Entscheidungsstichwort (Thema)

WGSVG § 14 Abs 2

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der Prüfung des "bisherigen Berufs" iS des § 1246 Abs 2 S 2 RVO ist von einer Facharbeitertätigkeit auszugehen, wenn der Versicherte diese zunächst als Lehrling in versicherungspflichtiger Beschäftigung ausgeübt hat, sodann die Gesellenprüfung und die Beitragsleistung während der weiteren Berufsausübung aus Verfolgungsgründen unterblieben ist und die Wartezeit iS des § 1246 Abs 3 RVO unter Einbeziehung der sich anschließenden Verfolgtenersatzzeit (§ 1251 Abs 1 Nr 4 RVO) erfüllt ist.

 

Orientierungssatz

Die Fiktion der Beitragsentrichtung in § 14 Abs 2 WGSVG gilt nicht nur für die Rentenberechnung, sondern auch für die Begründung des Rentenanspruchs selbst (vgl BSG 1982-09-07 1 RA 35/81 = SozR 5070 § 14 Nr 15).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs 3 Fassung: 1957-02-23; WGSVG § 14 Abs 2 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1250 Abs 1, § 1251 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1970-12-22

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 24.04.1981; Aktenzeichen L 14 J 192/79)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 31.05.1979; Aktenzeichen S 10 J 131/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit hat (§ 1246 Reichsversicherungsordnung -RVO-).

Der 1919 in Berlin geborene Kläger ist israelischer Staatsangehöriger. Vom 24. Juni 1935 bis zum 18. Dezember 1937 war er als Lehrling der Schlosserei, Dreherei und des Werkzeugbaus in Berlin versicherungspflichtig beschäftigt. Nach der "Arisierung" seiner Arbeitgeberfirma wurde er entlassen und aus rassischen Gründen nicht zur Ablegung der Gesellenprüfung zugelassen. Von Februar 1938 bis Ende 1938 war der Kläger ohne Entrichtung von Versicherungsbeiträgen ua als Mechaniker und Dreher beschäftigt. Im April 1939 wanderte er nach Palästina aus. Nach einem Studium in Jerusalem wurde er zunächst bis 1945 in der Kriegsindustrie als Dreher beschäftigt. Anschließend war er als Werklehrer in Tel Aviv und als Kunstgewerbelehrer in Haifa tätig. Am 31. August 1969 ließ er sich pensionieren. Abgesehen von den 1935 bis 1938 entrichteten Pflichtbeiträgen legte der Kläger im wesentlichen durch Nachentrichtung von Beiträgen nach dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) mindestens 180 Beitragsmonate in der Deutschen Arbeiterrentenversicherung zurück. Den Antrag auf Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 27. März 1975 lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 25. November 1976 ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch und die Klage vor dem Sozialgericht (SG) blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1977 und Urteil vom 31. Mai 1979).

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch die angefochtene Entscheidung vom 24. April 1981 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, im Falle des Klägers müsse bei der Bestimmung des bisherigen Berufes und bei der Prüfung der Verweisbarkeit auf die Verhältnisse des Bundesgebietes abgestellt werden, denn für die Tätigkeit in Israel seien Pflichtbeiträge zur deutschen Rentenversicherung nicht entrichtet worden. Als "bisheriger Beruf" des Klägers komme daher lediglich der Lehrling und damit die Tätigkeit eines Ungelernten in Betracht; denn er habe keine Gesellenprüfung abgelegt, obwohl diese zum Abschluß der Lehre seinerzeit erforderlich gewesen sei. Dem durch beiderseitige Epicondylitis eingeschränkten Leistungsvermögen entsprächen die Tätigkeiten eines Industrieboten, Registrators, Karteiführers, Pförtners an einer Nebenpforte sowie die eines Bürohilfsarbeiters. Auf die in Israel ausgeführten Tätigkeiten komme es nicht an. Auch das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über soziale Sicherheit vom 17. Dezember 1973, BSGE 1975 II 245 ff (DISVA) lasse keine für den Kläger günstigere Entscheidung zu.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er trägt vor, das Berufungsgericht habe spätestens mit der Terminsladung die Frage stellen müssen, ob er außer der israelischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitze. Diese Aufklärungspflicht sei deshalb wichtig, weil in Ziff 7 des Schlußprotokolls zum DISVA ausdrücklich eine Sonderregelung für deutsche Staatsbürger vorgesehen sei. Zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung habe er die deutsche Staatsangehörigkeit besessen. Das LSG hätte bedenken müssen, daß die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit Folge der Berufsunfähigkeit sei, denn gemäß Art 14 ff DISVA würden bei Berufskrankheiten die Beschäftigungen in beiden Staaten für den Leistungsanspruch berücksichtig. Das Berufungsgericht habe ihn zu Unrecht nicht als gelernten Schlosser sondern nur als ungelernten Arbeiter eingestuft. Er habe die Arbeit eines Gesellen verrichtet und habe lediglich wegen der Verfolgung die Prüfung nicht ablegen können.

Der Kläger beantragt sinngemäß, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 25. November 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 1977 zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. April 1975 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidungen der Vorinstanzen für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist begründet, denn die Voraussetzungen einer Rentengewährung nach § 1246 RVO sind erfüllt.

Die genannte Vorschrift ist selbst dann anzuwenden, wenn der Kläger nicht die deutsche, sondern einzig die israelische Staatsangehörigkeit besitzt und sich ständig im Ausland aufhält. Nach Art 3 Abs 1 Buchst a iVm Art 2 Abs 1 Buchst c DISVA stehen nämlich die Staatsangehörigen des Staates Israel, sofern sie sich - wie der Kläger - dort aufhalten, den Staatsangehörigen der Bundesrepublik Deutschland bei der Anwendung von Vorschriften der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung gleich. Die für die Rente wegen Berufsunfähigkeit erforderliche Wartezeit (§ 1246 Abs 3 RVO) hat der Kläger allein mit Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung erfüllt.

Die Prüfung der Berufsunfähigkeit erfordert es, den "bisherigen Beruf" iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO festzustellen. Schon anhand der vom Kläger in Deutschland verbrachten Beschäftigungszeiten, für die Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten (§ 1250 Abs 1 Buchst a RVO) ist er als Facharbeiter anzusehen. Von Juni 1935 bis Dezember 1937 war er als Lehrling der Schlosserei, Dreherei und des Werkzeugbaus pflichtversichert. Anschließend wurde er aus verfolgungsbedingten Gründen nicht zur Gesellenprüfung zugelassen. Von Februar bis Ende 1938 war der Kläger als Mechaniker und als Dreher tätig. Zwar unterblieb während dieser Zeit die Beitragszahlung für diese an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung. Da dies aber aus Verfolgungsgründen geschehen ist, gelten für diese Zeit Pflichtbeiträge gemäß § 14 Abs 2 WGSVG als entrichtet.

Zu Unrecht ist das LSG davon ausgegangen, daß die Tätigkeit des Klägers im Jahre 1938 als Dreher und Mechaniker bei der Prüfung des "bisherigen Berufs" unberücksichtigt bleiben müsse, weil diese Zeit von der Beklagten im Bescheid vom 20. Dezember 1965 als Verfolgtenersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO anerkannt worden sei. Abgesehen davon, daß jener Bescheid erst eine solche Ersatzzeit ab 19. Dezember 1938 betrifft, gilt unabhängig davon die im Jahre 1938 im erlernten Beruf verbrachte Beschäftigungszeit als versicherungspflichtige Beitragszeit; denn die erst durch § 14 Abs 2 WGSVG im Jahre 1970 geschaffene Regelung zugunsten Verfolgter kann zuungunsten des Klägers nicht durch einen vorher ergangenen Bescheid ausgeschlossen sein. Damit im Einklang hat die Beklagte im Bescheid vom 8. Juni 1973 eine Nachentrichtung von Beiträgen für das Jahr 1938 nicht zugelassen und für diese Zeit im Versicherungsverlauf vom 24. März 1982 Pflichtbeiträge nach Reichsrecht ausgewiesen. Die Fiktion der Beitragsentrichtung in § 14 Abs 2 WGSVG gilt nicht nur für die Rentenberechnung, sondern auch für die Begründung des Rentenanspruchs selbst (vgl Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 9. Juli 1982 - 1 RA 35/81 -).

Da aus der deutschen Beitragsleistung zusammen mit der seit Dezember 1938 anschließenden Ersatzzeit iS des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO, durch die seitdem fehlende Beiträge ersetzt werden, die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs 3 RVO) erfüllt worden ist, kommt es nicht darauf an, daß der Kläger im erlernten und zuletzt ausgeübten Beruf - noch dazu aus Verfolgungsgründen - keine Gesellenprüfung abgelegt hat. Es genügt allein, daß er die Facharbeitertätigkeit zuletzt vollwertig ausgeübt hat (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 11, 16 und 62). Der "bisherige Beruf" als Facharbeiter kann auch nicht mit dem Hinweis verneint werden, der Kläger habe die Tätigkeit als Dreher und Mechaniker bereits vor Erfüllung der Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit aufgegeben. Allerdings ist nach der Rechtsprechung des BSG eine ausgeübte qualifizierte Tätigkeit dann nicht als bisheriger Beruf iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zugrunde zu legen, wenn unter ausschließlicher Berücksichtigung dieser Tätigkeit die Berufsunfähigkeit bereits vor Erfüllung der Wartezeit eingetreten wäre (vgl Urteil des Senats vom 22. August 1963 in BSGE 19, 279 = SozR Nr 22 zu § 35 RKG aF und daran anschließend BSGE 29, 63 = SozR Nr 73 zu § 1246 RVO; SozR 2600 § 45 Nr 24; SozR 2200 § 1246 Nr 62). Diese Rechtsprechung betrifft indes - wie der erkennende Senat bereits in der Ausgangsentscheidung vom 22. August 1963 (vgl BSGE 19, 279, 281) klargestellt hat - nicht den - hier vorliegenden - Fall, in dem die Wartezeit unter Einbeziehung der sich an die qualifizierte Berufstätigkeit anschließenden Ersatzzeit erfüllt ist. Denn Sinn und Zweck der Ersatzzeitenregelung ist es gerade, versicherungsrechtliche Nachteile während der in § 1251 Abs 1 RVO aufgeführten Zeiten zu vermeiden (vgl BSG in SozR Nr 42 zu § 1251 RVO mwN).

Somit ist im Rahmen des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit Ausgangspunkt der Prüfung der zuletzt vom Kläger in Deutschland in versicherungspflichtiger Beschäftigung ausgeübte Lehrberuf eines Drehers und Mechanikers. Als ehemaliger Facharbeiter kann der Kläger aber nicht zumutbar iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO auf die vom LSG unangegriffen festgestellten Tätigkeiten als Industriebote, Registrator, Karteiführer, Pförtner an einer Nebenpforte sowie als Bürohilfsarbeiter, die er bei seinem Gesundheitszustand noch verrichten kann, verwiesen werden. Bei den genannten Tätigkeiten handelt es sich um ungelernte Arbeiten, die ihrem qualitativen Wert nach nicht zur Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe gehören und diesen auch nicht tariflich gleichgestellt sind. Da die untere Grenze der Verweisbarkeit eines Facharbeiters aber nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 86 mwN) durch die sonstigen Ausbildungsberufe (Anlerntätigkeiten) markiert wird, steht dem Kläger die begehrte Rente wegen Berufsunfähigkeit mit Ablauf des Antragsmonats zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

BSGE, 85

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