Leitsatz (amtlich)
Unter Leistung im Sinne des G 131 § 74 ist jede Individualleistung zu verstehen, die von einem Träger der Rentenversicherung auf Grund des zu ihm bestehenden Versicherungsverhältnisses gewährt worden ist.
Das Heilverfahren, das ein Träger der Rentenversicherung dem Angehörigen eines Versicherten gewährt, ist eine solche Individualleistung; es schließt die Erstattung der Beiträge nach G 131 § 74 aus, wenn die Beiträge, die an sich für eine Erstattung in Frage kommen, Grundlage für die Gewährung des Heilverfahrens gewesen sind. Auf den Zeitpunkt seiner Bewilligung oder auf die Zeit der Durchführung kommt es nicht an.
Normenkette
G131 § 74; AVG § 25 Nr. 2 Fassung: 1934-05-17; RVO § 1252 Nr. 2 Fassung: 1934-05-17
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 1956 wird aufgehoben; die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Oktober 1955 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger ist Beamter zur Wiederverwendung (z. Wv.). Seit Oktober 1945 ist er fast ununterbrochen als Verwaltungsangestellter tätig; vom Dezember 1948 an sind für ihn Sozialversicherungsbeiträge zur Versicherungsanstalt Berlin (VAB.) entrichtet worden. Am 11. Juni 1952 und 4. Dezember 1953 beantragte er, ihm nach § 74 des Gesetzes zu Art. 131 GG (Ges. 131) die Arbeitnehmeranteile dieser Beiträge für die Zeit bis zum 30. September 1951 insoweit zu erstatten, als sie auf die Rentenversicherung entfallen. Die Landesversicherungsanstalt Berlin, die damals in ihrem Bezirk die Aufgaben der Angestelltenversicherung wahrnahm, lehnte den Antrag ab: Die Erstattung der Beiträge setze voraus, daß aus der Rentenversicherung keine Leistungen gewährt worden seien. Der Sohn des Klägers habe im Juni/Juli 1952 von der VAB. ein Heilverfahren erhalten; dies sei eine solche Leistung (Bescheid vom 30. Dezember 1953). Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Bescheid vom 5.4.1954). Das Sozialgericht (SG.) Berlin wies die Klage ab: Das Heilverfahren sei nach den Heilverfahrensakten zu Lasten der Rentenversicherung erfolgt. Es sei eine Leistung im Sinne des § 74 Ges. 131 und schließe daher den Erstattungsanspruch aus (Urteil vom 5.10.1955). Das Landessozialgericht (LSG.) Berlin hob diese Entscheidung auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger die Arbeitnehmeranteile der zur VAB. entrichteten Rentenversicherungsbeiträge für die Zeit vom 15. Dezember 1948 bis 30. September 1951 zu erstatten: Aus dem Wortlaut des § 74 Ges. 131 ergebe sich, daß nur solche Leistungen dem Erstattungsanspruch entgegenständen, die bis zu dem Zeitpunkt gewährt worden seien, bis zu dem die Beiträge nach diesem Gesetz überhaupt erstattet werden dürften. Dies sei in Berlin der 30. September 1951. Das Heilverfahren sei 1952 gewährt worden. Es schließe daher den Erstattungsanspruch nicht aus. Im übrigen habe die Beklagte auch nicht dargetan, daß die verwaltungsmäßigen Voraussetzungen für ein Heilverfahren an den Sohn des Klägers vorgelegen hätten (Urteil vom 30. Oktober 1956).
Das LSG. ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 26. November 1956 zugestellte Urteil am 7. Dezember 1956 Revision ein und begründete sie am 21. Januar 1957. Sie beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen: Nach dem Sinn des § 74 Ges. 131 seien die Beiträge dann nicht zu erstatten, wenn sie die Grundlage für eine Leistung aus der Rentenversicherung gebildet hätten. Dies treffe hier zu; die Anwartschaft aus den Beiträgen des Klägers sei zur Zeit der Gewährung des Heilverfahrens an seinen Sohn noch erhalten gewesen. Darauf, ob die verwaltungsmäßigen Voraussetzungen für die Bewilligung des Heilverfahrens vorgelegen hätten, käme es nicht an; entscheidend sei allein, daß tatsächlich eine Leistung zu Lasten der Rentenversicherung gewährt worden sei.
Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen. Er wies auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil hin und machte noch geltend, daß nach den Verwaltungsvorschriften zu § 74 Ges. 131 ein Heilverfahren an einen Angehörigen des Versicherten keine Leistung im Sinne dieser Vorschrift sei.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das Revisionsgericht hat zunächst zu prüfen, ob die Prozeßvoraussetzungen für das Klage- und Berufungsverfahren vorliegen (BSG. 2 S. 225). Zu den Prozeßvoraussetzungen für das Berufungsverfahren gehört die Statthaftigkeit der Berufung. Diese hat das LSG. zu Recht bejaht (§ 143 SGG). Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei der Beitragserstattung nach dem Gesetz zu Art. 131 GG um einen Anspruch auf eine einmalige Leistung handelt. Die Vorschrift des § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), die für Ansprüche auf einmalige Leistungen die Berufung ausschließt, ist in Streitigkeiten über Ansprüche der Versicherten auf Rückerstattung von Beiträgen nicht anwendbar (§ 149 SGG). In solchen Streitigkeiten ist die Berufung nur dann ausgeschlossen, wenn der Beschwerdewert 50.- DM nicht erreicht (§ 149 Satz 2 SGG; vergl. Urteil des BSG. vom 19. Juni 1957 - 1 RA 229/56). Im vorliegenden Fall hat das SG. die Rückerstattung von Beiträgen für einen Zeitraum von nahezu drei Jahren abgelehnt, so daß der Wert des Beschwerdegegenstands jedenfalls 50.- DM übersteigt. Die Berufung war somit statthaft.
Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 Ges. 131 sind einem Beamten z. Wv. die Arbeitnehmeranteile der für ihn in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 31. März 1951 zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichteten Beiträge zu erstatten, "sofern Leistungen nicht gewährt worden sind". "Leistungen" im Sinne dieser Vorschrift sind nur Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung, nicht auch solche aus der gesetzlichen Kranken-, Unfall- oder Arbeitslosenversicherung. Der Erstattungsanspruch ist ausdrücklich auf die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung beschränkt. Hat daher, wie im vorliegenden Fall, ein Beamter z. Wv. den Erstattungsanspruch geltend gemacht, für dessen nichtversicherten Sohn ein Heilverfahren aus der Sozialversicherung gewährt worden ist, dann ist zunächst zu prüfen, ob dieses Heilverfahren der Rentenversicherung zuzurechnen ist. Diese Prüfung muß auch bei einem Heilverfahren, das von der VAB. gewährt wurde, vorgenommen werden, obwohl die VAB. für alle Zweige der Sozialversicherung zuständig gewesen ist. § 74 Ges. 131 und die Durchführungsverordnungen zu diesem Gesetz enthalten keine Ausnahmeregelung dahin, daß jede Leistung dieses Versicherungsträgers den Erstattungsanspruch ausschließt (vgl. BSG., Sozialrecht G 131 § 74 Aa 1).
Das SG. hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, das Heilverfahren für den Sohn des Klägers sei zu Lasten der Rentenversicherung erfolgt. Diese Feststellung hat das LSG. übernommen, sie ist vom Kläger auch nicht angegriffen worden. Das Bundessozialgericht (BSG.) ist an sie gebunden (§ 163 SGG). Die Auffassung des LSG., das Heilverfahren für den Sohn des Klägers könne aus rechtlichen Gründen nicht der Rentenversicherung zugerechnet werden, ist unrichtig. Zur Zeit seiner Gewährung wurde die Sozialversicherung in Berlin bereits wieder getrennt nach Kranken-, Renten- und Unfallversicherung durchgeführt (§§ 1 Abs. 1 und 2, 7 Abs. 1, 86 Abs. 1 des Berliner Sozialversicherungsanpassungsgesetzes (BSVAG) vom 3. Dezember 1950). Für die Bewilligung und Durchführung von Heilverfahren in der Rentenversicherung waren die Reichsversicherungsgesetze maßgebend (§§ 46, 86 Abs. 1 BSVAG, 1, 54 Abs. 1 des Rentenversicherungsüberleitungsgesetzes ( RVÜG ) vom 10. Juli 1952). Nach ihnen hat die VAB. Heilverfahren nicht nur an Versicherte, sondern auch an deren Angehörige bewilligen können (§§ 25 Nr. 2, 51 AVG a. F., 1252 Nr. 2, 1310 RVO a. F.). Hat sie, wie im vorliegenden Fall, einen Angehörigen des Versicherten ein Heilverfahren zu Lasten der Rentenversicherung gewährt, dann kommt es für die Zuordnung dieser Leistung nicht darauf an, ob ihre verwaltungsinternen Voraussetzungen (vgl. §§ 25 Nr. 2 AVG a. F. und 1252 Nr. 2 RVO a. F.) vorgelegen haben. Nach dem Wortlaut und Zweck des § 74 Ges. 131 ist es allein entscheidend, daß die Leistung tatsächlich aus der Rentenversicherung gewährt worden ist. Das Heilverfahren, das die VAB. für den Sohn des Klägers durchgeführt hat, ist demnach der Rentenversicherung zuzurechnen.
Der Senat setzt sich mit diesem Ergebnis nicht in Widerspruch zu seinem Urteil vom 29. Oktober 1956 (BSG. a. a. O.). In diesem Urteil hat er nur ausgeführt, die Vorschriften der Satzung der VAB. über das Heilverfahren seien nicht revisibel, das BSG. sei daher an die rechtliche Beurteilung des LSG. gebunden, daß das der Ehefrau eines Versicherten im Jahre 1949 nach der Satzung der VAB. gewährte Heilverfahren der Krankenversicherung zuzurechnen sei. Die in Berlin für ein Heilverfahren im Jahre 1952 maßgebenden Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze sind revisibles Recht. Das BSG. ist daher befugt, die Rechtsauffassung des LSG. nachzuprüfen und gegebenenfalls von ihr abzuweichen.
Das Heilverfahren für den Sohn des Klägers war zwar keine Regel- oder Mehrleistung im Sinne der Reichsversicherungsgesetze (vgl. §§ 23, 24, 25 Nr. 2 AVG a. F., 1250, 1251, 1252 Nr. 2, 1310 RVO a. F.), es war aber eine Leistung im Sinne des § 74 Ges. 131. Diese Vorschrift spricht schlechthin von "Leistungen". Sie enthält keine Beschränkung des Leistungsbegriffs auf die Regel- und Mehrleistungen im üblichen Sinn. Sie ist eine sozialversicherungsrechtliche Sonderregelung, auf die weder die Begriffe der Reichsversicherungsgesetze noch deren Grundsätze über die Erstattung von Beiträgen (vgl. §§ 46, 47, 190 AVG a. F., 1309 a, 1445 c RVO a. F.) ohne weiteres angewandt werden können. Leistungen in ihrem Sinn sind regelmäßig auch die an die Angehörigen des Versicherten gewährten Heilverfahren, die auf der Rechtsgrundlage des § 25 AVG a. F. (§ 1252 RVO a. F.) bewilligt worden sind. § 25 AVG a. F. läßt neben den Aufwendungen von Mitteln zur gesundheitlichen Förderung der versicherten Bevölkerung auch die Durchführung von Einzelheilverfahren zu Gunsten der Angehörigen von Versicherten zu. Von dieser Möglichkeit machen alle Träger der Rentenversicherung - im Wege der Selbstverwaltung, mit Zustimmung der Aufsichtsbehörden - in wachsendem Umfang Gebrauch. Diese Angehörigen-Heilverfahren gehören deshalb heute mit zu den Leistungen der Rentenversicherung und sind Individualleistungen dieses Versicherungszweigs. Ob ein solches Heilverfahren etwa dann den allgemeinen Gesundheitsmaßnahmen - und nicht den Individualleistungen - zugerechnet werden muß, wenn es weniger zum Wohl des Einzelnen als vielmehr zum Schutz anderer Versicherter vor gesundheitlichen Schäden bewilligt wird, wie es möglicherweise bei einem Tuberkulose-Heilverfahren für einen Angehörigen der Fall sein kann, braucht in diesem Rechtsstreit nicht entschieden zu werden, weil das Heilverfahren für den Sohn des Klägers dessen Kräftigung und Stärkung diente und nicht wegen einer ansteckenden Krankheit bewilligt und durchgeführt wurde. Jede Individualleistung, die ein Träger der Rentenversicherung auf Grund des zu ihm bestehenden Versicherungsverhältnisses gewährt, ist aber eine Leistung im Sinne des § 74 Ges. 131. Diese Auslegung entspricht dem Wortlaut, Sinn und Zweck des Gesetzes. Die Erstattung der Beiträge zur Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung ist in § 74 nicht vorgesehen. Die Erstattung der Beiträge zur Rentenversicherung ist ein Ausnahmetatbestand. Sie ist folgerichtig auf die Fälle beschränkt, in denen keine Leistungen aus diesem Versicherungszweig gewährt worden sind. Das Heilverfahren für einen Angehörigen des Versicherten wird nur bewilligt, wenn ein Versicherungsverhältnis besteht (§§ 25 Nr. 2 AVG a. F., 1252 Nr. 2 RVO a. F.). Es schließt daher den Erstattungsanspruch nach § 74 Ges. 131 aus (ebenso im Ergebnis Schroeter, Die Durchführung der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften des Gesetzes zu Art. 131 GG, § 74 Anm. 12; Verbandskommentar zum 4. und 5. Buch der RVO, 5. Aufl., § 74 Ges. 131 Anm. 7; SG. Nürnberg, Die Angestelltenversicherung, 1955 S. 71; vgl. auch Koch-Hartmann, Angestelltenversicherungsgesetz, 2. Aufl., S. 216 a, 689).
Das Urteil des Reichsversicherungsamts vom 20. Dezember 1939 (AN. 1940 S. II 111), das zur Begründung der Gegenmeinung angeführt wird, stellt lediglich fest, daß das Heilverfahren für Versicherte eine Leistung im Sinne des § 1445 c Abs. 3 RVO a. F. ist. Es enthält aber keine Hinweise, wie die hier zu entscheidende Frage zu lösen ist. Die Verwaltungsvorschrift Nr. 10 zu § 74 Ges. 131, die das Heilverfahren für Versicherte als Leistung im Sinne des § 74 ansieht, das Heilverfahren für Angehörige aber nicht erwähnt, ist für die Gerichte nicht verbindlich. Sie ist keine Rechtsnorm, sondern eine innerdienstliche Anweisung der Bundesregierung an die Verwaltungsbehörden (vgl. Hauck, NJW. 1957 S. 809 ff.). Ihr Inhalt gibt nur die Rechtsauffassung der Bundesregierung - nicht die des Gesetzgebers - zur Auslegung des § 74 Ges. 131 wieder.
Die Auffassung des LSG., ein Heilverfahren für Angehörige des Versicherten schließe den Erstattungsanspruch jedenfalls dann nicht aus, wenn es - wie hier - nach dem Zeitpunkt gewährt worden sei, bis zu dem Beiträge nach § 74 Ges. 131 erstattet werden dürften, ist unrichtig. Sie widerspricht dem Wortlaut und Sinn des Gesetzes. Die Worte "sofern Leistungen nicht gewährt worden sind" lassen keinen Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt, bis zu dem Beiträge nach § 74 erstattet werden dürfen, und der Zeit der Leistung erkennen. Sie besagen nur, daß die Erstattung ausgeschlossen ist, wenn die während des Erstattungszeitraums entrichteten Beiträge die Grundlage für eine Leistung gewesen sind. Grundlage für die Leistung sind zumindest alle Beiträge gewesen, aus denen die Anwartschaft zur Zeit der Bewilligung der Versicherungsleistung erhalten war. Dies ist hier der Fall.
Die Annahme des LSG., mit dem Inkrafttreten des Ges. 131 in Berlin am 1. Oktober 1951 sei für den Kläger Versicherungsfreiheit eingetreten, steht dem nicht entgegen. Der etwaige Eintritt der Versicherungsfreiheit beendet die Verpflichtung, Beiträge zu entrichten, nicht aber die versicherungsrechtlichen Wirkungen der bereits entrichteten Beiträge. Diese Wirkungen sind auch durch die - im angefochtenen Urteil erwähnte - Erstattung der vom 1. Oktober 1951 an entrichteten Beiträge nicht beseitigt worden. Daß die erstatteten Beiträge möglicherweise auch mit Grundlage für das Heilverfahren gewesen sind, ist nach dem Wortlaut und Sinn des § 74 Ges. 131 ebenso unbeachtlich wie der Umstand, daß das Heilverfahren eine Ermessensleistung ist. Das Heilverfahren für den Sohn des Klägers schließt daher die Beitragserstattung nach § 74 Ges. 131 aus.
§ 74 Ges. 131 regelt für Berlin die Erstattung der bis zum 30. September 1951 entrichteten Beiträge (Art. I Abs. 2, IV Abs. 1 des Übernahmegesetzes vom 13.12.1951 i. Verb. mit § 74 der Anl. 1 zu diesem Gesetz - GVOBl. 1951 S. 1149). Das angefochtene Urteil betrifft nur Beiträge bis zu diesem Zeitpunkt. Die Revision der Beklagten ist daher begründet.
Das Urteil des LSG. war aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Kosten sind nicht zu erstatten (§ 193 SGG).
Fundstellen