Entscheidungsstichwort (Thema)

Familienzuschlag für die Mutter

 

Leitsatz (amtlich)

Die Mutter ist zu den Angehörigen zu rechnen, für die Familienzuschlag zu zahlen ist, wenn ihr ganz oder überwiegend Unterhalt gewährt worden ist oder im Falle der Leistungsfähigkeit des Unterstützungsberechtigten zu gewähren wäre. Erreichen Lebensmittelsendungen an die Mutter je Monat durchschnittlich nur einen Wert von 13,33 DM und sind sonstige Unterhaltsleistungen an sie nicht nachgewiesen, so ist nicht festzustellen, daß sie ganz oder überwiegend Unterhalt bezogen hat.

 

Normenkette

AVAVG § 103 Abs. 1, 2 S. 1

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. Februar 1955 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts Dr. H., H, vor dem Bundessozialgericht wird auf 80,- DM festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I Der 1910 geborene Kläger, der gelernter Fleischer ist, war nach 1945 auch in anderen Berufen, u. a. als Schädlingsbekämpfer (Desinfektor) sowie als Angestellter in der Filmwirtschaft tätig. Bereits 1950 hatte er sich einmal beim Arbeitsamt H arbeitslose gemeldet. Die ihm seinerzeit zunächst bewilligte Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu) war im Verwaltungswege später auf Arbeitslosenunterstützung (Alu) umgestellt worden. Damals war dem Kläger auch - auf seinen Einspruch hin - Familienzuschlag hierzu für seine im sowjetisch besetzten Teil Berlins lebende Mutter bewilligt worden, weil das Arbeitsamt nachträglich unterstellte, daß sie von ihm überwiegend unterhalten wurde. Die 1884 geborene Mutter hatte der Kläger 1950 im Antragsvordruck als einzige Angehörige angegeben.

Nach Ausscheiden aus dem Unterstützungsbezug und verschiedenen zwischenzeitlichen Beschäftigungen arbeitete der Kläger laut Arbeitsbescheinigung vom 16. Oktober 1951 bis 15. März 1952 für eine Firma "So - Wo", Soziale Wohnungsbau-Lotterie in H. Dieses Beschäftigungsverhältnis wurde gelöst, weil Streit über das Bestehen eines entgeltlichen Arbeitsverhältnisses entstanden und die Firma zahlungsunfähig geworden war.

Vom 16. März 1952 bis 12. Januar 1953 sind keine Beschäftigungsverhältnisse des Klägers nachgewiesen. Seinen eigenen Angaben nach lebte er in dieser Zeit u. a. von dem Erlös verpfändeter Gegenstände und aus einem aufgewerteten Bankguthaben.

II Am 13. Januar 1953 meldete sich der Kläger neuerdings arbeitslos. Im Formblatt gab er jetzt als Angehörige seine Ehefrau E A seine Tochter G A sowie wiederum seine in Berlin-Ost lebende Mutter an. Für diese drei Personen beantragte er die Familienzuschläge.

Bewilligt wurde dem Kläger Alfu mit Familienzuschlägen für die Ehefrau und das Kind. Mit Bescheid des Arbeitsamts H vom 20. April 1953 wurde der Familienzuschlag für die Mutter in Berlin-Ost abgelehnt. Der Einspruch des Klägers wurde durch Entscheidung des Spruchausschusses des Arbeitsamts H vom 4. September 1953 mit der Begründung zurückgewiesen, daß er seine Mutter vor der Arbeitslosmeldung nicht überwiegend unterhalten habe.

Die vom Kläger hiergegen eingelegte Berufung beim Oberversicherungsamt H ging nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht Hamburg über (§ 215 Abs. 2 und 4 SGG). Der Kläger machte geltend, daß ihm schon vom Januar bis Oktober 1950, als er Unterstützung bezog, vom Arbeitsamt H der Familienzuschlag für seine Mutter gewährt worden sei und daß ihm dieser deshalb abermals zustehe, weil in den Verhältnissen seiner Mutter keine Änderungen eingetreten seien. Er habe jetzt die Mutter durch laufende Lebensmittelsendungen tatsächlich vorwiegend unterhalten. Durchschnittlich habe er in drei Monaten zwei Pakete im Werte von je 20,- DM nach Berlin geschickt. Ohne seine Zuwendungen habe seine Mutter, die dort monatlich 50,- DM Ost Unterstützung aus Sozialmitteln und 31.30 DM Ost Miete bezöge, den Lebensunterhalt nicht bestreiten können.

III Durch Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 3. Juni 1954 wurde die Klage abgewiesen. In der Begründung wurde ausgeführt, daß das Gericht sich nicht davon habe überzeugen können, daß der Kläger seine Mutter tatsächlich überwiegend unterhalten habe. Das Sozialgericht erklärte seine Entscheidung "wegen § 147 SGG" für endgültig.

Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht Hamburg mit Urteil vom 17. Februar 1955 das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 3. Juni 1954, den Einspruchsbescheid des Spruchausschusses des Arbeitsamts Hamburg vom 2. September 1953 und den Ablehnungsbescheid des Arbeitsamts Hamburg vom 20. April 1953 auf. Es verurteilte die Beklagte dem Grunde nach, an den Kläger den Familienzuschlag für seine Mutter ab 16. Januar 1953 für die Dauer der Arbeitslosigkeit zu gewähren. Verfahrensrechtlich war das Landessozialgericht der Auffassung, daß die Berufung statthaft sei und daß § 147 SGG ihrer Zulässigkeit nicht entgegenstehe. Diese Vorschrift gehöre zu den prozeßrechtlichen Ausnahmebestimmungen, die eng auszulegen seien. § 147 SGG habe deshalb keine Gültigkeit für die Arbeitslosenfürsorge, sondern nur für die eigentliche Arbeitslosenversicherung. Materiell-rechtlich bejahte das Landessozialgericht die rechtliche Verpflichtung des Klägers zur Unterhaltsgewährung gemäß § 1601 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und die Unterhaltsberechtigung der Mutter nach § 1602 BGB. Im Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung sei der Kläger tatsächlich aber zur Leistung des Unterhalts an die Mutter infolge seiner sonstigen Verpflichtungen nicht fähig gewesen. Des fehlenden Leistungsvermögens wegen entfalle daher die familienrechtliche Unterhaltspflicht nach § 1603 BGB, gleichwohl sei aber der Anspruch auf Zahlung des Familienzuschlags nach § 103 Abs. 2 Satz 1, letzter Halbsatz des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) begründet, weil in diesem Falle der Gesetzeswortlaut die tatsächliche Unterhaltsgewährung nicht voraussetze.

Revision wurde zugelassen.

IV Die Beklagte legte gegen das ihr am 21. März 1955 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 18. April 1955, eingegangen beim Bundessozialgericht am 20. April, Revision ein. Sie beantragte,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise sie als unbegründet zurückzuweisen, hilfsweise die Angelegenheit zur nochmaligen Verhandlung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

In der Revisionsbegründung vom 16. Mai 1955, eingegangen beim Bundessozialgericht vom 18. Mai, wurde verfahrensrechtlich die Nichtanwendung des § 147 SGG gerügt. Materiell-rechtlich machte die Beklagte geltend, § 103 Abs. 2 AVAVG in der Fassung des Anhangs A der Militärregierungsverordnung Nr. 111 für die britische Zone sei vom Berufungsgericht unrichtig angewendet worden. Voraussetzung für die Zahlung des Familienzuschlags nach § 103 Abs. 2 AVAVG sei regelmäßig, daß der Arbeitslose tatsächlich dem Angehörigen ganz oder überwiegend Unterhalt vor Eintritt der Arbeitslosigkeit gewährt habe. Diese Bedingung habe der Kläger hinsichtlich seiner Mutter nicht erfüllt. Die Voraussetzung der vorhergehenden tatsächlichen Unterhaltsgewährung entfalle nach dem Gesetzeswortlaut nur beim nachträglichen Entstehen des Unterhaltsanspruchs sowie ferner in bezug auf Kinder des Arbeitslosen.

Der Kläger und Revisionsbeklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen

und bezog sich im wesentlichen auf die Entscheidungsgründe im Urteil des Landessozialgerichts, die er insgesamt für zutreffend erachtete.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.

V Die - vom Landessozialgericht zugelassene - Revision ist statthaft. Sie ist auch in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt sowie begründet worden.

Bei einer zulässigen Revision hat das Revisionsgericht zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Prozeßvoraussetzungen für das Berufungsverfahren vorgelegen haben (BSG. 2 S. 225).

Die Berufung war in vorliegender Sache statthaft.

Der Streit um den Familienzuschlag betrifft, wie der erkennende Senat schon in mehreren Urteilen des näheren dargelegt hat (vgl. BSG. 3 S. 112 und BSG. 4 S. 133), nicht die Höhe der Unterstützung, sondern den Anspruch insgesamt in seiner Substanz. Der Familienzuschlag ist kein bloßer Erhöhungsbetrag zur Hauptunterstützung, vielmehr Bestandteil der Gesamtunterstützung. Deshalb fand die Berufung nach § 143 SGG statt und war nicht, wie das Sozialgericht angenommen hatte, durch § 147 SGG ausgeschlossen. Das Landessozialgericht seinerseits unterlag einem Rechtsirrtum, wenn es zwar den Rechtsstreit für eine Höhenstreitigkeit ansah, trotzdem aber die Berufung mit der Begründung für statthaft erachtete, daß die Arbeitslosenfürsorge nicht zu den Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung im Sinne des § 147 SGG gehöre, weil dieser als Ausnahmevorschrift eng auszulegen sei. Wie der Senat bereits in seinem Beschluß vom 21. Dezember 1956 (BSG. 4 S. 211) sowie in seinem Urteil vom 28. März 1957 (BSG. 5 S. 92) festgestellt hat, umfaßt der Begriff "Arbeitslosenversicherung" im § 147 SGG gerade auch die Arbeitslosenfürsorge.

VI Die Revision selbst ist begründet.

Materiell-rechtlich tragen die vom Landessozialgericht angestellten Erwägungen nicht die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung des Familienzuschlags für die Mutter des Klägers. Zunächst hat der Vorderrichter die Unterhaltspflicht des Klägers (§ 1601 BGB) sowie die Unterhaltsberechtigung der Mutter (§ 1602 BGB) bejaht und ist zutreffend davon ausgegangen, daß diese nach § 103 AVAVG zu den Angehörigen rechnet, für die Familienzuschläge zu zahlen sind, wenn der Kläger ihr ganz oder überwiegend Unterhalt gewährt hat oder im Falle seiner Leistungsfähigkeit zu gewähren hätte. Sodann verneint der Vorderrichter das Leistungsvermögen des Klägers für die Zeit vor Eintritt seiner Arbeitslosigkeit mit der Folge des Wegfalls der familienrechtlichen Unterhaltsverpflichtung (§ 1603 BGB), gleichwohl billigt er aber den Anspruch auf Familienzuschlag zu. Die Unterstellung einer Leistungsunfähigkeit des Klägers steht im Widerspruch zu den vom Landessozialgericht selbst erhobenen und in den Tatbestand des Berufungsurteils ausdrücklich einbezogenen Tatsachen. Diese Unterstellung ist demzufolge mit den Grundsätzen des § 128 SGG offensichtlich nicht vereinbar. Weder aus der Niederschrift über die öffentliche Sitzung des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. Februar 1955 noch aus den zum Gegenstand der Berufungsverhandlung gemachten Unterstützungsakten der Beklagten über den Kläger werden Anzeichen oder Umstände dafür ersichtlich, daß vor der Arbeitslosmeldung vom 13. Januar 1953 der Unterhalt des Klägers samt Frau und Kind nicht gesichert war. Gegen eine solche Annahme sprechen aber insbesondere die eigenen Angaben des Klägers, der im Termin der mündlichen Verhandlung auf Befragen des Gerichts persönlich erklärt hat, daß seine Einnahmen aus den im einzelnen benannten verschiedenen Quellen es ihm ermöglicht haben, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und seine Mutter zu unterstützen. An die derart in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen ist auch das Bundessozialgericht gebunden (§ 163 SGG).

Dieser Sach- und Rechtslage zufolge kann die Leistungsfähigkeit des Klägers nicht verneint werden. Es war daher lediglich zu beurteilen, ob die Zuwendungen des Klägers an seine Mutter in Berlin-Ost ihrer Höhe nach die gesetzliche Voraussetzung der ganzen oder überwiegenden Unterhaltsgewährung erfüllt haben. Da die Lebensmittelsendungen des Klägers an seine Mutter je Monat durchschnittlich nur einen Wert von 13,33 DM erreichten, sonstige Unterhaltsleistungen des Klägers für sie aber nicht nachgewiesen sind, war nicht festzustellen, daß der Kläger vor Eintritt der Arbeitslosigkeit seiner Mutter ganz oder überwiegend Unterhalt gewährt hat. Mithin rechnet hier die Mutter auch nicht zu den zuschlagsberechtigten Angehörigen nach § 103 Abs. 2 AVAVG; das Begehren des Klägers auf Zahlung des Familienzuschlags für sie ist deswegen unbegründet. Die Bescheide des Arbeitsamts Hamburg und des Spruchausschusses bei diesem Arbeitsamt sowie das Urteil des Sozialgerichts Hamburg entsprechen dieser Rechtslage.

Auf die Revision der Beklagten muß deshalb das entgegenstehende Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben werden; die Klage ist abzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

VII Der erkennende Senat hatte danach - weil die Leistungsfähigkeit des Klägers zur Unterhaltsgewährung vorliegend nicht auszuschließen war - keinen Anlaß, nochmals im einzelnen zu der Auffassung des Landessozialgerichts Stellung zu nehmen, daß im Falle eines Leistungsunvermögens des Unterhaltspflichtigen der Wortlaut des § 103 Abs. 2 AVAVG die vorhergehende tatsächliche Unterhaltsgewährung nicht voraussetze. Unter eingehender Darlegung der Entwicklungsgeschichte des § 103 AVAVG und mit rechtsvergleichenden Ausführungen hat der Senat eine solche Auslegung der Vorschriften über den Familienzuschlag in seinen Urteilen vom 26. November 1956 (BSG. 4 S. 133 ff.) und vom 11. April 1957 (vgl. SozR. zu AVAVG § 103 a. F. Bl. Ba 4 Nr. 4) abgelehnt.

VIII Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1984372

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