Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbeschädigte. Nachschaden bei Pflegezulage und MdE. Mindest-MdE für Pflegezulagenempfänger. Gleichheitsgrundsatz
Orientierungssatz
1. Die Vorschrift des § 31 Abs 4 S 2 BVG ist als besondere Vergünstigung allein für diejenigen Pflegezulagenempfänger bestimmt, deren schädigungsbedingte MdE weniger als 50 vH beträgt. Für die Anwendung der Vorschrift ist dann kein Raum, wenn ein Pflegezulagenempfänger bereits wegen der Schädigungsfolgen als Schwerbeschädigter, dh als Beschädigter mit einer MdE von mindestens 50 vH (§ 31 Abs 3 S 1 BVG), anerkannt ist.
2. Für die Höhe der Grundrente ist vorrangig die MdE bestimmend, die nach üblichen Maßstäben entsprechend dem Zustand der Schädigungsfolgen bemessen wird. Sie wird beim Zusammentreffen mehrerer nach § 1 BVG anerkannter Gesundheitsstörungen als Gesamt-MdE festgestellt (vgl BSG vom 1979-03-15 9 RVs 6/77 = SozR 3870 § 3 Nr 4). Diese einheitliche Bewertung bleibt durch die nachgeordnete Vergünstigungsvorschrift des § 31 Abs 4 S 2 BVG unberührt. Sie kann nicht etwa durch die Fiktion, daß der Pflegezulagenempfänger als Schwerbeschädigter "gilt", und durch die Sonderregelung, daß er Versorgung mindestens nach einer MdE um 50 vH erhält, "aufgebrochen" werden. Dieser fingierte Vorteil geht vom Gesamtzustand aus und kann nicht auf einen Teilzustand beschränkt werden, der für den Anspruch auf Pflegezulage ausreicht.
Diese Auslegung verstößt auch nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art 3 GG).
Normenkette
BVG § 31 Abs 4 S 2 Fassung: 1974-08-23, § 35 Abs 1 S 3, § 31 Abs 3 S 1; GG Art 3 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 09.02.1981; Aktenzeichen L 11 V 350/80) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 29.01.1980; Aktenzeichen S 12 V 1498/77) |
Tatbestand
Dem Kläger ist Beschädigtenrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH zuerkannt; als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) sind anerkannt "Verlust des rechten Auges, kleiner Stecksplitter in der Hinterwand der rechten Augenhöhle, leichte organische Hirnschädigung". Nachträglich ist die Sehschärfe des linken Auges vor allem infolge einer Netzhauterkrankung immer schwächer geworden. Inzwischen ist der Kläger praktisch erblindet. Deswegen bezieht er seit Juni 1978 eine Pflegezulage der Stufe III (Bescheid vom 12. März 1980). Im November 1976 beantragte er eine Neufeststellung seines Versorgungsanspruches wegen einer Verschlimmerung. Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 16. Juni 1977). Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 29. Januar 1980). Mit der Berufung strebte der Kläger an, daß die Erblindung seines linken Auges als weitere Schädigungsfolge anerkannt und ihm Rente nach einer MdE um 100 vH gewährt wird. Das Landessozialgericht (LSG) hat, einem Hilfsantrag folgend, den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. Juni 1978 für die anerkannten Schädigungsfolgen nach Erblindung des linken Auges Rente entsprechend einer MdE um 70 vH zu gewähren und ihm die gesetzlichen Zinsen zu zahlen; die weitergehende Berufung hat es als unbegründet zurückgewiesen (Urteil vom 9. Februar 1981). Die Erblindung des linken Auges sei auf eine angeborene, schicksalsmäßig abgelaufene Netzhauterkrankung zurückzuführen. Dieser schädigungsunabhängige Nachschaden bedeute keine Änderung der Verhältnisse iS des § 62 Abs 1 BVG in der Weise, daß die MdE nach § 30 Abs 1 BVG mit 100 vH zu bewerten sei. Hingegen sei der Hilfsantrag nach § 30 Abs 4 Satz 2 BVG idF des Sechsten Anpassungsgesetzes (6. AnpG-KOV) begründet. Hierfür sei maßgebend, daß der Kläger als Bezieher einer Pflegezulage (hier nach § 35 Abs 1 Satz 3 BVG) Versorgung mindestens nach einer MdE um 50 vH beanspruchen könne. Darauf habe er einen Anspruch, weil er nach Verlust eines Auges infolge Nachschadens blind geworden sei. Die Sonderregelung komme ihm allein mit Rücksicht auf den Augenschaden zugute. Zusätzlich müsse aber der Hirnschaden berücksichtigt werden. Da dieser zu einer Erhöhung der schädigungsbedingten MdE um 20 vH führe, sei die Gesamt-MdE nach § 30 Abs 1 BVG auf 70 vH festzustellen. Das LSG hat die Revision bezüglich der Entscheidung über den Hilfsantrag zugelassen.
Der Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG. Das LSG sei vom Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 2. August 1977 - 9 RV 90/76 - abgewichen. Nach jener Vorschrift solle nicht etwa die MdE höher bewertet werden. Vielmehr solle es insoweit bei der Bemessung nach der versorgungsrechtlichen Ursachentheorie verbleiben. Beschädigte der bezeichneten Art sollten lediglich die Leistungen eines Schwerbeschädigten erhalten. Da der Kläger bereits Rente nach einer MdE um 50 vH beziehe, verbleibe kein Raum mehr für eine Anwendung des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG.
Der Beklagte beantragt,
das Berufungsurteil aufzuheben.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die mit der Revision angefochtene Entscheidung vor allem deshalb für Rechtens, weil eine andere, die der Beklagte anstrebe, mit dem Gleichheitsgrundsatz unvereinbar wäre.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Gegenstand der Revision, die das LSG zulässigerweise nur teilweise eröffnet hat (BSGE 3, 135, 138 f), ist allein der Anspruch des Klägers auf Rente nach einer MdE um 70 vH statt um 50 vH. Diese Leistung hat das Berufungsgericht ihm zu Unrecht zuerkannt.
Nach § 31 Abs 4 Satz 2 BVG in der seit dem 1. Oktober 1974 geltenden Fassung des 6. Gesetzes über die Anpassung der Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes (6. AnpG-KOV) vom 23. August 1974 (BGBl I 2069) erhalten Beschädigte mit Anspruch auf Pflegezulage "mindestens die Versorgung nach einer MdE um 50 vH"; sie gelten nach dieser Bestimmung als Schwerbeschädigte. Der Kläger gehört seit Juni 1978 als Pflegezulagenempfänger (§ 35 Abs 1 Satz 3 BVG) zu diesem Personenkreis. Aber diese Vorschrift verschafft ihm keinen Rentenanspruch nach einer höheren MdE, als sie ihm wegen der Schädigungsfolgen bereits mit 50 vH nach § 30 Abs 1 BVG für die Rentenbemessung nach § 31 Abs 1 Satz 1 BVG zuerkannt worden ist. Nur scheinbar hat die gesetzliche Anordnung, daß die Versorgung "mindestens" nach einer MdE um 50 vH zu bemessen ist, die Bedeutung, die den umstrittenen Anspruch rechtfertigen könnte. Dieser Wortlaut ist in Wirklichkeit zwanglos anders zu verstehen. Das hat der Senat bereits in einem ähnlichen Fall entschieden (SozR 3100 § 31 Nr 8). Weder das Berufungsurteil noch die Revisionsbegründung noch andere Erkenntnismöglichkeiten ergeben durchgreifende Bedenken gegen diese Rechtsprechung.
Wer die Pflegezulage nach § 35 BVG erhält, muß in seiner Erwerbsfähigkeit iS des § 30 Abs 1 BVG durch die Schädigungsfolgen nicht besonders hoch beeinträchtigt sein. Für die Beurteilungen der MdE (§ 30 Abs 1 BVG) und der Hilflosigkeit als Voraussetzung der Pflegezulage (§ 35 Abs 1 Satz 1 BVG; BSGE 8, 97, 98 ff) gelten verschiedenartige Maßstäbe (BSGE 48, 248, 250 = SozR 3100 § 35 Nr 11). Die Vorschrift des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG ist als besondere Vergünstigung allein für diejenigen Pflegezulagenempfänger bestimmt, deren schädigungsbedingte MdE weniger als 50 vH beträgt (Begründung zum Entwurf des 6. AnpG-KOV - BT/Drucks 7/2121, S 8, zu Art 1 Nr 7, Buchstabe a). Dies kommt vornehmlich für Beschädigte in Betracht, die ein Auge durch schädigende Einwirkungen iS des § 1 BVG verloren haben. Sie erhalten deswegen allein im Regelfall Rente nach einer MdE um 30 vH (Verwaltungsvorschrift Nr 4 zu § 30 BVG). Verlieren sie hernach schädigungsunabhängig die Sehkraft auch auf dem anderen Auge (Nachschaden), wird dies bei der Rentenbemessung nicht berücksichtigt. Hingegen begründet ein solcher Sachverhalt Anspruch auf Pflegezulage (BSGE 47, 123, 124 f = SozR 3100 § 89 Nr 7). Für das Entgegenkommen, das solchen Pflegezulagenempfängern nach § 31 Abs 4 Satz 2 BVG zugedacht ist, ist allerdings kein Raum, wenn sie bereits wegen der Schädigungsfolgen als Schwerbeschädigte, dh als Beschädigte mit einer MdE von mindestens 50 vH (§ 31 Abs 3 Satz 1 BVG), anerkannt sind. Sie brauchen dann nicht mehr kraft gesetzlicher Fiktion in den Stand versetzt zu werden, daß sie als Schwerbeschädigte "gelten", brauchen diesen Kriegsopfern also nicht gleichgestellt zu werden. Bestimmte Berechtigungen, die ihnen dadurch unabhängig vom Ausmaß ihrer Schädigungsfolgen verschafft werden sollen, stehen ihnen bereits wegen der nach § 1 BVG anerkannten Gesundheitsstörungen zu; das gilt insbesondere für alle Rechte nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) sowie für die Voraussetzungen für eine Heilbehandlung wegen anderer Gesundheitsstörungen als anerkannter Schädigungsfolgen und für eine Krankenbehandlung für Angehörige (§ 10 Abs 2, Aus 4 Buchstabe a, Abs 7 BVG), für Ausgleichsrente (§§ 32, 33, 34 BVG), für Ehegattenzuschlag (§ 33a BVG), für Kinderzuschlag (§ 33b BVG) und für Witwen- und Waisenbeihilfe (§ 48 BVG).
Die Systematik des Gesetzes bestätigt, daß diese Auslegung zutrifft. Für die Höhe der Grundrente ist vorrangig die MdE bestimmend, die nach üblichen Maßstäben entsprechend dem Zustand der Schädigungsfolgen bemessen wird. Sie wird beim Zusammentreffen mehrerer nach § 1 BVG anerkannter Gesundheitsstörungen als Gesamt-MdE festgestellt (BSGE 48, 82, 84 ff = SozR 3870 § 3 Nr 4). Diese einheitliche Bewertung - im Falle des Klägers für den Verlust eines Auges, für Stecksplitter und für eine Hirnschädigung - bleibt durch die nachgeordnete Vergünstigungsvorschrift des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG unberührt. Sie Kann nicht etwa durch die Fiktion, daß der Pflegezulagenempfänger als Schwerbeschädigter "gilt", und durch die Sonderregelung, daß er Versorgung mindestens nach einer MdE um 50 vH erhält, "aufgebrochen" werden. Dieser fingierte Vorteil geht vom Gesamtzustand aus und kann nicht auf einen Teilzustand beschränkt werden, der für den Anspruch auf Pflegezulage ausreicht, hier auf die praktische Blindheit. Außerdem regelt, wie der Senat bereits im zitierten Urteil herausgestellt hat, § 31 Abs 4 Satz 2 BVG gerade nicht die Bemessung der MdE (§ 30 Abs 1), sondern die Rentenhöhe nach § 31 Abs 1.
Gegenüber der vom Senat vertretenen Ansicht, diese Auslegung des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG verstoße nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art 3 Grundgesetz), haben das LSG und der Kläger keine überzeugenden Gegengründe aufgezeigt. Bei ihren Vergleichen lassen sie außer acht, daß die Fiktion allein einen sozialpolitisch unbefriedigenden Zustand durch eine begrenzte Lösung beheben soll, ohne das System der MdE-Bewertung zu verändern. Das Berufungsgericht hält außerdem die hier vertretene Auslegung im Falle einer Neufeststellung wegen wesentlicher nachträglicher Änderungen (§ 62 BVG aF, § 48 Sozialgesetzbuch - 10. Buch -) für unhaltbar. Dabei verkennt das LSG die Rechtslage, nämlich wie zu entscheiden ist, wenn - anders als beim Kläger - auch die nachträgliche Erblindung die Folge einer Schädigung iS des § 1 BVG ist. Die MdE eines solchen Beschädigten ist wie in allen anderen Fällen nachträglicher Verschlimmerung allein nach dem wirklichen Zustand der Schädigungsfolgen festzustellen. Dabei bleibt der Bezug einer Pflegezulage, also die Vorschrift des § 31 Abs 4 Satz 2 BVG, die nicht die MdE-Bemessung regelt, zuerst einmal außer Betracht. Diese Fiktion würde nur dann ergänzend eine günstigere Versorgung verschaffen, wenn die schädigungsbedingte MdE nach Eintritt der weiteren Gesundheitsstörung immer noch nicht insgesamt 50 vH erreichte.
Nach alledem ist die Klageabweisung zu bestätigen. Der entgegenstehende Teil des Berufungsurteils ist aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen