Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. September 1988 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die 1917 in Ujpest/Ungarn geborene Klägerin ist rassisch Verfolgte iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Nach dem Besuch des Gymnasiums in Tyrnau/CSR studierte sie von November 1936 bis März 1939 in Brünn und arbeitete von September 1939 bis Oktober 1941 als Sprechstundenhilfe bei einem Arzt in Tyrnau. Anschließend war sie nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt, denen sie sich 1942 durch die Flucht nach Ungarn entzog. Im November 1947 heiratete sie dort einen ungarisch sprechenden Juden. Von November 1953 bis August 1954 arbeitete sie in Budapest als Kontoristin. Im Dezember 1956 wanderte sie mit Ehemann und Tochter in die USA aus, deren Staatsangehörige sie seit 1962 ist.
Durch die streitigen Bescheide vom 15. Februar 1982, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 7. November 1984, lehnte die Beklagte die im Juli 1980 beantragte Gewährung eines Altersruhegeldes unter Anerkennung der in der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgelegten Versicherungszeiten sowie die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung mit der Begründung ab, die Voraussetzungen dafür seien schon deshalb nicht erfüllt, weil die Klägerin weder als Vertriebene iS des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt sei noch nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) einem anerkannten Vertriebenen gleichstehe. Sie habe im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) nicht angehört, weil sie in ihrem persönlichen Lebensbereich nicht überwiegend die deutsche Sprache gebraucht habe. Im übrigen sei auch kein Zusammenhang zwischen dem Deutschtum und der Aussiedlung aus dem Vertreibungsgebiet zu erkennen.
Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 1. Juli 1986; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 28. September 1988). Das LSG hat im wesentlichen ausgeführt, entscheidend sei, ob der deutschsprachig aufgewachsene Verfolgte die deutsche Sprache auch noch zur Zeit der Auswanderung in seinem persönlichen Lebensbereich mindestens überwiegend verwendet habe (Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG-, zB BSGE 50, 279 ff). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei zwar davon auszugehen, daß die Klägerin aus einem deutschsprachigen Elternhaus stamme und daß sie vor ihrer Heirat im Jahre 1947 dem dSK angehört habe. Diese Zugehörigkeit habe sie jedoch nach ihrer Heirat aufgegeben und bis zur Auswanderung aus Ungarn im Jahre 1956 überwiegend ungarisch gesprochen. Mit ihrem Ehemann habe sie nur am Anfang der Ehe halb ungarisch, halb deutsch gesprochen, danach jedoch – auch mit der 1948 geborenen Tochter – überwiegend die ungarische Sprache gebraucht. Da der mit der Klage verfolgte Anspruch bereits an dem Fehlen der Zugehörigkeit zum dSK zur Zeit der Auswanderung scheitere, komme es auch nicht darauf an, ob die Klägerin wegen ihrer behaupteten Zugehörigkeit zum dSK aus Ungarn ausgewandert sei.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin sinngemäß eine Verletzung des § 1 FRG iVm §§ 19, 20 WGSVG, ferner einen Verstoß gegen Art 3 Abs 1 und Abs 3 sowie Art 20 des Grundgesetzes (GG). Sie sieht eine gegen das Rechtsstaatprinzip verstoßende Diskriminierung der verfolgten Vertriebenen gegenüber den nicht verfolgten Vertriebenen darin, daß bei der Prüfung ihrer dSK-Zugehörigkeit grundsätzlich auf den Auswanderungszeitpunkt abgestellt und als Ausnahme nur die bewußte, subjektiv verfolgungsbedingte Abwendung vom dSK anerkannt werde, nicht aber die objektive Aufgabe der Zugehörigkeit zum dSK, soweit sie auf durch die Verfolgung geprägten Lebensverhältnissen während und nach der Verfolgung beruhe. Mindestens müsse § 20 WGSVG iVm § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG – gegebenenfalls verfassungskonform – dahin ausgelegt werden, daß ein wesentlich wegen der durch die Verfolgung geprägten Lebensverhältnisse geändertes Sprachverhalten eine entsprechende Ausnahme zulasse. Hätten es derartige Lebensverhältnisse dem Verfolgten schon objektiv unmöglich gemacht, weiterhin die deutsche Sprache zu gebrauchen, könne eine den Verlust der dSK-Zugehörigkeit bewirkende Abwendung von diesem nicht bzw erst dann angenommen werden, wenn sie über Jahre angedauert habe. In ihrem, der Klägerin, Fall sei eine Übergangszeit jedenfalls 1956 noch nicht abgelaufen gewesen. Im Frühjahr 1942 sei sie aus ihrem deutschsprachigen Umfeld nach Ungarn geflohen, um der Deportation nach Auschwitz zu entgehen. Bereits dadurch sei ihr sprachliches Verhalten massiv beeinflußt worden. Nach ihrer Befreiung aus dem Budapester Ghetto im Januar 1945 sei sie nach Tyrnau zurückgekehrt, habe jedoch dort weder Eltern noch sonstige Angehörige oder Freunde wiederfinden können, die überwiegend der Aktion Eichmann zum Opfer gefallen seien. Da sie niemanden mehr gehabt habe, mit dem sie dort hätte deutsch sprechen können, sei sie nach Ungarn zurückgekehrt und habe dort einen ungarisch sprechenden Juden geheiratet. Angesichts dessen sei es willkürlich, eine ehebedingte Abwendung vom dSK anzunehmen, weil das Eingehen einer sozio-kulturell inhomogenen Ehe mit einem anderssprachigen Ehemann wesentlich durch verfolgungsbedingte, irreguläre Lebensverhältnisse beeinflußt gewesen sei. Letzteres treffe immer dann zu, wenn eine Ehe während oder nach der Verfolgung unter Bedingungen geschlossen worden sei, die wesentlich von den sprachlichen Verhältnissen in dem Gebiet abgewichen seien, aus dem der Verfolgte komme. Das sei bei ihr eindeutig der Fall gewesen. Zudem habe in Ungarn bis zum Jahre 1956 eine massive Unterdrückung des Deutschtums geherrscht, so daß sie auch aus diesem Grunde – insbesondere auch mit ihrer 1948 geborenen Tochter – überwiegend die ungarische Sprache gebraucht habe. Diese verfolgungs- und vertreibungsbedingten Einwirkungen auf das Sprachverhalten und Sprachvermögen müßten hinsichtlich der Fortdauer der dSK-Zugehörigkeit über den Beginn der allgemeinen Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen hinaus berücksichtigt werden, weil für die verfolgten Vertriebenen jedenfalls nicht mehr verlangt werden könne als das, was im Recht der Vertriebenen äußerstenfalls verlangt werde. Bei diesen werde aber nur ein Festhalten am deutschen Sprachgebrauch nach Maßgabe der objektiven Lebensverhältnisse verlangt. Im übrigen dürfe ihr die Eheschließung mit einem ungarisch sprechenden Ehemann auch deshalb nicht zum Nachteil gereichen, weil § 1 Abs 3 BVFG iVm Art 6 GG die nach dem Krieg geschlossenen nationalen Mischehen schütze, und zwar unabhängig vom Sprachverhalten innerhalb dieser Ehen. Dieser Schutz müsse auch bei Anwendung des § 20 WGSVG gelten.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 28. September 1988 und des Sozialgerichts Berlin vom 1. Juli 1986 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 15. Februar 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. November 1984 zu verurteilen, ihre von September 1939 bis Oktober 1941 und von November 1953 bis August 1954 zurückgelegten Versicherungszeiten zuzüglich weiterer Ersatz- und Ausfallzeiten nach dem FRG anzuerkennen, die Beitragsnachentrichtung nach § 10 WGSVG zuzulassen und ihr nach Durchführung der Beitragsnachentrichtung das Altersruhegeld ab Vollendung des 65. Lebensjahres zu bewilligen,
hilfsweise,
die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine abschließende Sachentscheidung nicht aus.
Die Klägerin könnte einen Anspruch auf Altersruhegeld und auf Zulassung zur Beitragsnachentrichtung haben, wenn ua die von September 1939 bis Oktober 1941 in der Tschechoslowakei und von November 1953 bis August 1954 in Ungarn zurückgelegten Versicherungszeiten nach dem FRG anrechenbar wären. Diese Zeiten könnten nach § 15 Abs 1 Satz 1 und 2 FRG nach Bundesrecht aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigung zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen, wenn die Klägerin zu dem vom FRG begünstigten Personenkreis gehörte. Da die Klägerin nicht als Vertriebene iS des BVFG anerkannt ist (§ 1 Buchst a FRG) und auch sonst nicht zu dem im FRG erfaßten Personenkreis gehört (der hier allein in Betracht kommende § 17a FRG, der durch Art 15 Abschnitt A Nr 4 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung – Rentenreformgesetz 1992 – RRG – vom 18. Dezember 1989, BGBl I 2261, in das Gesetz eingefügt worden ist, tritt erst am 1. Juli 1990 in Kraft, vgl Art 85 Abs 6 RRG 1992, so daß über die Anwendung dieser Vorschrift hier nicht zu entscheiden ist), könnte § 15 FRG auf sie nur angewendet werden, wenn sie die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt. Nach dessen Satz 1 (ab 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 1, vgl Art 21 Nr 4c und Art 85 Abs 5 des RRG 1992) stehen bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des BVFG „vertriebene Verfolgte” gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 SGG), ist die Klägerin Verfolgte iS von § 1 BEG und § 20 (Abs 1) Satz 1 WGSVG. Die Anwendung des FRG hängt demnach davon ab, ob sie auch „vertrieben” worden ist, jedoch lediglich mangels Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht als Vertriebene anerkannt werden kann. Nach § 1 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 BVFG ist Vertriebener auch, wer „als deutscher Volkszugehöriger” nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Ungarn verlassen hat. „Deutscher Volkszugehöriger” iS des BVFG ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. Dazu bestimmt § 20 Satz 2 (seit 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 2) WGSVG, daß § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG entsprechend gilt. Danach genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, wenn die Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG kommt dem Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich eine für die Zugehörigkeit zum dSK im Regelfall ausschlaggebende Bedeutung zu (BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3; SozR aaO Nrn 2, 4, 5 jeweils mwN). Denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprach-, sondern auch dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum dSK ergibt sich daher „im Regelfall” aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Lebensbereich (so BSGE 50, 279, 281 = SozR aaO Nr 3 S 8), der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfaßt. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum dSK dann nicht entgegen, wenn die Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in ihrem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht (BSG SozR aaO Nr 4 S 14; BSGE 50, 279, 281 = SozR aaO Nr 3 S 8; Nr 13 jeweils mwN).
Das LSG hat dazu – für den erkennenden Senat bindend – festgestellt, die Muttersprache der Klägerin sei Deutsch gewesen. Sie habe vor ihrer Heirat im Jahre 1947 dem dSK angehört. Nach ihrer Heirat sei bis zur Auswanderung aus Ungarn im Jahre 1956 jedoch überwiegend ungarisch gesprochen worden. Nach den Bekundungen des Ehemannes, der ungarisch als Muttersprache spricht, sei nur am Anfang der Ehe halb deutsch, halb ungarisch gesprochen worden, weil er selbst nur wenig die deutsche, die Klägerin nur wenig die ungarische Sprache beherrscht habe. Überwiegend sei danach in der Ehe bis zur Auswanderung ungarisch gesprochen worden, auch mit der 1948 geborenen, im Haushalt der Eheleute aufgewachsenen Tochter Anne. Diese Feststellungen reichen aber noch nicht für die rechtliche Folgerung aus, daß die Klägerin im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes nicht mehr dem dSK angehörte.
Wie das BSG inzwischen mehrfach entschieden hat, verliert derjenige, der die deutsche Sprache als Muttersprache erlernt und gesprochen hat und sie weiterhin in seinem persönlichen Lebensbereich verwendet, die Zugehörigkeit zum dSK nicht bereits unmittelbar mit dem Zeitpunkt, von dem an der Gebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich nicht mehr überwiegt (BSGE 50, 279, 281 = SozR 5070 § 20 Nr 3 S 9; dem folgend der 4. Senat im Urteil vom 15. November 1988, SozR aaO Nr 13 S 48). Dabei ist zustimmend auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Zweibrücken (RzW 1971, 124) Bezug genommen worden, wonach der klagende Verfolgte seit der Eheschließung mit einer fremdsprachigen Ehefrau während acht Jahren bis zur Aussiedlung (von 1939 bis 1947) kein Deutsch gesprochen hatte. Auch der erkennende Senat geht im Anschluß an die vorgenannte Rechtsprechung davon aus, daß die durch den Gebrauch der deutschen Sprache als Muttersprache vermittelte Zugehörigkeit zum dSK selbst dann erst nach einer Übergangszeit endet, wenn der Verfolgte überhaupt nicht mehr die deutsche Sprache benutzt. Dabei hängt die Dauer der Übergangszeit von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab. Ist deutsch neben einer zweiten Sprache in gleichem Umfang gesprochen worden, soll nach der Entscheidung des 4. Senats (aaO) selbst eine acht Jahre überschreitende Übergangszeit in Betracht zu ziehen sein, wobei offengeblieben ist, ob dann überhaupt eine die Übergangsfrist in Lauf setzende Distanzierung vom dSK erfolgt ist.
Auch wenn der erkennende Senat mit dem LSG davon ausgeht, daß eine (die Übergangsfrist in Lauf setzende) Distanzierung vom dSK im Falle der Klägerin mit der Eheschließung 1947 oder jedenfalls zu dem – etwas späteren – Zeitpunkt erfolgt ist, von dem ab die Ehegatten überwiegend ungarisch gesprochen haben, läßt sich nicht abschließend beurteilen, ob eine Distanzierung der Klägerin vom dSK bereits 1956 abgeschlossen war. Dazu hat das LSG bisher keine näheren Feststellungen getroffen, insbesondere zu den sonstigen Lebensverhältnissen, die für ihr geändertes Sprachverhalten mitbestimmend waren. Für den Prozeß der Distanzierung und damit auch für die Dauer der Übergangsfrist können nämlich, wie die Klägerin zu Recht geltend macht, neben subjektiven, persönlichen Gründen auch sonstige – objektive – Lebensverhältnisse erheblich sein, sofern sie durch die Verfolgung bzw Vertreibung wesentlich geprägt worden sind. War der Verfolgte aufgrund solcher Lebensverhältnisse objektiv außerstande, auch im persönlichen Lebensbereich seine deutsche Muttersprache weiter zu gebrauchen, kann dies für den Fortbestand seiner Zugehörigkeit zum dSK nicht ohne Bedeutung sein. Denn eine Indizwirkung für eine „freiwillige” Abwendung vom dSK kommt dem Sprachverhalten – auch im persönlichen Lebensbereich – umso weniger zu, je mehr die objektiven, durch die Verfolgung bzw Vertreibung geprägten Lebensverhältnisse einen Wechsel der Sprache erzwungen oder jedenfalls den Gebrauch des Deutschen nachhaltig behindert haben. Das leuchtet ohne weiteres ein, wenn ein Verfolgter nach Abschluß der allgemeinen Verfolgungsmaßnahmen zunächst in einem (Heimat-) Gebiet verblieben ist, in dem Familienangehörige, Freunde und sonstige deutschsprechende Personen nicht mehr oder nur noch vereinzelt leben und daher eine Fortsetzung des Gebrauchs der deutschen Muttersprache verfolgungsbedingt praktisch unmöglich geworden ist. Ob in derartigen Fällen – nach derzeit geltendem Recht – generell die Zulassung einer Ausnahme von dem Erfordernis der Zugehörigkeit zum dSK auch noch im Zeitraum der Aussiedlung geboten ist, kann der Senat offen lassen. Eine solche Ausnahme hat die Rechtsprechung bisher nur in Fällen bejaht, in denen sich der Verfolgte schon vor dem Verlassen des Vertreibungsgebietes aus Gründen der Verfolgung bewußt (durch ausdrückliche Erklärung oder jedenfalls schlüssiges Verhalten) vom dSK abgewandt hatte; daraus soll ihm bei der Anwendung des § 20 WGSVG kein Nachteil entstehen (BSG SozR aaO Nr 2 S 5, Nr 9 S 32). Fehlt es an einer derart bewußten verfolgungsbedingten Abkehr vom dSK, war aber eine Lösung vom Gebrauch der deutschen Sprache wesentlich durch objektive, auf Folgen der Verfolgung bzw Vertreibung beruhende Lebensverhältnisse mitbestimmt, muß dies jedenfalls bei der Dauer der Übergangsfrist berücksichtigt werden. Ein unter solchen Bedingungen geändertes Sprachverhalten läßt Rückschlüsse auf eine Abwendung vom dSK, die neben der Integration in einen anderen Sprach- und Kulturkreis auch die Akzeptanz einer solchen neuen Identität voraussetzt, nicht ohne weiteres und insbesondere nicht allein deshalb zu, weil auch persönliche Gründe mitgewirkt haben. Da dem Verlust der eigenen, mit der Muttersprache erworbenen Identität unter derartigen Bedingungen erhebliche innere Hemmnisse entgegenstehen, wird in solchen Fällen der Prozeß der Ablösung vom dSK im Regelfall eine längere Übergangszeit in Anspruch nehmen als in Fällen, in denen die Abwendung vom dSK bereits unter „regulären” Lebensverhältnissen – etwa durch Heirat mit einem anderssprechenden Ehemann in der Zeit vor der Verfolgung – eingeleitet worden ist. Während in diesen Fällen eine ehebedingte, auf freiwilliger Veranlassung beruhende Aufgabe des Gebrauchs der deutschen Sprache zeitlich eher auf einen Wechsel vom dSK zu einem anderen Sprach- und Kulturkreis schließen lassen mag (die oben zitierten Entscheidungen des BSG betreffen solche Fälle), wird in Fällen der vorliegenden Art, in denen eine Ehe nach (oder während) der Verfolgung in einem verfolgungsbedingt fremdsprachigen Lebenskreis mit einem ausschließlich fremdsprachigen Ehepartner eingegangen wird, jedenfalls auch eine ca zehn Jahre überschreitende Übergangszeit in Betracht zu ziehen sein.
Der vorliegende Fall zwingt nicht zu einer Festlegung der äußersten zeitlichen Grenze einer solchen Übergangszeit. Denn bei der Klägerin wäre sie jedenfalls nicht überschritten, wenn sie glaubhaft machen könnte, daß sie – wie mit der Revision vorgetragen bereits 1942, um der Deportation zu entgehen, nach Ungarn fliehen mußte, daß nach 1945 eine endgültige Rückkehr in ihren ursprünglichen Lebenskreis in der Slowakei wegen der Vernichtung bzw Versprengung ihrer deutschsprachigen Verwandten und Freunde nicht in Frage kam, daher ihr Verbleib in Ungarn und die Heirat mit einem ausschließlich ungarisch sprechenden Ehemann wesentlich auf verfolgungsgeprägten Lebensverhältnissen beruhten und im übrigen, daß das Deutsche in Ungarn nach 1945 im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen massiv unterdrückt worden ist. Bei einem Fortbestand dieser Verhältnisse bis zur Aussiedlung hätte ein die Abwendung vom dSK indizierender Nichtgebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich über einen Zeitraum von ca neun Jahren jedenfalls noch nicht solange gedauert, daß damals die Übergangszeit schon abgelaufen gewesen wäre.
Auch besteht kein Anlaß, auf die Verfassungsmäßigkeit des § 20 iVm § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG einzugehen, nachdem die Beklagte selbst in einer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht vom Dezember 1987 (in Sachen Eugen F. … – 1 BvR 547/87 –) eingeräumt hat, es sei schon bei der – einfachrechtlichen – Auslegung der vorgenannten Bestimmungen vertretbar, die objektiven, durch die Verfolgung geprägten Lebensverhältnisse während und nach der Verfolgung auf ihre Indizwirkung hinsichtlich einer Abwendung vom dSK zu befragen.
Sollte sich ergeben, daß die Klägerin dem dSK noch bei ihrer Auswanderung nach den USA angehört hat, wird das LSG weiter zu prüfen haben, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Verlassen des Vertreibungsgebietes und der Zugehörigkeit zum dSK (sog Nötigungstatbestand) gegeben ist, ferner ob die geltend gemachten tschechischen und ungarischen Beitragszeiten zurückgelegt worden und mit welchem Wert sie anrechenbar sind, welche weiteren Ersatz- und Ausfallzeiten anrechenbar sind und ob die Klägerin zur Nachentrichtung von Beiträgen und zum Bezug eines Altersruhegeldes berechtigt ist. Dabei wird es im Blick auf den sog Nötigungszusammenhang zu beachten haben, daß § 20 WGSVG durch den am 1. Januar 1990 in Kraft getretenen Art 21 Nr 4 des RRG 1992 mit Wirkung vom 1. Februar 1971 (§ 20 Abs 3 WGSVG) geändert worden ist. Danach wird nach dem – unter Streichung des bisherigen Satzes 3 – angefügten Abs 2 des § 20 WGSVG vermutet, daß die Zugehörigkeit zum dSK eine wesentliche Ursache für das Verlassen des Vertreibungsgebiets ist (Satz 1). Dies gilt nur dann nicht, wenn das Vertreibungsgebiet nachweislich im wesentlichen aus anderen Gründen verlassen worden ist, weil der Zugehörigkeit zum dSK im Verhältnis zu anderen Gründen nicht annähernd das gleiche Gewicht zukommt (Satz 2). Eine verfolgungsbedingte Abwendung vom dSK oder eine Wohnsitznahme in einem nichtdeutschsprachigen Land widerlegen allein die Vermutung nach Satz 1 nicht (Satz 3). Dabei ist unter einer verfolgungsbedingten Abwendung vom dSK nicht nur ein bewußtes, subjektives Abwendungsverhalten zu verstehen, sondern auch eine Distanzierung vom Gebrauch der deutschen Sprache, die wesentlich auf objektiven, durch die Verfolgung geprägten Lebensverhältnissen beruht.
Nach allem mußte die Revision der Klägerin im Sinne der Zurückverweisung der Streitsache an das LSG Erfolg haben, wobei das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen