Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankenhaus. Anspruch auf Vergütung des Zusatzentgeltes ZE82.14. Off-Label-Use von Rituximab. blasenbildende Autoimmunerkrankung in Form eines Schleimhautpemphigoids. grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts
Orientierungssatz
1. Zum Streit über den Anspruch eines Krankenhauses auf Vergütung des Zusatzentgeltes ZE82.14 für die zulassungsüberschreitende Anwendung (Off-Label-Use) von Rituximab im Rahmen stationärer Behandlung, wenn die behandelte Krankheit (blasenbildende Autoimmunerkrankung in Form eines Schleimhautpemphigoids) zwar nicht unmittelbar lebensbedrohlich ist, aber aufgrund einer krankheitsbedingten erheblichen Sepsisgefahr jederzeit in einen mit einiger Wahrscheinlichkeit unumkehrbaren und im Ergebnis tödlichen Prozess umschlagen kann.
2. Das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung für einen Anspruch aufgrund grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts setzt voraus, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit nach den konkreten Umständen des Falles verwirklichen wird (vgl BSG vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 21 mwN).
3. Die wertungsmäßige Vergleichbarkeit einer Erkrankung bezieht sich allein auf die Schwere und das Ausmaß der aus der Erkrankung folgenden Beeinträchtigung, indem der Gefahr des Todes der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gleichgestellt wird. Die wertungsmäßige Gleichstellung ermöglicht dagegen keine Reduzierung der Anforderungen an den die individuelle Notlage kennzeichnenden erheblichen Zeitdruck für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf.
4. Bei der (gerichtlichen) Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs aufgrund grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts müssen auch Feststellungen dazu getroffen werden, dass unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen überwiegt und dass die Behandlung auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt wurde (vgl BSG vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R = BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 24 ff).
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. Mai 2018 aufgehoben und der Rechtstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 6706,80 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.
Der 1929 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte A (im Folgenden: Versicherter) litt unter einer blasenbildenden Autoimmunerkrankung der Haut (Schleimhautpemphigoid). Im April/Mai 2009 wurde er im Rahmen einer stationären Behandlung im Klinikum B. zunächst mit einer hochdosierten Steroidtherapie, anschließend mit Dapson (antibiotisch und entzündungshemmend wirksamer Arzneistoff), dann mit Azathioprin (immunsuppressiv wirksamer Arzneistoff) und schließlich erneut mit Dapson behandelt. Bereits eine Woche nach der Entlassung kam es unter der fortgeführten Therapie mit Dapson und Urbason (Methylprednisolon, "Kortison") zu erneuter Blasenbildung. Das klagende Universitätsklinikum behandelte ihn deshalb vom 20.5. bis 18.6.2009 vollstationär ua mit dem monoklonalen Antikörper Rituximab. Die Beklagte beglich zunächst die Rechnung des Klägers (12 315,08 Euro, einschließlich 6706,80 Euro Zusatzentgelt ≪ZE≫ 82.14 für Rituximab parenteral 1850 mg bis unter 2050 mg), verrechnete jedoch später 6706,80 Euro aufgrund einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) mit einer unstreitigen Forderung des Klägers (28.11.2012): Rituximab sei weder zur unspezifischen Immunmodulation noch zur Behandlung des Pemphigoids mit Antikörperbildung zugelassen. Die Voraussetzungen eines zulässigen Off-Label-Use oder einer grundrechtsorientierten Auslegung lägen nicht vor. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 14.1.2016). Das LSG hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte zur Zahlung von 6706,80 Euro nebst Zinsen verurteilt. Der Kläger habe den Versicherten zulasten der Beklagten mit Rituximab behandeln dürfen. Der Versicherte habe bei grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts hierauf Anspruch gehabt. Der Befall großer Teile der Hautoberfläche mit Blasen, das hohe Lebensalter und insbesondere die parallel durchgeführte immunsuppressive Therapie hätten eine erhöhte Anfälligkeit des Versicherten für schnell und schwer verlaufende bakterielle Infektionen mit nachfolgender Sepsis begründet ("Blutvergiftung"; schwerste Komplikation einer Infektion durch entgleiste körpereigene Abwehrreaktion gegen eigene Gewebe und Organe). Der Zustand des Versicherten hätte unter Fortführung der bisherigen Behandlung jederzeit in einen sich rasant entwickelnden und deshalb mit einiger Wahrscheinlichkeit unumkehrbaren und im Ergebnis tödlichen Prozess umschlagen können. Eine anerkannte Standardtherapie habe nicht mehr zur Verfügung gestanden. Es habe eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch die Rituximab-Behandlung bestanden (Urteil vom 3.5.2018).
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V, § 17b Abs 1 Satz 10 KHG und § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1, § 9 Abs 1 Satz 1 Nr 1 KHEntgG iVm der FPV 2009 und des nach § 112 SGB V geschlossenen Landesvertrags sowie von § 2 Abs 4, § 12 Abs 1 Satz 2 und § 70 Abs 1 Satz 2 SGB V. Die Voraussetzungen eines grundrechtsorientierten Leistungsanspruchs seien nicht erfüllt. Die lediglich abstrakt erhöhte Infektanfälligkeit des Versicherten begründe noch keine notstandsähnliche Situation mit konkreter unmittelbarer Lebensgefahr. Die zugelassenen Therapieoptionen seien nicht ausgeschöpft gewesen. Es liege auch kein Seltenheitsfall vor.
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Die Beklagte beantragt, |
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das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. Mai 2018 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 14. Januar 2016 zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. Mai 2018 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen. |
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Der Kläger beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Senat konnte auf Grund der vom LSG festgestellten Tatsachen nicht abschließend darüber entscheiden, ob dem Kläger der geltend gemachte Vergütungsanspruch in Höhe von 6706,80 Euro nebst Zinsen gegen die Beklagte zusteht.
1. Die Klage ist in dem hier bestehenden Gleichordnungsverhältnis als (echte) Leistungsklage gemäß § 54 Abs 5 SGG zulässig (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 16.12.2008 - B 1 KN 1/07 KR R - BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9 mwN).
2. Ob dem Kläger der unstreitig entstandene Vergütungsanspruch aus der Behandlung anderer Versicherter in Höhe von 6706,80 Euro weiterhin zusteht oder ob die Beklagte diesen dadurch erfüllte, dass sie mit einem aus der Behandlung des Versicherten resultierenden Gegenanspruch aus öffentlich-rechtlicher Erstattung wirksam aufrechnete, kann der erkennende Senat wegen fehlender Feststellungen des LSG zu den Voraussetzungen des Anspruchs des Klägers auf Abrechnung des streitigen Zusatzentgelts für die Behandlung mit Rituximab nicht entscheiden.
a) Rechtsgrundlage des von dem Kläger wegen der stationären Behandlung des Versicherten vom 20.5. bis 18.6.2009 geltend gemachten Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V iVm § 7 KHEntgG und § 17b KHG. Das Gesetz regelt in diesen Vorschriften die Höhe der Vergütung der zugelassenen Krankenhäuser bei stationärer Behandlung gesetzlich Krankenversicherter und setzt dabei das Bestehen des Vergütungsanspruchs als Gegenleistung für die Erfüllung der Pflicht des zugelassenen Krankenhauses, erforderliche Krankenhausbehandlung nach § 39 SGB V zu gewähren, dem Grunde nach als Selbstverständlichkeit voraus. Der Anspruch wird auf Bundesebene durch Normsetzungsverträge (Normenverträge, Fallpauschalenvereinbarungen ≪FPV≫) konkretisiert. Der Spitzenverband Bund der KKn und der Verband der privaten Krankenversicherung gemeinsam vereinbaren nach § 9 Abs 1 Satz 1 Nr 1 KHEntgG mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft als "Vertragsparteien auf Bundesebene" mit Wirkung für die Vertragsparteien nach § 11 KHEntgG einen Fallpauschalen-Katalog einschließlich der Bewertungsrelationen sowie Regelungen zur Grenzverweildauer und der in Abhängigkeit von diesen zusätzlich zu zahlenden Entgelte oder vorzunehmenden Abschläge. Ferner vereinbaren sie insoweit Abrechnungsbestimmungen in den FPV auf der Grundlage des § 9 Abs 1 Satz 1 Nr 3 KHEntgG(idF durch Art 19 Nr 3 des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung ≪GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG≫ vom 26.3.2007, BGBl I 378; vgl zum Ganzen nur BSG Urteil vom 8.11.2011 - B 1 KR 8/11 R - BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 15 und BSG Urteil vom 9.4.2019 - B 1 KR 27/18 R - juris RdNr 12; stRspr) . Krankenhäuser dürfen zusätzlich zu einer Fallpauschale oder zu den Entgelten nach § 6 Abs 1 KHEntgG nach § 7 Abs 1 Satz 1 und § 9 Abs 1 Satz 1 Nr 2 KHEntgG(idF durch Art 19 Nr 3 GKV-WSG) bundeseinheitliche Zusatzentgelte nach dem Zusatzentgelte-Katalog nach Anlage 2 bzw 5 abrechnen (§ 5 Abs 1 Satz 1 FPV 2009; zur normativen Wirkung von FPV vgl BSG Urteil vom 8.11.2011 - B 1 KR 8/11 R - BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 18). Maßgebend ist vorliegend die FPV 2009 einschließlich der Anlage 5.
b) Der Kläger erfüllt die Grundvoraussetzungen eines Anspruchs auf Krankenhausvergütung, indem er den Versicherten vom 20.5. bis 18.6.2009 vollstationär behandelte. Die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und iS von § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 8.11.2011 - B 1 KR 8/11 R - BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13 mwN; BSG Urteil vom 19.11.2019 - B 1 KR 33/18 R - RdNr 10 mwN). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Es steht nach dem Gesamtzusammenhang der unangegriffenen, den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) fest, dass der Versicherte vom 20.5. bis 18.6.2009 wegen erneuter Blasenbildung durch das bei ihm vorliegende Schleimhautpemphigoid vollstationärer Krankenhausbehandlung bedurfte.
c) Ob der Kläger Anspruch auf das hier allein streitige ZE 82.14 hat, kann der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden. Das LSG hat bindend festgestellt, dass an den Versicherten eine Gabe von Rituximab (parenteral, 1850 mg bis unter 2050 mg) erfolgt ist. Hierfür kann der Kläger von der Beklagten das ZE 82.14 iHv 6706,80 Euro unter den Voraussetzungen des § 5 Abs 1 Satz 1 FPV 2009 iVm Anlage 5 beanspruchen, wenn der Versicherte im Rahmen der stationären Behandlung einen Anspruch auf die Versorgung mit Rituximab hatte. Auch die Behandlung mit Rituximab muss geeignet, erforderlich und wirtschaftlich iS des § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V gewesen sein (vgl 2.b). Das LSG hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise einen Anspruch nach allgemeinen Grundsätzen der Krankenbehandlung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV, dazu aa) und nach den Grundsätzen des Off-Label-Use (dazu bb) verneint. Ob sich ein Anspruch aus grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts (dazu cc) oder wegen Vorliegens eines Seltenheitsfalles (dazu dd) ergibt, kann der erkennende Senat auf der Grundlage der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
aa) Nach § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst ua die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 Fall 1 iVm § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V). Versicherte können Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zulasten der GKV grundsätzlich nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Die Zulassung kann sich grundsätzlich aus nationalem Recht (§ 21 Abs 1 Arzneimittelgesetz) oder aus dem Recht der Europäischen Union ergeben, nicht aber aus ausländischem Recht (stRspr, vgl BSG Urteil vom 11.9.2018 - B 1 KR 36/17 R - juris RdNr 12 = GesR 2019, 38 mwN - Avastin).
Das LSG hat hierzu unangegriffen festgestellt, dass Rituximab im Zeitpunkt der Behandlung für die Erkrankung des Versicherten nicht zugelassen war. Die Zulassung galt nur für die Behandlung des Non-Hodgkin-Lymphoms, der chronischen lymphatischen Leukämie, der schweren aktiven rheumatoiden Arthritis (mit Einschränkungen), der schnell tödlich verlaufenden aggressiven Lymphome (als Kombinationstherapie) und für die Erstbehandlung indolenter Lymphome. Keine dieser Erkrankungen lag bei dem Versicherten vor.
bb) Der Versicherte konnte von der Beklagten die Versorgung mit Rituximab auch nicht im Rahmen eines Off-Label-Use beanspruchen.
(1) Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) hat den Einsatz von Rituximab zur Behandlung des Schleimhautpemphigoids nicht empfohlen. Nach § 92 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 6 SGB V beschließt der GBA die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln. Gestützt auf § 35b Abs 3 SGB V(idF durch Art 256 Nr 1 der Neunten Zuständigkeitsanpassungsverordnung vom 31.10.2006, BGBl I S 2407; jetzt § 35c Abs 1 SGB V) enthalten Abschnitt K und Anlage VI Teil A der Richtlinie des GBA über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie vom 18.12.2008/ 22.1.2009, BAnz 2009, Nr 49a ≪Beilage≫, hier anwendbar in der ab 1.4.2009 geltenden Fassung des Beschlusses vom 19.3.2009, BAnz 2009, Nr 74) Einzelheiten über die "Verordnungsfähigkeit von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten" und führen Wirkstoffe als verordnungsfähig (Anlage VI Teil A) bzw als nicht verordnungsfähig (Anlage VI Teil B) auf. Dort wurde das hier betroffene Arzneimittel Rituximab im Zeitpunkt der Behandlung des Versicherten nicht aufgeführt.
(2) Für einen Anspruch aus § 35c SGB V(idF durch Art 1 Nr 20a GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378) liegt nach den Feststellungen des LSG ebenfalls nichts vor. Die Behandlung mit Rituximab erfolgte nicht im Rahmen einer klinischen Studie.
(3) Auch die Voraussetzungen für die daneben weiterhin anwendbaren, allgemeinen, vom erkennenden Senat entwickelten Grundsätze für einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV, die auch im Rahmen der stationären Versorgung gelten, liegen nicht vor (zu diesen Voraussetzungen vgl BSG Urteil vom 13.12.2016 - B 1 KR 1/16 R - BSGE 122, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 28, RdNr 26 - IVIG; vgl zum Off-Label-Use aus jüngerer Zeit BSG Urteil vom 11.9.2018 - B 1 KR 36/17 R - juris RdNr 14 = GesR 2019, 38 - Avastin; vgl aus der Rspr des für das Vertragsarztrecht zuständigen 6. Senats zB BSG Urteil vom 13.8.2014 - B 6 KA 38/13 R - SozR 4-2500 § 106 Nr 47 RdNr 31; zur Verfassungsmäßigkeit vgl BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 30.6.2008 - 1 BvR 1665/07 - BVerfGK 14, 46, 48 f = SozR 4-2500 § 31 Nr 17 RdNr 10 f). Es fehlt an einer im Zeitpunkt der Behandlung aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht. Dafür müssten Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl zB BSG Urteil vom 26.9.2006 - B 1 KR 1/06 R - BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 19 f - Ilomedin; BSG Urteil vom 8.11.2011 - B 1 KR 19/10 R - BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 17 mwN - BTX/A; BSG Urteil vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 16 - IVIG). Eine derartige Studienlage lag nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG nicht vor.
cc) Ob der Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Rituximab aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts (dazu ≪1≫) hatte, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Sofern das LSG mit Blick auf eine erhöhte Infektanfälligkeit und eine daraus resultierende Sepsisgefahr das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung bejaht hat, beruht dies im Ergebnis auf der Zugrundelegung eines unzutreffenden rechtlichen Maßstabes (dazu ≪2≫). Für eine abschließende Entscheidung reichen die vom LSG getroffenen Feststellungen insofern nicht aus (dazu ≪3≫). Dies gilt auch für eine möglicherweise drohende Erblindungsgefahr (dazu ≪4≫).
(1) Nach dem Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 folgt aus den Grundrechten nach Art 2 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip und nach Art 2 Abs 2 GG ein Anspruch auf Krankenversorgung in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung, wenn für sie eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht (BVerfG Beschluss vom 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 - BVerfGE 115, 25, 49 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5, RdNr 33; zur nachfolgenden - restriktiven - Rspr des BVerfG zu wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankungen vgl BSG Urteil vom 13.12.2016 - B 1 KR 1/16 R - BSGE 122, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 28, RdNr 18). Das BSG hat diese verfassungsrechtlichen Vorgaben in der Folge näher konkretisiert und dabei in die grundrechtsorientierte Auslegung auch Erkrankungen einbezogen, die mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wertungsmäßig vergleichbar sind, wie etwa der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion (vgl zB BSG Urteil vom 4.4.2006 - B 1 KR 12/04 R - BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, RdNr 31 - D-Ribose; BSG Urteil vom 20.4.2010 - B 1/3 KR 22/08 R - BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 31 - Kuba-Therapie; BSG Urteil vom 2.9.2014 - B 1 KR 4/13 R - SozR 4-2500 § 18 Nr 9 RdNr 13 - Kuba-Therapie). Dem ist der Gesetzgeber mit der Kodifizierung des Anspruchs in § 2 Abs 1a SGB V gefolgt (vgl Begründung des GKV-VStG-Entwurfs, BT-Drucks 17/6906 S 52 f; in Kraft getreten zum 1.1.2012). Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine vom Qualitätsgebot (§ 2 Abs 1 Satz 3 SGB V) abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
(2) Das LSG senkt die Anforderungen an die Annahme einer notstandsähnlichen Situation ab und verlässt den von der Rspr des erkennenden Senats vorgegebenen Maßstab für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Diese setzt voraus, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit nach den konkreten Umständen des Falles verwirklichen wird (vgl ausführlich dazu BSG Urteil vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 Leitsatz und RdNr 21 mwN, auch zur Rspr des BVerfG - IVIG).
Die Ausführungen des LSG tragen die Annahme einer notstandsähnlichen Situation in dem vorbeschriebenen Sinn nicht. Ihnen kann aber auch nicht entnommen werden, dass keine notstandsähnliche Situation vorgelegen hat. Denn die getroffenen Feststellungen sind unklar und widersprüchlich. Das Revisionsgericht ist in einem solchen Fall auch ohne Rüge eines Beteiligten an die getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht gebunden. Es muss dementsprechend eine Sache, die sich nicht aus anderen Gründen als richtig erweist, in die Tatsacheninstanz zurückverweisen (vgl auch BSG Urteil vom 20.3.2018 - B 1 KR 4/17 R - SozR 4-2500 § 2 Nr 12 RdNr 24).
Das LSG sieht zwar einerseits die Anfälligkeit des Versicherten für eine Todesgefahr begründende, schnell und schwer verlaufende bakterielle Infektion mit nachfolgender Sepsis als "lebensbedrohlich im Sinne der Rechtsprechung des BSG" an. Andererseits bewertet es die Erkrankung im Zeitpunkt der Behandlung als "nicht unmittelbar lebensbedrohlich in dem Sinne, dass die Gefahr des Todes bereits unmittelbar bevorstand". Soweit es die Sepsisgefahr als "wertungsmäßig mit einer solchen Erkrankung vergleichbar" einstuft, verkennt es, dass sich die wertungsmäßige Vergleichbarkeit nach der Rspr des erkennenden Senats allein auf die Schwere und das Ausmaß der aus der Erkrankung folgenden Beeinträchtigung bezieht, indem der Gefahr des Todes der nicht kompensierbare Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gleichgestellt wird (vgl die Nachweise unter RdNr 20). Die wertungsmäßige Gleichstellung ermöglicht dagegen keine Reduzierung der Anforderungen an den die individuelle Notlage kennzeichnenden erheblichen Zeitdruck für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf.
Das LSG führt aus, dass der Zustand des Versicherten unter Fortführung der bisherigen Behandlung "aufgrund der nicht mehr vorhandenen Barrierefunktion der Haut mit erheblich gesteigerter Sepsisgefahr jederzeit umschlagen [konnte] in einen dann sich rasant entwickelnden und deshalb mit einiger Wahrscheinlichkeit unumkehrbaren und im Ergebnis tödlichen Prozess." Diese Feststellungen reichen weder für die Annahme einer die individuelle Notlage kennzeichnenden hohen Wahrscheinlichkeit eines sich innerhalb eines überschaubaren Zeitraums verwirklichenden tödlichen Krankheitsverlaufs aus noch kann ihnen das Fehlen der notstandsähnlichen Situation hinreichend entnommen werden.
(3) Für eine abschließende Entscheidung über das Vorliegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung fehlen konkrete Feststellungen des LSG dazu, in welchem Ausmaß mit bakteriellen Infektionen beim Versicherten zu rechnen war, dass und ggf in welchem Umfang Infektionen - unter Umständen durch präventive Gabe von Antibiotika - medikamentös nicht beherrschbar gewesen wären und wie hoch dann die Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Sepsis bei dem Versicherten gewesen wäre. Die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. B. genügen für die Annahme einer durch eine nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage in dem oben beschriebenen Sinne nicht. Sofern nach Ausschöpfung aller Beweismittel, etwa aufgrund fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse, eine konkrete Aussage über die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Krankheitsverlaufs nicht möglich sein sollte, wäre vom LSG insoweit gegebenenfalls nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu entscheiden (zur Beweislast bei erfolgter Zahlung durch die KK vgl BSG Urteil vom 30.6.2009 - B 1 KR 24/08 R - BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 36 f).
(4) Ob das bei dem Versicherten vorliegende Schleimhautpemphigoid deshalb einer lebensbedrohlichen Erkrankung wertungsmäßig gleichzustellen war, weil durch eine mögliche Augenbeteiligung eine Erblindung drohte, hat das LSG - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - nicht geprüft und kann der Senat auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen ebenfalls nicht entscheiden. Auch hier wäre erforderlich, dass nach den konkreten Umständen des Falls der Verlust der Sehfähigkeit innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit drohte (vgl BSG Urteil vom 20.4.2010 - B 1/3 KR 22/08 R - BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 31 - Kuba-Therapie; BSG Urteil vom 2.9.2014 - B 1 KR 4/13 R - SozR 4-2500 § 18 Nr 9 RdNr 13 - Kuba-Therapie). Entscheidend ist nicht, wie häufig eine Beteiligung der Augen erfolgt (laut gerichtlichem Sachverständigen in 65 vH der Schleimhautpemphigoid-Fälle), sondern ob, gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit und mit welcher Schwere dies beim Versicherten der Fall war. Entscheidend ist also, mit welcher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums Blindheit die Folge eines Schleimhautpemphigoids ist und welcher konkreten Erblindungsgefahr gerade der Versicherte ausgesetzt war, bei dem nur große Bereiche der Hautoberfläche "mit nahezu Aussparung des Gesichtes" betroffen waren (Entlassungsbericht vom 29.6.2009). Hinweise auf eine Beteiligung der Schleimhäute und der Augen sind ihm nicht zu entnehmen. Gegebenenfalls muss das LSG auch hierzu Feststellungen treffen.
(5) Das LSG muss bei der Prüfung der Voraussetzungen des Anspruchs aufgrund grundrechtsorientierter Auslegung des Leistungsrechts, sollte es Lebensbedrohlichkeit oder die akute Gefahr der Erblindung bejahen, auch Feststellungen dazu treffen, dass unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen überwiegt und dass die Behandlung auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt wurde (vgl dazu BSG Urteil vom 4.4.2006 - B 1 KR 7/05 R - BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4, RdNr 24 ff). Insbesondere muss es sich damit auseinandersetzen, ob beim Versicherten, sofern er denn ein Hochrisikopatient war, vor der Gabe von Rituximab auch die Anwendung anderer und/oder höher dosierter Arzneimittel, zB Cyclophosphamid in Kombination mit Prednisolon, in Betracht gekommen wäre (vgl auch die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. B. im Gutachten vom 10.7.2017, S 5 f). Zudem ist bei medizinisch gleichwertigen Therapien immer das Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten, das auch im Bereich der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts uneingeschränkt gilt.
dd) Nicht abschließend entscheiden kann der erkennende Senat schließlich auch, ob sich ein Leistungsanspruch des Versicherten wegen Vorliegens eines sogenannten Seltenheitsfalles ergab. Dafür darf das festgestellte Krankheitsbild aufgrund seiner Singularität medizinisch nicht erforschbar sein (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 19.10.2004 - B 1 KR 27/02 R - BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1, RdNr 24 - Visudyne; BSG Urteil vom 8.11.2011 - B 1 KR 20/10 R - BSGE 109, 218 = SozR 4-2500 § 31 Nr 20, RdNr 14 - Leucinose; BSG Urteil vom 3.7.2012 - B 1 KR 25/11 R - BSGE 111, 168 = SozR 4-2500 § 31 Nr 22, RdNr 19 - Avastin). Allein geringe Patientenzahlen stehen einer wissenschaftlichen Erforschung nicht entgegen, wenn etwa die Ähnlichkeit zu weit verbreiteten Erkrankungen eine wissenschaftliche Erforschung ermöglicht (BSG Urteil vom 19.10.2004 - B 1 KR 27/02 R - BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1, RdNr 24 - Visudyne). Das gilt erst recht, wenn - trotz der Seltenheit der Erkrankung - die Krankheitsursache oder Wirkmechanismen der bei ihr auftretenden Symptomatik wissenschaftlich klärungsfähig sind, deren Kenntnis der Verwirklichung eines der in § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V genannten Ziele der Krankenbehandlung dienen kann (BSG Urteil vom 3.7.2012 - B 1 KR 25/11 R - BSGE 111, 168 = SozR 4-2500 § 31 Nr 22, RdNr 19 - Avastin; BSG Urteil vom 17.12.2019 - B 1 KR 18/19 R - RdNr 13 - podologische Therapie). Ob diese Voraussetzungen hier vorlagen, hat das LSG - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - ausdrücklich offengelassen. Gegebenenfalls muss es entsprechende Feststellungen treffen. Die medizinische Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. B. vermag jedenfalls die Annahme eines Seltenheitsfalls nicht ausreichend zu stützen.
3. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.
Fundstellen
NZS 2020, 762 |
KRS 2020, 336 |