Entscheidungsstichwort (Thema)
Blinde als Stenotypisten und Maschinenschreiber
Leitsatz (amtlich)
Blinde können zwar weitgehend als vollwertige Arbeitskräfte tätig sein; ob dies der Fall ist, muß aber in jedem Einzelfall geprüft und festgestellt werden. Im vorliegenden Fall kann der Kläger trotz seiner Umschulung als Stenotypist und Maschinenschreiber nur in beschränktem Maße eingesetzt werden.
Normenkette
RVO § 1293 Abs. 2; SVD 3 Nr. 1 Fassung: 1945-10-14
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. März 1956 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 22. Oktober 1954 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der 1924 geborene Kläger war von 1940 bis 1942 Maschinenbaupraktikant. Er besuchte während dieser Zeit eine technische Abendschule und bestand die Ausleseprüfung für eine Ingenieurschule. Nachdem er in der Folgezeit ein Semester an einer Staatlichen Ingenieurschule studiert hatte, wurde er zur Wehrmacht eingezogen. 1945 verlor er durch Granatsplitter das rechte Auge und erblindete an dem linken. Nach Beendigung der Umschulung ist er seit dem 1. April 1949 als Stenotypist und Maschinenschreiber bei der Firma M... und P..., H..., tätig, die etwa 2.000 Arbeiter und Angestellte beschäftigt. Er bezieht dort ein Gehalt von zuletzt 390,-- DM monatlich.
Die Beklagte hat durch Bescheid vom 19. März 1953 dem Kläger die seit 1. Januar 1946 gewährte Invalidenrente mit Wirkung vom 1. Mai 1953 entzogen. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Berufung eingelegt, die nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Sozialgericht (SG.) Hamburg als Klage übergegangen ist. Das SG. hat die Beklagte auf Grund einer schriftlichen Auskunft der Arbeitgeberin über die Leistungen des Klägers und nach Einholung zweier ärztlicher Gutachten durch Urteil vom 22. Oktober 1954 zur Weiterzahlung der Rente verurteilt, da keine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten und der Kläger nicht wieder in der Lage sei, die für ihn maßgebende Lohnhälfte zu verdienen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht nach Vernehmung von Zeugen über die Arbeitsleistungen des Klägers und nach Anhörung des Gerichtsarztes durch Urteil vom 22. März 1956 die Klage abgewiesen: Nach Ziff. 1 der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 vom 14. Oktober 1945 in Verbindung mit § 1293 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - a.F. - sei die Entziehung der Rente auch ohne wesentliche Änderung der Verhältnisse zulässig, wenn der Versicherte nicht mehr invalide sei. Blinde Personen seien zwar in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert, aber keineswegs stets wettbewerbsunfähig.
Es komme vielmehr darauf an, ob der Blinde ohne Berücksichtigung der für Schwerbeschädigte geltenden Schutzvorschriften eine die Invalidität ausschließende Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leisten könne. Das sei hier der Fall. Der Kläger ersetze, wie die Beweisaufnahme ergeben habe, nahezu eine volle Arbeitskraft. Sein Gehalt entspreche auch dem Wert seiner tatsächlichen Arbeitsleistung; es übersteige die Hälfte dessen, was er als technischer Angestellter verdienen würde. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat gegen das am 26. April 1956 zugestellte Urteil am 14. Mai 1956 Revision eingelegt und sie am 20. Juni 1956 begründet. Er rügt fehlerhafte Anwendung des Invaliditätsbegriffs und ist der Auffassung, völlige Erblindung habe immer Invalidität zur Folge; wirtschaftliche Gesichtspunkte dürften deshalb nicht berücksichtigt werden. Für einen Erblindeten bedeute die Arbeit nicht den Erwerb der Lohnhälfte, sondern die einzige Möglichkeit zur Erhaltung seines Lebenswillens. Wenn der Kläger mehr als die Lohnhälfte verdiene, so stehe dem auch eine weit höhere Energieleistung gegenüber, als ein Gesunder sie für gleichartige Leistungen erbringen müsse.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. März 1956 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 22. Oktober 1954 zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte bittet um
Zurückweisung der Revision.
Sie ist der Auffassung, der Kläger stelle eine vollwertige Arbeitskraft dar und sei deshalb nicht als invalide anzusehen.
II.
Die nach § 161 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet, da der Kläger einen Anspruch auf Weiterzahlung der Rente über den Entziehungszeitpunkt hinaus hat. Dabei ist die Frage nach der Berechtigung des Rentenanspruchs für die Zeit bis zum 31. Dezember 1956 nach dem bis dahin geltenden Recht der RVO a.F. und seit dem 1. Januar 1957 nach dem neuen Recht des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zu beurteilen (Urteil des erkennenden Senats vom 17.12.1957 - 3 RJ 160/55 - SozR. RVO § 1293 a.F. Bl. Aa 4 Nr. 5). Die Beklagte wäre nach § 1293 Abs. 2 RVO a.F. in Verbindung mit Nr. 1 der SVD Nr. 3 vom 14. Oktober 1945 zur Entziehung der Rente berechtigt gewesen, wenn eine neue Prüfung ergeben hätte, daß der Kläger nicht mehr invalide ist (vgl. BSG. 2 S. 188). Der Kläger ist aber noch invalide.
Wenn das Landessozialgericht bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers davon ausgegangen ist, der Kläger leiste eine nahezu vollwertige Arbeit und könne durch eine gleichartige Tätigkeit auch in einem anderen Betrieb mindestens die Hälfte dessen erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen (§ 1254 RVO a.F.), so hat es den Begriff der Invalidität verkannt und das Ergebnis der von ihm erhobenen Beweise nur unvollständig berücksichtigt. Es hätte bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt das gesamte Beweisergebnis, insbesondere alle wesentlichen Zeugenaussagen, die durch die Bezugnahme im Tatbestand des Urteils auch Gegenstand des Urteils geworden sind, zugrunde legen müssen.
Es ist zwar richtig, daß der Kläger im Betrieb der Firma M... und H... eine für bestimmte Betriebszwecke verwertbare Arbeit leistet. Dies beruht aber nicht auf seinen dabei erbrachten Leistungen, sondern auf den Besonderheiten des Betriebes. Der Kläger ist als Stenotypist und Maschinenschreiber einem Übersetzer der Auslandskorrespondenz, dem Zeugen St... zugewiesen, der sich in seiner Arbeitsweise weitgehend der Leistungsfähigkeit des blinden Klägers angepaßt hat. Die Arbeit mit dem Kläger ist für den Zeugen umständlich, weil Änderungen im Diktat sehr schwierig sind und eine erhebliche Verzögerung mit sich bringen. Im Gegensatz zum Diktat bei anderen Stenotypisten müssen dem Kläger auch Adressen, Schluß usw. mitdiktiert werden. Ferner dauert die Übertragung bei ihm länger als bei anderen Schreibkräften. Er ist nach Aussage des Zeugen St... mit einem Stenotypisten mit Schreibblock nicht zu vergleichen. Sehr wesentlich ist schließlich, daß die Arbeiten des Klägers nur für den inneren Betrieb verwertbar sind, für die Fertigung ausgehender Post kann er dagegen nicht eingesetzt werden. Er macht insbesondere Tippfehler, deren Beseitigung ihm als Blinden nicht möglich ist.
Zwar können Blinde weitgehend als vollwertige Arbeitskräfte tätig sein, wenn sie auf einen geeigneten Arbeitsplatz vermittelt werden und wenn ihnen Gelegenheit geboten wird, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse in der ihnen möglichen Form einzusetzen und weiterzuentwickeln. Ob dies der Fall ist, muß in jedem Einzelfall geprüft und festgestellt werden (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 16.6.1956 - 3 RJ 83/54 -; Urteil des 1. Senats vom 28.4.1959 - 1 RA 157/57 -); ein allgemeiner Erfahrungssatz, wonach Blinde schlechthin invalide oder nicht invalide sind, besteht nicht. Der Kläger kann trotz seiner Umschulung als Stenotypist und Maschinenschreiber nur in beschränktem Maße eingesetzt werden. Bei seiner nur für den Innendienst verwertbaren Arbeit muß auf seinen Zustand weitgehend Rücksicht genommen werden. Der Auffassung des Landessozialgerichts, der Kläger ersetze nahezu eine volle Arbeitskraft, kann daher nicht beigetreten werden. Die Leistung des Klägers ist mit dem, was eine gesunde Schreibkraft zu leisten vermag, nicht zu vergleichen. Arbeitsplätze, wie sie der Kläger bei seiner jetzigen Arbeitgeberin versieht, sind auf dem allgemeinen Arbeitmarkt nur in so geringem Maße vorhanden, daß sie praktisch außer acht bleiben müssen. Im freien Wettbewerb wäre der Kläger nicht in der Lage, durch seine Arbeit die Hälfte dessen zu erwerben, was ein Gesunder verdienen könnte. Dabei kann es offen bleiben, ob bei der Ermittlung des Vergleichslohnes von dem erstrebten Beruf des Klägers als Ingenieur oder von dem Einkommen auszugehen ist, das der Kläger ohne Studium bei Fortsetzung seiner Praktikantentätigkeit tatsächlich erzielt hätte, nämlich von dem Lohn eines gelernten Facharbeiters. Selbst wenn man von diesem ausgehen wollte, so würde der Lohn, den der Kläger durch seine Arbeitsleistungen als Maschinenschreiber und Stenotypist im freien Wettbewerb erzielen könnte, die Hälfte des Lohnes eines Facharbeiters, der etwa 400,-- DM im Monat verdient, nicht erreichen. Der Kläger ist daher nach dem bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Recht als invalide anzusehen.
Auch für die Zeit nach dem 1. Januar 1957 ist die Beklagte zur Weitergewährung der Rente verpflichtet, da der Kläger nach § 1246 RVO n.F. als berufsunfähig anzusehen ist. Denn infolge seiner Erblindung ist seine Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken.
Auf die Revision des Klägers ist das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts demnach aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen