Leitsatz (amtlich)
Hat ein nach dem WehrG vom 1935-05-21 Wehrpflichtiger sich zu einer längeren Dienstzeit verpflichtet, so ist der von ihm geleistete aktive Wehrdienst insoweit eine Ersatzzeit iS des AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1), als Wehrdienst bis zur Normalzeit einer aktiven Dienstpflicht noch nicht berufsmäßig geleistet worden ist.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 2 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 3 Abs. 1 Buchst. i Fassung: 1950-12-20; WehrG § 1 Fassung: 1935-05-21, § 4 Fassung: 1935-05-21, § 7 Fassung: 1935-05-21, § 8 Fassung: 1935-05-21; RArbDG § 1 Fassung: 1935-06-26, § 3 Fassung: 1935-06-26
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Oktober 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der 1908 geborene Kläger war von Mai 1935 an bei der Fliegerschule K angestellt. Im Januar 1936 wurde er zur Rekrutenausbildung beim Fliegerausbildungsbataillon S einberufen. Er verpflichtete sich zu einer Dienstzeit von zwölf Jahren, machte diese Verpflichtung jedoch wieder rückgängig und schied im August 1938 aus der Wehrmacht aus. Die Oberfinanzdirektion K bescheinigte dem Kläger, daß er für die Zeit vom 1. Februar bis 13. August 1938 als nachversichert gelte. Bei der Berechnung des Altersruhegeldes lehnte die Beklagte eine Berücksichtigung der voraufgegangenen Zeit ab.
Auf die Klage hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte (unter Klageabweisung im übrigen) verurteilt, die Zeit vom Februar 1936 bis Januar 1938 als Ersatzzeit anzurechnen: Der Kläger habe in dieser Zeit aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht Wehrdienst geleistet. Erst in der Folgezeit sei er Berufssoldat gewesen; das ergebe sich daraus, daß er zunächst seiner zweijährigen Wehrpflicht habe genügen müssen. Daß er keinem der zur Ableistung des aktiven Wehrdienstes einberufenen Jahrgänge angehört habe, sei ohne Bedeutung.
Mit der - zugelassenen - Revision macht die Beklagte geltend, der Kläger habe als Angehöriger des Geburtsjahrganges 1908 nicht zum Kreis derer gehört, für die eine konkrete Verpflichtung bestanden habe, aktiven Wehrdienst zu leisten. Die Rechtslage sei die gleiche wie bei Zeiten des freiwilligen Arbeitsdienstes, die nur Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1915 und jünger angerechnet werden könnten.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung der Urteile der Vorinstanzen die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat zu Recht für den von Februar 1936 bis Januar 1938 geleisteten Wehrdienst des Klägers die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) bejaht. Danach sind Ersatzzeiten "Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes i. S. der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist". Der in der streitigen Zeit geleistete Dienst des Klägers war militärischer Dienst i. S. des § 2 BVG; nach dessen Abs. 1 Buchst. a fällt hierunter jeder nach deutschem Wehrrecht geleistete Dienst als Soldat. Die Frage ist hier nur, ob der Dienst auch auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet worden ist; insofern weicht § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG von der Fassung früherer Vorschriften ab (vgl. § 1263 Nr. 1 RVO aF, danach mußte es sich um Zeiten handeln, "in denen der Versicherte zur Erfüllung der Wehrpflicht eingezogen gewesen ist").
Mit der Frage, wann ein militärischer Dienst aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet worden ist, hat sich das Bundessozialgericht (BSG) schon mehrfach befaßt. Für den von Berufssoldaten geleisteten Dienst haben der erkennende und der 1. Senat (SozR Nr. 7 und 65 zu § 1251 RVO) einen Dienst auf solcher Grundlage verneint; bei anderen Soldaten hat der 12. Senat (SozR Nr. 54 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr. 8 und Urteil vom 18. Dezember 1975 - 12 RJ 130/75 -) für Zeiten nach dem 20. Mai 1935 militärischen Dienst aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht bejaht, auch wenn der Dienst - gemäß § 8 Abs. 2 des Wehrgesetzes oder sonstwie - freiwillig geleistet worden ist; der 12. Senat hat hierfür genügen lassen, daß der Versicherte den Wehrdienst als Wehrpflichtiger geleistet hat. Dieser Auffassung schließt sich der erkennende Senat im Ergebnis für den vorliegenden Fall an.
Das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 (RGBl I 609) hat die Wehrpflicht dahin geregelt, daß jeder deutsche Mann vom vollendeten 18. Lebensjahr bis zu dem auf die Vollendung des 45. Lebensjahres folgenden 31. März wehrpflichtig gewesen und die Wehrpflicht durch den Wehrdienst erfüllt worden ist (§§ 1, 4, 7). Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 bis 4 umfaßte der Wehrdienst a) den aktiven Wehrdienst, b) den Wehrdienst im Beurlaubtenstand. Letzterem gehörte der Kläger an. Er hat mithin als Angehöriger der Ersatzreserve (§ 10 Wehrgesetz) in der streitigen Zeit aktiven Wehrdienst im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Wehrgesetzes geleistet. Mit diesem Dienst hat der Kläger gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Wehrgesetz "die Wehrpflicht erfüllt". Wehrdienst, durch den "die Wehrpflicht erfüllt" worden ist, muß aber grundsätzlich als "aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet" angesehen werden. Die Ansicht der Beklagten, der Wehrdienst müsse aufgrund einer konkreten Dienstpflicht geleistet sein, findet im Gesetzeswortlaut keine Stütze. Danach kommt es nicht darauf an, ob eine "aktive Dienstpflicht" im Sinne des § 8 des Wehrgesetzes bestand oder bevorstand. Das Gesetz stellt vielmehr darauf ab, ob die Wehrpflicht die Grundlage des militärischen Dienstes war. Das war sie aber auch dann, wenn die Dienstleistung neben der Wehrpflicht außerdem auf einem freiwilligen Entschluß des Versicherten beruhte.
Sinn und Zweck des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG gebieten allerdings für die Anerkennung des von Wehrpflichtigen geleisteten Wehrdienstes als Ersatzzeit Einschränkungen. Im "aktiven Wehrdienst" nach § 7 des Wehrgesetzes standen auch aktive Offiziere und "solche Unteroffiziere und Mannschaften, die freiwillig länger dienen als nach § 8 Abs. 1 festgesetzt ist", ferner Wehrmachtsbeamte, die nach Erfüllung der Dienstpflicht als Beamte angestellt wurden (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 3 Nrn. 2,3); sie erfüllten mit diesem Wehrdienst gleichfalls ihre Wehrpflicht. Wie das BSG für Berufssoldaten schon entschieden hat, kann den Friedensdienstzeiten solcher Personen jedoch nicht der Charakter von Ersatzzeiten zugebilligt werden; gleiches muß für die Wehrdienstzeiten gelten, die freiwillig über die Zeit einer aktiven Dienstpflicht hinaus geleistet worden sind. Dagegen erscheint eine Ausnahme für die der Normalzeit einer aktiven Dienstpflicht entsprechende Dienstzeit in der Regel nicht gerechtfertigt, auch wenn der Versicherte sich schon in oder vor dieser Zeit zur Ableistung längeren Wehrdienstes verpflichtet hat. Die Feststellungen des LSG bieten jedenfalls keinen Anhalt dafür, daß der Kläger bereits vor Ableistung der ersten zwei Jahre seines Wehrdienstes die Stellung eines "Längerdienenden" innegehabt und eine Besoldung erhalten hat, die möglicherweise einen Schluß auf die Leistung berufsmäßigen Wehrdienstes bereits während dieser Zeit rechtfertigen könnte. Der Kläger kann daher nicht für die streitige Zeit Personen gleichgestellt werden, die den Wehrdienst berufsmäßig geleistet haben. Dem steht auch die Entscheidung des 1. Senats vom 3. April 1973 (SozR Nr. 65 zu § 1251 RVO) nicht entgegen, weil in jenem Fall der sich zu zwölfjähriger Dienstzeit verpflichtende Versicherte am 1. April 1933, somit über zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des Wehrgesetzes, in die Wehrmacht eingetreten war; außerdem war dort festgestellt, daß der Versicherte seinen gesamten Wehrdienst als Berufssoldat mit entsprechenden Dienstbezügen geleistet hatte. Schließlich ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Ersatzzeitenregelung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG kein überzeugender Grund dafür, Wehrdienstzeiten die Anerkennung als Ersatzzeiten bloß deshalb zu versagen, weil der Wehrdienst freiwillig von Personen geleistet worden ist, die wegen ihres Alters (Jahrgangs) zum aktiven Wehrdienst nicht (mehr) herangezogen worden sind oder wären.
Zu Unrecht beruft sich die Beklagte auf die Rechtsprechung des BSG zum Freiwilligen Arbeitsdienst (SozR Nr. 41 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr. 3); diese Rechtsprechung ist hier schon deshalb ohne Bedeutung, weil sie Zeiten betrifft, für die eine Arbeitsdienstpflicht im Sinne der §§ 1, 3 des Reichsarbeitsdienstgesetzes vom 26. Juni 1935 (RGBl I 769) noch nicht galt.
Da offensichtlich auch die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 AVG erfüllt sind, ist hiernach die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen