wenn zu Lasten der Klägerin ein Selbstbehalt des Versicherten in Höhe von 1.000,00 DM zugrunde gelegt wird, verbleibt für sie ein Unterhaltsbeitrag von mindestens 88,36 DM. Für eine Halbierung dieses Betrages besteht kein Anlaß. Eine solche Verfahrensweise ergibt sich entgegen der Ansicht des LSG nicht aus der bisherigen Rechtsprechung des BSG. Insbesondere folgt dies nicht aus dem von ihm zitierten Urteil des Senats vom 26. November 1981 (5b/5 RJ 86/80 – SozR 2200 § 1265 Nr 59). Dort ist vielmehr der oben dargestellten unterhaltsrechtlichen Rechtsprechung zu § 60 EheG gefolgt und lediglich ausgedrückt worden, daß der Beitrag gemäß § 60 EheG „in der Regel” die Hälfte eines Unterhaltsanspruchs gemäß § 58 EheG ausmache. Damit hat der Senat – in Übereinstimmung mit der unterhaltsrechtlichen Rechtsprechung – offengelassen, daß sich auch ein höherer Betrag ergeben kann, wobei dann allerdings – wie hier geschehen – der unterhaltsrechtlich bedeutsame Selbstbehalt des Versicherten zu berücksichtigen ist.
Der Betrag von 88,36 DM erreicht nicht die Höhe eines Unterhaltsanspruchs, der sich aus § 58 EheG ergeben würde. Nach dieser Vorschrift hat der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und der Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen. Mit den „Lebensverhältnissen der Ehegatten” sind ihre Lebensverhältnisse zur Zeit der Scheidung – also noch während der Ehe – gemeint (BSG, Urteil vom 13. August 1981 – 11 RA 48/80 – BSGE 52, 83, 84 mwN). Da diese insbesondere durch das Einkommen geprägt werden, bestimmen sie sich in einer Ehe, in der beide Ehegatten erwerbstätig waren, regelmäßig nach den zusammengerechneten Einkünften beider Ehegatten (BSG, Urteil vom 12. Oktober 1993 – 13 RJ 55/92 – BSG SozR 3-2200 § 1265 Nr 11 mwN). Zur Beurteilung eines Unterhaltsanspruchs sind daher zunächst die Nettoeinkommen der Ehegatten zum Zeitpunkt der Scheidung zu ermitteln.
Für die Gewährung der Geschiedenenwitwenrente wird im Gesetz in zeitlicher Hinsicht allerdings auf einen Anspruch im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tod des Versicherten abgestellt. Um die Anspruchstatbestände des Geschiedenenunterhalts gemäß § 58 Abs 1 EheG und der Geschiedenenwitwenrente insoweit miteinander in Einklang zu bringen, ist es erforderlich, den für den Augenblick der Scheidung festgestellten Lebensstandard der Eheleute auf den nach § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO maßgebenden Zeitpunkt fortzuschreiben. Erst auf dieser Grundlage läßt sich die Frage eines zur Witwenrente führenden Unterhaltsanspruchs beantworten. Im Prinzip ist daher ergänzend zu ermitteln, welche Entwicklung die festgestellten Einkommen der Eheleute seit der Scheidung genommen und welche Veränderungen sich in den allgemeinen Lohn- und Preisverhältnissen ergeben haben (zu dieser auch als „Projizierung” bezeichneten Anpassung vgl BSG, Urteile vom 28. November 1963 – 12 RJ 98/62 – SozR Nr 16 zu § 1265 RVO, vom 29. Oktober 1968 – 4 RJ 421/67 – SozR Nr 47 zu § 1265 RVO, vom 22. Juni 1972 – 12 RJ 36/72 – SozR Nr 62 zu § 1265 RVO, vom 19. März 1976 – 11 RA 50/75 – BSGE 41, 253, 256 = SozR 2200 § 1265 Nr 15, vom 25. Mai 1976 – 5 RJ 63/75 – BSGE 42, 60, 63 = SozR 2200 § 1265 Nr 17, vom 13. August 1981 – 11 RA 48/80 – BSGE 52, 83, 85 = SozR 2200 § 1265 Nr 56).
Im Einzelfall kann allerdings eine Fortschreibung entfallen, wenn die Einkommensentwicklung bei den Ehegatten im wesentlichen der allgemeinen Entwicklung entsprochen hat, das spätere Einkommen mithin im großen und ganzen noch das eheliche Lebensniveau widerspiegelt – was in der Regel bei zwischenzeitlich angepaßten Renten und Besoldungsbezügen zutrifft (BSG, Urteil vom 13. August 1981, aaO). Sind für eine in diesem Sinn erhebliche Abweichung der konkreten Entwicklung bei den Ehegatten von der allgemeinen Entwicklung keine hinreichenden Anhaltspunkte gegeben, ist es mit Rücksicht auf die dann anzunehmende Gleichheit von früherem und späterem Lebensniveau sogar angängig, die detaillierte Ermittlung der Einkommensverhältnisse im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand insofern für die Entscheidung über die Geschiedenenwitwenrente genügen zu lassen, als der maßgebende (im Prinzip auf den Zeitpunkt der Ehescheidung konkret zu ermittelnde) Lebensstandard der Eheleute aus diesen Daten bloß im Rückschluß festgestellt wird.
Das LSG hat bisher lediglich Feststellungen über die Einkommensverhältnisse der Klägerin und des Versicherten im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tod des Versicherten im Januar 1978 getroffen. Keine Daten hat es zwar für die Einkommensverhältnisse der Eheleute im Scheidungsjahr 1974 und deren Fortentwicklung in den folgenden vier Jahren ermittelt. Fest steht aber, daß die Klägerin und der Versicherte im Zeitpunkt der Scheidung nicht erwerbstätig waren und allein der Versicherte im Jahr vor seinem Tode Einkünfte hatte. Dies rechtfertigt es, auf diese Einkünfte abzustellen. Wenn nur der Versicherte Einkünfte hatte, steht dem geschiedenen Ehegatten gemäß § 58 EheG 1/4 bis 1/3 des Nettoeinkommens zu (BSG, Urteil vom 28. November 1963 – 12 RJ 98/62 – SozR Nr 16 zu § 1265 RVO). Bereits 1/4 von 1.088,36 DM = 272,09 DM ist höher als ein Betrag von 88,36 DM (Unterhaltsbeitrag gemäß § 60 EheG).
Schließlich ist auch die letzte Voraussetzung des § 60 EheG erfüllt, daß der Unterhaltsbeitrag in Höhe von 88,36 DM die von der Rechtsprechung des BSG entwickelte Grenze von 25 vH des zeitlich und örtlich maßgebenden Sozialhilfe-Regelsatzes für den Haushaltungsvorstand ohne etwaigen Mehrbedarf und ohne die Kosten der Unterkunft überschritten hat (vgl Urteil des Senats vom 6. September 1993 – 5 RJ 20/92 – HVBG-Info 1994, 331). Das LSG hat bindend festgestellt, daß der Sozialhilfe-Regelsatz für den Haushaltungsvorstand in Nordrhein-Westfalen 1977/78 monatlich 293,00 DM betrug. 25 vH davon (73,25 DM) werden mit dem nach § 60 EheG errechneten Unterhaltsbeitrag (88,36 DM) überschritten.
3. Dem hiernach bestehenden Unterhaltsanspruch iS des § 1265 RVO steht ein Unterhaltsverzicht der Klägerin nicht entgegen. Nach seinen bindenden Feststellungen ist das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu einem sog nonliquet wegen einer (nur) großen Wahrscheinlichkeit für einen Unterhaltsverzicht gelangt. Zu einem Nachweis, für den eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausgereicht hätte, hat es sich nicht durchringen können. Diese Beweiswürdigung, die nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden ist, ist nachvollziehbar und rechtlich nicht zu beanstanden.
Entgegen der Auffassung des LSG geht jedoch die Nichterweislichkeit des behaupteten Verzichts zu Lasten der Beklagten. Zwar trifft sie wegen der Amtsermittlungspflicht des Gerichts keine subjektive Beweisführungslast. Dagegen ist die objektive Beweislast auch für das sozialgerichtliche Verfahren von Bedeutung. Diese regelt, wen die Folgen treffen, wenn bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht festgestellt werden können. Hiernach gilt der Grundsatz, daß die Unerweislichkeit einer Tatsache zu Lasten des Beteiligten geht, der aus ihr eine ihm günstigere Rechtsfolge herleitet. Beruft sich somit ein Beteiligter – wie hier die Beklagte mit der rechtsvernichtenden Einwendung des Verzichts auf einen Anspruch (§ 397 BGB) – auf eine Norm, die den durch eine „Grundnorm” gewährten Anspruch vernichtet, hindert oder hemmt, so trifft ihn für das Vorliegen der insoweit erforderlichen Tatsachen die objektive Beweislast (Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1993, § 103 RdNr 19 mwN).
Für eine Beweislastumkehr besteht kein Anlaß. Diese könnte allenfalls in Betracht gezogen werden, wenn die Klägerin den Beweisnotstand der Beklagten verschuldet hätte. Davon kann indessen keine Rede sein, weil es allein in der Sphäre des Scheidungsgerichts und der im Scheidungsverfahren tätig gewesenen Rechtsanwälte liegt, daß etwaige beweiskräftige Unterlagen für den behaupteten Verzicht nicht mehr vorhanden sind und beigezogen werden konnten.
4. Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht durch Verwirkung erloschen. Das im bürgerlichen Recht als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) entwickelte Rechtsinstitut der Verwirkung ist ebenso im Sozialrecht anerkannt. Danach entfällt eine Leistungspflicht, wenn der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen. Solche die Verwirkung auslösenden Umstände liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, daß dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, daß das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), daß ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BSG, Urteil vom 1. April 1993 – 1 RK 16/92 – HV-INFO 1993, 1269 mwN). Diese zur Verwirkung führenden Voraussetzungen liegen im vorliegenden Fall nicht vor. Zwar hat es die Klägerin nach dem Tod des Versicherten (25. Januar 1978) während eines längeren Zeitraumes bis zum 20. Februar 1989 unterlassen, bei der Beklagten die Hinterbliebenenrente zu beantragen. Bei einem alsbaldigen Antrag nach dem Tode wäre die Frage eines Unterhaltsverzichts der Klägerin auch noch besser aufzuklären gewesen, denn nach der Auskunft des LG Krefeld vom 20. September 1978 waren zu diesem Zeitpunkt die Scheidungsakten mit dem Prozeßvergleich noch vorhanden. Es fehlt aber an einem zu der schlichten Untätigkeit hinzutretenden zusätzlichen Verwirkungsverhalten, aufgrund dessen die Beklagte darauf hätte vertrauen dürfen, die Klägerin werde ihren Anspruch nicht mehr geltend machen. Weder aus den Akten noch aus dem Vorbringen der Beklagten ergeben sich hierfür irgendwelche Anhaltspunkte. Zudem spricht für die späte Geltendmachung, daß die Klägerin sich erst durch das Urteil des Senats vom 3. Februar 1988 (5/5b RJ 100/86 – SozSich 1988, 188) zu einem Rentenantrag berechtigt gehalten hat.
Ebensowenig kann zu einer Verwirkung des Rentenanspruchs führen, daß die Klägerin in den Jahren 1974 bis 1978 gegenüber ihrem geschiedenen Ehegatten nicht nachweisbar einen Unterhaltsbeitrag gemäß § 60 EheG geltend gemacht hat, was ggf als Indiz gegen einen Unterhaltsverzicht der Klägerin hätte herangezogen werden können. Auch insoweit fehlt es an einem Verwirkungsverhalten der Klägerin, und zwar hier gegenüber dem Versicherten.
5. Da der Rentenanspruch gemäß § 1248 Abs 1 Satz 1 RVO begründet ist, entfallen Überlegungen, ob der Klägerin ein Anspruch gemäß § 1248 Abs 1 Satz 2 RVO zusteht, so daß auch der diesbezüglich gestellte Hilfsantrag der Beklagten, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, gegenstandslos ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1174031 |
SozR 3-2200 § 1265, Nr.15 |
SozSi 1998, 279 |