Leitsatz (amtlich)
1. Eine "Benachrichtigung", durch die einem Kriegsbeschädigten mitgeteilt wird, daß ihm auf seine Kriegsbeschädigtenrente jeden Monat ein Vorschuß gewährt werde und daß die endgültige Rentenfeststellung vorbehalten bleibe, ist ein Verwaltungsakt mit Widerrufvorbehalt.
2. Ein Verwaltungsakt mit Widerrufsvorbehalt darf nur widerrufen werden, wenn es pflichtmäßigem Ermessen entsprochen hat, von dem Vorbehalt Gebrauch zu machen.
3. Hat die Versorgungsbehörde nach vorläufiger Prüfung des Versorgungsanspruchs wiederkehrende Leistungen als Rentenvorschüsse bewilligt, so verletzt sie ihr pflichtgemäßes Ermessen, wenn sie - obwohl der Empfänger seiner Pflicht, Änderungen in seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen anzuzeigen, wiederholt nachgekommen ist - erst sehr lange Zeit nach Bewilligung der Vorschüsse die "richtige Rente" feststellt und die Bewilligung der Vorschußleistungen teilweise widerruft.
Normenkette
KBLG BY Art. 1; RVO § 1587 Fassung: 1925-07-14; SGG § 54 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Oktober 1955 wird aufgehoben. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Oberversicherungsamts München vom 14. Januar 1952 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger stellte im Jahre 1947 einen Antrag auf Kriegsbeschädigtenrente. Nach dem fachärztlichen "Befundschein" des Roten-Kreuz-Krankenhauses in München vom 2. Januar 1946 handelte es sich bei dem Kläger um einen "Zustand nach Granatsplitterverletzung der linken Hand mit Amputation des zweiten bis vierten Fingers und Versteifung des fünften Fingers sowie nach Granatsplitterverwundung der rechten Hand mit Teilversteifung des Daumens"; dieser Zustand bedingte nach dem gleichen Befundschein die Versehrtenstufe II, die einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 60 v.H. entsprach. Durch "Benachrichtigung" vom 28. Oktober 1948 teilte die Landesversicherungsanstalt Oberbayern - KB-Abteilung - dem Kläger mit, vom 1. Dezember 1948 an erhalte er auf seine Kriegsbeschädigtenrente einen laufenden Vorschuß von monatlich 66,-- DM; die endgültige Feststellung der Rente, insbesondere für die rückliegende Zeit, erfolge später; er sei verpflichtet, jede Änderung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse anzuzeigen, insbesondere jede Erhöhung seines Nettoeinkommens. In der Folgezeit machte der Kläger dem Versorgungsamt (VersorgA.) auch wiederholt Angaben über Änderungen in seinen Einkommensverhältnissen. Am 1. Februar 1951 wurde der Kläger versorgungsärztlich begutachtet; seine MdE. wurde hierbei auf 50 v.H. geschätzt. Mit Bescheid vom 22. Juni 1951 stellte das VersorgA. München fest, dem Kläger stehe vom 1. Februar 1947 an nach dem Bayerischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte vom 26. März 1947 (KBLG) eine Rente nach einer MdE. von 50 v.H. zu; gleichzeitig stellte das VersorgA. die Bezüge, die der Kläger unter Berücksichtigung der MdE. von 50 v.H. und seines sonstigen Einkommens in der Vergangenheit hätte erhalten sollen, den bereits als Vorschuß gezahlten Leistungen gegenüber und errechnete so für die Zeit vom 1. Februar 1947 bis 31 Juli 1951 eine Überzahlung von insgesamt 657,60 DM. In dem Bescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) - Umanerkennung - vom gleichen Tage errechnete das VersorgA. für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis 31. Juli 1951 eine Nachzahlung von 183,-- DM, die es gegen den als überzahlt bezeichneten Betrag aufrechnete, so daß sich dieser auf 474,60 DM ermäßigte; das VersorgA. verfügte dazu in seinem Bescheid, daß zur Abdeckung dieses Betrages monatlich 20,-- DM von der laufenden Rente einzubehalten seien. Gegen die beiden Bescheide vom 22. Juni 1951 legte der Kläger beim Oberversicherungsamt (OVA.) München Berufung ein; er begehrte Rente nach einer MdE. von 60 v.H. Durch Urteil vom 14. Januar 1952 änderte das OVA. die beiden Bescheide vom 22. Juni 1951 ab und verpflichtete den Beklagten, "dem Kläger den Rentenüberempfang von 657,60 DM in Ausgabe zu belassen und die einbehaltenen Rententeile zu erstatten"; im übrigen wies es die Berufung des Klägers zurück. Der Rekurs des Beklagten ging am 1. Januar 1954 als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) über. Durch Urteil vom 18. Oktober 1955 hob das LSG. das Urteil des OVA. vom 14. Januar 1952 insoweit auf, als es die Rückforderung für unzulässig erklärt hatte, und wies die Klage gegen die Bescheide vom 22. Juni 1951 ab: Auszugehen sei von § 47 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VwVG); danach seien zu Unrecht empfangene Leistungen zurückzuzahlen, ohne daß der Einwand der nicht mehr vorhandenen Bereicherung erhoben werden könne; die Einschränkung des § 47 Abs. 2 VwVG greife nicht durch; davon, daß die Überzahlung auf einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse beruhe, könne schon deshalb keine Rede sein, weil es sich um Vorschußleistungen gehandelt habe, die im sogenannten Schnellverfahren und damit nach einem allgemeinen Rechtsgrundsatz unter dem Vorbehalt einer späteren anderen Regelung oder eines Widerrufs gewährt worden seien; dieses Ergebnis sei auch im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers vertretbar; die Aufrechnung des Rentenüberempfangs gegen einen teil der laufenden Versorgungsbezüge verstoße nicht gegen Treu und Glauben. Die Revision ließ das LSG. zu. Das Urteil wurde dem Kläger am 18. November 1955 zugestellt. Am 16. Dezember 1955 legte er Revision ein und beantragte,
unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen LSG. vom 18. Oktober 1955 die Berufung gegen das Urteil des OVA. München vom 14. Januar 1952 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische LSG. zurückzuverweisen.
Am 23. Januar 1956 begründete er - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis 18. Februar 1956 - die Revision: § 47 VwVG sei auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden; das VwVG sei erst am 1. April 1955 in Kraft getreten; aber selbst wenn man § 47 VwVG anwende, sei der Rückforderungsanspruch unbegründet; die Leistungen, die in Bayern im Schnellverfahren gewährt worden seien, seien mehr als reine Vorschüsse; sie seien einer endgültigen Rente gleichzustellen; er habe dem VersorgA. am 19. März 1947, 12. April 1949, 22. Mai 1950 und 25. Mai 1951 Mitteilung über seine Einkommensverhältnisse gemacht; die fortlaufende Weitergewährung der Leistungen in gleicher Höhe habe bei ihm den Eindruck des rechtmäßigen Bezugs erweckt; er habe nicht wissen können, daß seine Rente geringer als diese Bezüge sein werde; im übrigen sei ihm die Rückzahlung nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zumutbar; die Rückforderung verstoße auch gegen Treu und Glauben.
Der Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.
1.) Das LSG., das den Anspruch des Beklagten auf Rückzahlung von 657,60 DM als berechtigt angesehen hat, ist davon ausgegangen, daß der Kläger Versorgungsbezüge in Höhe dieses Betrages im Sinne des § 47 VwVG "zu Unrecht" empfangen habe; es hat dies offensichtlich deshalb angenommen, weil die Bezüge, die in der Zeit vom 1. Februar 1947 bis 31. Juli 1951 an den Kläger tatsächlich gezahlt worden sind, um 657,60 DM höher sind als die Beträge, die dem Kläger für die gleiche Zeit zustehen, wenn von dem Bescheid vom 22. Juni 1951 ausgegangen wird. Dabei ist aber übersehen, daß hieraus allein noch nicht geschlossen werden darf, daß der Kläger 657,60 DM "zu Unrecht" erhalten hat. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob der Beklagte berechtigt gewesen ist, durch das Geltendmachen des Rückforderungsanspruchs von 657,60 DM in dem Umanerkennungsbescheid vom 22. Juni 1951 gleichzeitig auch die "Benachrichtigung" vom 28. Oktober 1948, auf der die Zahlungen in der Zeit vom 1. Februar 1947 bis 31. Juli 1951 beruht haben, teilweise zu widerrufen. Nur wenn dies zu bejahen ist, ergibt sich die weitere Frage, ob und in welchem Umfang ein Rückforderungsanspruch des Beklagten gegeben ist.
2.) Die "Benachrichtigung" vom 28. Oktober 1948, mit der dem Kläger "auf seine KB-Rente ein laufender Vorschuß von 66,-- DM" bewilligt worden ist, ist rechtlich ein Verwaltungsakt, dem ein Widerrufsvorbehalt beigefügt ist. Dies ergibt sich schon aus Begriff und Wesen der vorschußweisen Zahlung. Der Vorbehalt hat hier den Zweck, klarzustellen, daß - wie in dem Bescheid auch ausdrücklich gesagt ist - die Bezüge endgültig, auch für die rückliegende Zeit, zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt werden sollen und daß weiterhin - was nicht ausdrücklich gesagt ist, sich aber schon aus dem Wort "Vorschuß" ergibt - nach dieser Feststellung ermittelt werden soll, ob das VersorgA. in der rückliegenden Zeit zuviel oder zuwenig gezahlt hat. Der Beklagte ist auch berechtigt gewesen, einen solchen Verwaltungsakt mit Widerrufsvorbehalt zu erlassen. Zwar darf sich eine Verwaltungsbehörde den Widerruf eines Verwaltungsakts nicht vorbehalten, wenn sie zum Erlaß eines bestimmten Verwaltungsakts gesetzlich verpflichtet ist (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, I. Band, 6. Aufl., S. 193; Ipsen, Widerruf gültiger Verwaltungsakte, S. 154; Jung, Deutsches Verwaltungsblatt, 1957 S. 708 [709]). Ein Verwaltungsakt, der lediglich einen Vorschuß bewilligt, darf deshalb nicht erlassen werden, wenn schon ein Anspruch auf Zahlung einer endgültig feststellbaren Rente besteht. Im vorliegenden Fall ist es aber nach Art. 1 KBLG in Verbindung mit § 1587 der Reichsversicherungsordnung (RVO) möglich gewesen, monatliche Vorschußzahlungen zu bewilligen. Der Verwaltungsakt, der in der "Benachrichtigung" liegt, ist hiernach ein rechtmäßiger Verwaltungsakt; er ist auch nicht etwa nur zur Zeit seines Erlasses rechtmäßig gewesen und später rechtswidrig geworden; zwar ist es durchaus möglich, daß das VersorgA. beim Erlaß des Verwaltungsakts auf Grund der Angabe "Versehrtenstufe II" in dem "Befundschein" vom 2. Januar 1946 von einer MdE. von 60 v.H. ausgegangen ist; daraus, daß es in dem Bescheid vom 22. Juni 1951 eine MdE. von nur 50 v.H. festgestellt hat, ist aber nicht zu folgern, daß der Verwaltungsakt vom 28. Oktober 1948 später teilweise rechtswidrig geworden ist, denn Gegenstand der "Regelung" dieses Verwaltungsakts ist lediglich die Bewilligung der Vorschußzahlungen, nicht aber die Festsetzung der MdE. gewesen.
3.) Auch der vorbehaltene Widerruf gibt der Verwaltungsbehörde nicht das Recht, von ihm nach freiem Belieben Gebrauch zu machen; die Rechtmäßigkeit des Widerrufs findet nicht lediglich am Willkürverbot ihre Grenze; auch ein unter Widerrufsvorbehalt stehender begünstigender Verwaltungsakt ist dazu bestimmt, Rechte und Rechtslagen des Betroffenen zu schützen (vgl. Forsthoff a.a.O. S. 234). Der Widerruf, der sich auf einen Vorbehalt stützt, kann deshalb nur als rechtmäßig angesehen werden, wenn es pflichtmäßigem Verwaltungsermessen entsprochen hat, von ihm Gebrauch zu machen (vgl. Forsthoff a.a.O. S. 234 ["sachliches Motiv"]; Wolff, Verwaltungsrecht I, 2. Aufl., S. 234 ["triftige Gründe"]; Haueisen, NJW. 1955 S. 1460 unter III 3b). Ob diese Voraussetzung vorliegt, ist immer nur für den einzelnen Fall zu entscheiden. Allgemein ist zu sagen, daß dem Ermessensspielraum um so engere Grenzen zu ziehen sind, je länger die Behörde den mit Widerrufsvorbehalt versehenen Verwaltungsakt hat bestehen lassen. Im vorliegenden Fall hat der Beklagte die Rente des Klägers erst am 22. Juni 1951 endgültig festgesetzt; der Kläger hat den Vorschuß mehr als 2 1/2 Jahre lang laufend erhalten. Durch die jahrelange Gewährung der Leistungen in unveränderter Höhe hat bei dem Kläger der Eindruck erweckt werden müssen, sein Anspruch auf Rente erreiche mindestens diese Höhe; das muß um so mehr gelten, als der Kläger seiner Pflicht, jede Änderung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse anzuzeigen (vgl. dazu Urteil des Senats vom 12.2.1958, 11/9 RV 948/55), unstreitig wiederholt und einwandfrei genügt hat, ohne daß daraufhin die Leistungen geändert worden sind oder dem Kläger auch nur mitgeteilt worden ist, daß er mit einer Änderung der Bezüge zu rechnen habe. Wie der Beklagte selbst ausführt, sind die monatlichen Vorschüsse auf die Rente gewährt worden, um der Notlage des Klägers Rechnung zu tragen; um so mehr hat der Beklagte darauf bedacht sein müssen, alsbald die "richtige Rente" festzustellen; nach Lage der Sache hat er nicht erwarten dürfen, daß der Kläger damit rechnen werde, eines Tages eine etwaige, ihm auch nicht annähernd bekannte "Überzahlung" ausgleichen zu müssen (vgl. hierzu auch die GE. des Bayer. LVAmts vom 26.5.1951, Breith. 1951 S. 1162). Unter diesen Umständen ist das Vertrauen des Klägers darauf, daß die "Benachrichtigung" vom 28. Oktober 1948 durch die "endgültige Rentenfeststellung" jedenfalls für die Vergangenheit nicht zu seinem Nachteil geändert werde, zu schützen. Wenn der Beklagte trotzdem mit dem Bescheid vom 22. Juni 1951 den Verwaltungsakt, den diese "Benachrichtigung" dargestellt hat, teilweise widerrufen hat, so entspricht der Widerruf, obwohl er vorbehalten worden ist, nicht mehr pflichtmäßigem Verwaltungsermessen; er ist deshalb rechtswidrig und kann nicht dazu führen, festzustellen, daß der Kläger 657,60 DM "zu Unrecht" erhalten hat (im Ergebnis ebenso Urteil des Bayer. LSG. vom 10.11.1954, Amtsbl. des Bayer. Arbeitsministeriums, 1955 S. B 30 Nr. 83). Daraus folgt, daß die Revision des Klägers begründet ist; das angefochtene Urteil des LSG. ist deshalb aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des OVA. München vom 14. Januar 1952 zurückzuweisen; nach diesem Urteil ist der Beklagte allerdings nur verpflichtet, den "Überempfang" von 657,60 DM "in Ausgabe zu belassen" und die einbehaltenen Rententeile zu erstatten; der Senat hat aber das Urteil des OVA. insoweit schon deshalb nicht zum Nachteil des Beklagten abändern dürfen, weil dagegen nur der Beklagte Berufung eingelegt hat; jedenfalls ist aber diese Berufung nicht begründet gewesen; auch nach der Rechtsauffassung des OVA. hat der Beklagte keinen Anspruch auf Rückzahlung eines Teils der Vorschüsse.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen