Leitsatz (amtlich)
Der Gemeinsame Erlaß des RAM und des RMdI vom 1942-09-05 -Halbierungserlaß- (AN 1942, 490) bezieht sich nur auf die Unterbringung von Geisteskranken in Heil- und Pflegeanstalten. Er findet daher bei Einweisung eines geisteskranken Versicherten oder mitversicherten Angehörigen in eine Nervenklinik keine Anwendung.
Leitsatz (redaktionell)
Über Ersatzansprüche des Fürsorgeträgers (Sozialhilfeträgers) kann die Krankenkasse nicht durch Verwaltungsakt entscheiden, weil zwischen ihr und dem Fürsorgeträger (Sozialhilfeträger) kein Unterordnungsverhältnis besteht.
Normenkette
RAM/RMdIErl 1942-09-05
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 1. Juli 1959 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft den Ersatz von Kosten, die der klagende Fürsorgeträger für die Krankenhauspflege des 15-jährigen geistesschwachen Kindes Helmut D in der Universitäts-Nervenklinik Würzburg in der Zeit vom 28. April bis zum 31. Mai 1954 aufgewendet hat.
Das Kind, dessen Vater während dieser Zeit der beklagten Ersatzkasse als Mitglied angehörte, wurde von der behandelnden Ärztin wegen eines erheblichen Erregungszustandes in das Luitpold-Krankenhaus Würzburg eingewiesen. Dieses veranlaßte wegen des unbeherrschten Schreiens des Kindes seine Überführung in die Universitäts-Nervenklinik Würzburg. Dort stellten die Ärzte der Universitäts-Ohrenklinik in ambulanter Behandlung einen obturierenden Polypen mit starker eitriger Sekretion im linken Ohr fest. Nach seiner Entfernung klang der Erregungszustand des Kindes ab, so daß es in häusliche Pflege entlassen werden konnte. Die beklagte Ersatzkasse erklärte sich durch Bescheid vom 31. August 1954 bereit, die Hälfte der durch die Unterbringung in der Nervenklinik entstandenen Kosten auf Grund des Gemeinsamen Erlasses des Reichsarbeitsministers und des Reichsministers des Innern vom 5. September 1942 (AN 1942, 490) - sog. Halbierungserlaß - zu ersetzen. Demgegenüber vertrat der Fürsorgeträger die Auffassung, dieser Erlaß, der die Beziehungen der Fürsorgeverbände zu den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung bei der Unterbringung von Geisteskranken in einer Heil- oder Pflegeanstalt regelt, sei nicht anzuwenden, weil es sich nicht um einen "Pflegefall wegen Geisteskrankheit" gehandelt habe, das Kind vielmehr aus anderer Ursache, nämlich wegen eines Ohrenleidens klinischer Behandlung bedurft habe. Der Fürsorgeträger erhob - nach Zurückweisung seines "Widerspruchs" durch Bescheid vom 13. Juni 1955 - Klage beim Sozialgericht (SG) Würzburg mit dem Antrag, die Bescheide der beklagten Ersatzkasse aufzuheben und diese zu verurteilen, die gesamten Kosten der Krankenhausbehandlung zu ersetzen. Er berief sich auf zwei Mitteilungen der Universitäts-Nervenklinik vom 6. Juli und 7. Oktober 1954, in denen die Auffassung vertreten wurde, daß die akute Ohrenerkrankung die Klinikaufnahme notwendig gemacht habe.
Die beklagte Ersatzkasse beantragte Abweisung der Klage. Sie bezog sich auf die Stellungnahme der Vertrauensärztlichen Dienststelle Würzburg vom 30. November 1954 und ihres beratenden Arztes Dr. Dr. D vom 10. Juni 1955, wonach die Einweisung des Kindes in die Psychiatrische Klinik wegen des mit dem Schwachsinn verbundenen Erregungszustandes notwendig gewesen sei.
Das SG hob den Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 1955 auf und verurteilte die Beklagte dem Grunde nach, dem Kläger in vollem Umfang Ersatz für diejenigen Aufwendungen zu leisten, die durch den Krankenhausaufenthalt des Kindes in der Zeit vom 28. April bis 31. Mai 1954 einschließlich Transportkosten erwachsen sind. Die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 30. Mai 1956). Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Der Ersatzanspruch sei nach §§ 1531 bis 1533 der Reichsversicherungsordnung (RVO) begründet. Die Satzung der beklagten Ersatzkasse sehe in § 21 Ziffer 1 Buchst. d anstelle der Familienkrankenpflege auch Krankenhauspflege für 13 Wochen vor. Der Halbierungserlaß vom 5. September 1942 sei nicht anwendbar, denn er setze die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt wegen Geisteskrankheit voraus. Der Erlaß habe den Zweck, die Prüfung der Frage zu vermeiden, ob der Geisteskranke in seinem eigenen Interesse in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht oder ob dies vorwiegend aus sicherheitspolizeilichen Gründen veranlaßt sei, und die Verwaltungsarbeit der beteiligten Stellen zu vereinfachen. Das Kind sei jedoch eindeutig nicht wegen Gemeingefährlichkeit, sondern ausschließlich in seinem eigenen Interesse in der Nervenklinik untergebracht worden. Nach der Äußerung der Nervenklinik sei bei ihm nicht die Geistesschwäche Ursache der Erkrankung und Einweisung gewesen, sondern eine davon unabhängige akute Ohrenerkrankung. Es habe sich um eine medizinisch notwendige Krankenhausbehandlung gehandelt, so daß der Ersatzanspruch des Fürsorgeträgers in vollem Umfang begründet sei.
Gegen dieses Urteil legte die beklagte Ersatzkasse Berufung ein und trug zur Begründung vor, sie habe nicht ermessenswidrig gehandelt, wenn sie auf Grund des Halbierungserlasses, der bei der Behandlung mitversicherter geisteskranker Angehöriger anzuwenden sei, es abgelehnt habe, die vollen Kosten der Krankenhauspflege zu tragen.
Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Ersatzkasse zurück und ließ die Revision zu (Urteil vom 1. Juli 1959). Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Die Beklagte sei nach § 1533 Nr. 3 Satz 1 RVO zum Ersatz der von dem Fürsorgeträger aufgewendeten Krankenhauspflegekosten verpflichtet, weil die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung von den Ärzten der Klinik bestätigt worden sei und von der Beklagten selbst nicht bestritten werde. Die Beklagte könne sich auf den Halbierungserlaß vom 5. September 1942 nicht berufen, weil das geisteskranke Kind nicht wegen einer Geisteskrankheit in eine Heil- und Pflegeanstalt, sondern zur Behandlung eines Ohrenleidens in ein Krankenhaus (Nervenklinik) aufgenommen worden sei. Der Halbierungserlaß beziehe sich auf die Unterbringung von Geisteskranken in einer Heil- und Pflegeanstalt. Die Universitätsnervenklinik sei aber keine Heil- und Pflegeanstalt im Sinne dieses Erlasses. Die Krankenhäuser und Kliniken gehörten zwar zu den Heilanstalten im weiteren Sinne, sie dienten der ärztlichen Behandlung meist akut erkrankter Personen. Die Aufnahme in eine Heil- und Pflegeanstalt setze aber, ähnlich wie bei einer Heilstätte, nicht nur die Notwendigkeit ärztlicher Behandlung, sondern auch der Anstaltspflege und damit Hilflosigkeit voraus. Die Heil- und Pflegeanstalt diene somit im allgemeinen der Betreuung chronisch und schwer heilbarer geisteskranker Personen, wobei die rein ärztliche Behandlung gegenüber den pflegerischen Maßnahmen zurücktrete. Der Halbierungserlaß beschränke sich bewußt auf die Unterbringung Geisteskranker in einer Heil- und Pflegeanstalt und umfasse nicht jede Aufnahme eines an sich Geisteskranken in ein Krankenhaus oder in eine Nervenklinik. Der Zweck des Erlasses sei, wie sich aus den einleitenden Bemerkungen eindeutig ergebe, Streitigkeiten über die Ersatzpflicht der Krankenkassen gegenüber den Fürsorgeverbänden zu beseitigen, die sich aus der Frage ergäben, ob die nicht durch die Krankenkasse veranlaßte Unterbringung eines Geisteskranken in einer Heil- und Pflegeanstalt in seinem eigenen Interesse geschehen oder vorbeugend aus sicherheitspolizeilichen Gründen vorgenommen worden sei. Streitigkeiten dieser Art träten regelmäßig nur bei Unterbringung eines Geisteskranken in einer Heil- und Pflegeanstalt auf und nicht bei einer auf ärztliche Anordnung vorgenommenen Aufnahme in ein Krankenhaus oder eine Nervenklinik. Im übrigen finde der Erlaß nur Anwendung in Fällen, in denen die Unterbringung und Behandlung in der Heil- und Pflegeanstalt wegen einer Geisteskrankheit erfolge. Das Kind sei jedoch, wie das SG zutreffend festgestellt habe, nicht wegen seiner geistigen Erkrankung, sondern wegen einer davon unabhängigen Ohrenerkrankung von der behandelnden Ärztin in das Luitpold-Krankenhaus in Würzburg eingewiesen und nach der vorsorglichen oder sogar irrtümlichen Verlegung in die Nervenklinik dort wegen eines Ohrenleidens behandelt worden.
Die beklagte Ersatzkasse hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie trägt zur Begründung der Revision vor: Bei seiner Feststellung, das geisteskranke Kind sei nicht wegen einer Geisteskrankheit, sondern zur Behandlung eines Ohrenleidens in ein Krankenhaus aufgenommen, übersehe das LSG, daß als ärztliche Begründung für die Klinikaufnahme in dem Antrag vom 28. April 1954 "Idiotie" angegeben worden sei. Wenn das LSG diesen Umstand nicht berücksichtigt, sondern entgegen der ausdrücklichen Diagnose erklärt habe, die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung sei in dem Ohrenleiden zu suchen, so liege darin ein Verfahrensmangel. Es handele sich im vorliegenden Fall um ein Kind, dessen besonderer Erregungszustand mit dem angeborenen Schwachsinn in ursächlichem Zusammenhang stehe. Im Hinblick auf die von einander teilweise abweichenden ärztlichen Gutachten hätte das LSG ein Obergutachten einholen müssen.
Der Auffassung, der Halbierungserlaß sei deshalb nicht anwendbar, weil das Kind nicht in eine Heil- und Pflegeanstalt, sondern in eine Nervenklinik eingewiesen worden sei, könne nicht gefolgt werden. Zur Behandlung akut erkrankter Geisteskranker sei ein Krankenhaus oder eine Klinik, insbesondere aber eine Nervenklinik einer Heil- und Pflegeanstalt gleichzusetzen.
Der klagende Fürsorgeverband beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 29. Januar 1959 (BSG 9, 112) entschieden, daß der Gemeinsame Erlaß des Reichsarbeitsministers und des Reichsministers des Innern vom 5. September 1942 betr. die Beziehungen der Fürsorgeverbände zu den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung bei der Unterbringung von Geisteskranken (AN 1942, 490) - sog. Halbierungserlaß - eine Rechtsverordnung darstellt, die wirksam zustande gekommen und weiterhin gültig ist, soweit die beteiligten Fürsorgeträger (jetzt Träger der Sozialhilfe) und Versicherungsträger ihre Anwendung nicht vertraglich einschränken oder ausschließen. An dieser Rechtsauffassung hat der Senat auch in seiner Entscheidung vom 20. Dezember 1961 festgehalten und weiterhin ausgesprochen, daß die Krankenkasse rechtswidrig handelt, wenn sie im Hinblick auf den Halbierungserlaß die stationäre Behandlung eines geisteskranken Versicherten (Familienangehörigen) trotz offensichtlicher Behandlungsbedürftigkeit ablehnt (BSG 16, 84).
Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, beschränkt sich der Halbierungserlaß bewußt auf die Unterbringung Geisteskranker in einer Heil- und Pflegeanstalt, er bezieht sich aber nicht auf die stationäre Behandlung eines Geisteskranken in einem allgemeinen Krankenhaus oder in einer Nervenklinik. Das LSG weist mit Recht auf die einleitenden Bemerkungen des Erlasses hin, die deutlich seinen Sinn und Zweck erkennen lassen. Durch die in dem Erlaß getroffene Regelung sollen Streitigkeiten zwischen den Fürsorgeverbänden und den Krankenkassen vermieden werden, die sich aus der Frage ergeben, ob die nicht durch die Krankenkasse veranlaßte Aufnahme eines Geisteskranken in eine Heil- oder Pflegeanstalt ganz oder überwiegend durch das eigene Interesse des Kranken geboten war, oder ob sich die Unterbringung vorwiegend aus Gründen der öffentlichen Sicherheit als notwendig erwies. Das LSG hat mit Recht darauf hingewiesen, daß Streitigkeiten dieser Art regelmäßig nur bei der Unterbringung eines Geisteskranken in einer Heil- und Pflegeanstalt auftreten, nicht aber bei einer auf ärztlicher Anordnung beruhenden Aufnahme in ein allgemeines Krankenhaus oder eine Nervenklinik. Die Heil- und Pflegeanstalten, die in einigen Bundesländern jetzt die Bezeichnung Landeskrankenhaus führen, sind neben der Heilbehandlung auch auf die Verwahrung und Betreuung von Geisteskranken eingestellt, während dies bei den allgemeinen Krankenhäusern und den Nervenkliniken grundsätzlich nicht der Fall ist. Es trifft zu, daß heute wie auch früher in den klinischen Abteilungen der Heil- und Pflegeanstalten in gleicher Weise wie in Nervenkliniken eine Heilbehandlung der Erkrankten stattfindet. Es gehörte aber schon immer zu den besonderen Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten, Geisteskranke aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zu verwahren und zu betreuen. Die allgemeinen Krankenhäuser und Nervenkliniken sind demgegenüber ausschließlich für die Heilbehandlung eingerichtet und haben regelmäßig nicht die Aufgabe, Geisteskranke zu verwahren. Deshalb geht es nicht an, die Einweisung eines Geisteskranken in eine Nervenklinik der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt gleichzustellen. Das Berufungsgericht hat daher unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des Halbierungserlasses mit Recht angenommen, daß er auf den vorliegenden Fall schon deshalb nicht angewandt werden kann, weil die Behandlung des Kindes in einer Nervenklinik stattgefunden hat.
Da die beklagte Ersatzkasse wegen der Notwendigkeit der stationären Behandlung nicht berechtigt war, die Krankenhauspflege zu versagen, so ist sie verpflichtet, dem Fürsorgeträger die durch die Unterbringung in der Zeit vom 28. April bis zum 31. Mai 1954 entstandenen Aufwendungen in voller Höhe zu ersetzen (§§ 1531 ff. RVO; vgl. BSG 9, 112, 113). Zu diesen Kosten gehören auch die Kosten des Krankentransports, die mit der Behandlung in der Universitäts-Nervenklinik im Zusammenhang stehen (vgl. BSG 16, 84, 90). Im übrigen war die beklagte Ersatzkasse nicht befugt, über den Ersatzanspruch des Fürsorgeträgers durch Verwaltungsakt zu entscheiden, weil zwischen den Trägern der Fürsorge (jetzt Sozialhilfe) und den Krankenkassen kein Unterordnungsverhältnis besteht (vgl. BSG 10, 260, 263).
Die Revision der beklagten Ersatzkasse ist mithin als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen