Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Sprungrevision. Statthaftigkeit. rechtsirrtümliche Zulassung der Berufung trotz uneingeschränkter Zulässigkeit. Belehrung über Einlegung der Sprungrevision. Revisionseinlegung durch Beigeladenen. Widersprüche in Urteilsformel
Orientierungssatz
1. Ein Beigeladener kann - ohne dass ein Fall der notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 SGG vorliegt - jedenfalls dann selbständig Rechtsmittel einlegen, wenn die Entscheidung ein eigenes Recht des Beigeladenen betrifft oder mitbetrifft (vgl BSG vom 5.7.1956 - 4 RJ 294/55, 4 RJ 297/55 = BSGE 3, 142).
2. Gegen die Urteile der SG findet nach § 143 SGG in der Regel die Berufung statt. Nur in denjenigen Fällen, in denen diese Urteile an sich nicht berufungsfähig sind, sondern nach § 150 SGG ausnahmsweise mit der Berufung angefochten werden können, eröffnet § 161 Abs 1 SGG den Beteiligten die Möglichkeit, unter Übergehung des Berufungsverfahrens die Revision unmittelbar beim BSG einzulegen (Sprungrevision).
3. Wird in einem Urteil des SG die Berufung rechtsirrtümlich zugelassen - obwohl diese nach § 143 SGG uneingeschränkt zulässig ist - und wird in der Urteilsformel und in der Rechtsmittelbelehrung ausgeführt, dass gegen das Urteil Sprungrevision eingelegt werden kann, so kann das Urteil mit der Revision angefochten werden. Die Sprungrevision wäre dann an sich zwar nicht statthaft. Die Verwerfung des Rechtsmittels hätte aber zur Folge, dass auch keine Berufung mehr eingelegt werden könnte, weil die Einlegung der Sprungrevision als Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung gilt (§ 161 Abs 2 SGG). Ein solches Ergebnis wäre unbillig, weil der Rechtsmittelführer darauf vertrauen kann, dass er auf dem für ihn durch das SG gewiesenen Prozessweg eine für ihn günstige Entscheidung erreichen kann und dass die erteilte Belehrung über die Einlegung der Sprungrevision richtig ist.
4. Äußert ein Urteil aufgrund von Widersprüchen in der Urteilsformel, die auch durch Auslegung nicht behoben werden können, keine Rechtswirkungen, so ist diese Unwirksamkeit von Amts wegen zu beachten. Sie muss dazu führen, dass das angefochtene Urteil, das an diesem Fehler leidet, aufgehoben und zurückverwiesen wird.
Normenkette
SGG § 75 Fassung: 1953-09-03, § 143 Fassung: 1953-09-03, § 150 Fassung: 1953-09-03, § 161 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beigeladenen und Revisionsklägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 5. Dezember 1955 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Das Versorgungsamt (VersorgA.) D bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 13. Mai 1954 u. a. wegen Lungentuberkulose vom 1. März 1952 ab nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) die Rente eines Erwerbsunfähigen. Es setzte die zustehenden Versorgungsbezüge für die Zeit vom 1. März 1952 bis 30. Juni 1954 auf DM 5072.- fest und überwies davon den Betrag von DM 4914.- an die Landesversicherungsanstalt (LVA.) R in D, die dem Kläger Tuberkulosehilfe (Tbc.-Hilfe) gewährt und beim VersorgA. insoweit einen Erstattungsanspruch geltend gemacht hatte. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Bescheid des Landesversorgungsamts (LVersorgA.) Nordrhein vom 11.6.1954). Er wurde mit der Begründung zurückgewiesen, daß der Kläger am 7. April 1954 seinen Anspruch auf die nachzuzahlende Rente in Höhe der geleisteten Tbc.-Hilfe an die LVA. R abgetreten habe.
Das Sozialgericht (SG.) Düsseldorf hat die LVA. R beigeladen. Diese hat nach Überprüfung nur noch DM 4790.70 aus der Rentennachzahlung beanspruch und den Unterschiedsbetrag von DM 123.30 dem Kläger erstattet. Das SG. hat durch Urteil vom 5. Dezember 1955 dem Kläger den einbehaltenen Betrag zugesprochen. In der in der Sitzungsniederschrift vom 5. Dezember 1955 enthaltenen Urteilsformel sind die Worte "wird der Beklagte verurteilt" so verändert worden, daß es heißt "wird die Beigeladene verurteilt". Das SG. hat in den Urteilsgründen ausgeführt, daß eine Rechtsgrundlage für die Einbehaltung der Nachzahlung durch das VersorgA. und die Auszahlung an die LVA. nicht gegeben sei, weil die Voraussetzungen des § 67 BVG nicht erfüllt seien. Die Tbc.-Hilfe sei weder ein Vorschuß auf die Versorgungsrente noch sei sie als Darlehen anzusehen. Sie sei auch nicht auf Grund einer gesetzlichen Verpflichtung gezahlt worden. Die Erklärung des Klägers vom 7. April 1954 sei keine formgültige Abtretungserklärung im Sinne des § 67 Abs. 3 BVG, weil die Genehmigung der Hauptfürsorgestelle fehle. Da demnach die Beigeladene den Betrag von DM 4790.70 zu Unrecht erhalten habe, sei sie zur Rückzahlung an den Kläger zu verurteilen. Die Berufung, die nach § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen sei, werde nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen. Das SG. hat in der Urteilsformel und in der Rechtsmittelbelehrung ausgeführt, daß gegen das Urteil Sprungrevision eingelegt werden könne.
Die LVA. R hat gegen das ihr am 15. Dezember 1955 zugestellte Urteil mit einem beim Bundessozialgericht (BSG.) am 13. Januar 1956 eingegangenen Schriftsatz mit Einwilligung des Klägers Sprungrevision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des SG. Düsseldorf vom 5. Dezember 1955 die Klage abzuweisen.
Sie rügt die Verletzung des § 67 BVG und führt aus, daß das VersorgA. den streitigen Betrag mit Recht einbehalten und an sie überwiesen habe. Am 2. März 1957 hat die LVA. dem BSG. eine Erklärung des Direktors des Landschaftsverbandes Rheinland vom 6. April 1956 vorgelegt, wonach die Abtretung vom 7. April 1954 nach § 67 Abs. 3 BVG genehmigt wird.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat sich den Ausführungen der Revisionsklägerin angeschlossen.
Der Revisionsbeklagte hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Einbehaltung des Betrags von DM 4790.70 für unzulässig. Die im Revisionsverfahren vorgelegte Genehmigung für die Rentenabtretung gestatte nicht eine andere Beurteilung der Rechtslage.
Die im Verfahren vor dem SG. beigeladene LVA. war berechtigt, Revision einzulegen. Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich im vorliegenden Fall um eine notwendige Beiladung nach § 75 Abs. 2 SGG gehandelt hat. Denn ein Beigeladener kann, ohne daß eine Beiladung nach dieser Vorschrift vorliegt, jedenfalls dann selbständig Rechtsmittel einlegen, wenn die Entscheidung ein eigenes Recht des Beigeladenen betrifft oder mitbetrifft (BSG. 3 S. 142 (158)). Dies trifft hier zu, weil es sich im vorliegenden Rechtsstreit darum handelt, ob der vom VersorgA. einbehaltene Betrag der LVA. mit Recht überwiesen worden ist. Gegen die Urteile der SG. findet nach § 143 SGG in der Regel die Berufung statt. Nur in denjenigen Fällen, in denen diese Urteile an sich nicht berufungsfähig sind, sondern nur nach § 150 SGG ausnahmsweise mit der Berufung angefochten werden können, eröffnet § 161 Abs. 1 SGG den Beteiligten die Möglichkeit, unter Übergehung des Berufungsverfahrens die Revision unmittelbar beim BSG. (Sprungrevision) einzulegen (BSG. 1 S. 69; 2 S. 135). Die Feststellung, ob das Urteil des SG. Düsseldorf Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume im Sinne des § 148 Nr. 2 SGG betrifft (bei dem Hinweis in der Begründung der Zulassung der Berufung auf § 148 Nr. 3 SGG handelt es sich offensichtlich um einen Schreibfehler) oder ob die Berufung im vorliegenden Fall nach § 143 SGG zulässig war, begegnet wegen der Widersprüche zwischen Urteilsformel und Entscheidungsgründen Schwierigkeiten. Diese Frage kann indessen dahingestellt bleiben. Selbst wenn nämlich im vorliegenden Fall die Berufung nach § 143 SGG uneingeschränkt zulässig gewesen und die Berufung damit rechtsirrtümlich zugelassen worden wäre, könnte das Urteil des SG. Düsseldorf trotzdem mit der Revision angefochten werden. Die Sprungrevision wäre dann an sich zwar nicht statthaft. Die Verwerfung des Rechtsmittels hätte aber zur Folge, daß auch keine Berufung mehr eingelegt werden könnte, weil die Einlegung der Sprungrevision als Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung gilt (§ 161 Abs. 2 SGG). Ein solches Ergebnis würde unbillig sein, weil die Beigeladene darauf vertraute daß sie auf dem ihr durch das SG. gewiesenen Prozeßweg eine für sie günstige Entscheidung erreichen könne. Sie konnte auch darauf vertrauen, daß die ihr durch das SG. erteilte Belehrung über die Möglichkeit der Einlegung der Sprungrevision richtig war. In einem solchen Fall ist die Revision statthaft (BSG. 2 S. 135; 3 S. 276 (277); SozR. SGG § 161 Bl. Da 3 Nr. 8; Urt. des erkennenden Sen. vom 19.9.1957 - 8 RV 963/55). Die Revision ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist daher zulässig.
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das SG. Denn diese Entscheidung kann, da sie in sich widerspruchsvoll ist, keine Rechtswirkungen erzeugen. Die Klage richtete sich gegen den Bescheid vom 13. Mai 1954, durch den ein Teil der Rentennachzahlung einbehalten wurde, in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid des LVersorgA. Nordrhein vom 11. Juni 1954 gefunden hatte (§ 95 SGG). Gleichzeitig war das Klagebegehren auf die Auszahlung der vom VersorgA. einbehaltenen Rente gerichtet (Klageschrift vom 22.6.1954). Der in der Sitzungsniederschrift vom 5. Dezember 1955 enthaltene Antrag des Klägers ist ebenso widerspruchsvoll wie die Urteilsformel. Er lautete zunächst: "unter Abänderung des Bescheides vom 13. Mai 1954 und unter Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom 11. Juni 1954 den Beklagten zu verurteilen, den einbehaltenen Betrag von DM 4790.70 an ihn (den Kläger) auszuzahlen ". In dieser Fassung war der Antrag durchaus sinnvoll. Nun wurden aber die Worte "den Beklagten zu verurteilen" nachträglich dadurch verändert, daß über das Wort "Beklagten" das Wort "Beigeladenen" geschrieben und ein Teil des Wortes "Beklagten" nicht durchgestrichen wurde. Durch diese Änderung hatte der Antrag nicht nur seinen Sinn verloren, weil die LVA. keine Rente des Klägers einbehalten hatte; wegen dieser Korrektur ist auch eine genaue Feststellung darüber, ob der Kläger die Verurteilung des Beklagten oder der Beigeladenen beantragt hat, nicht möglich. Bereits diese Unklarheit erschwert eine zuverlässige rechtliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils. Dazu kommt, daß die Urteilsformel selbst Widersprüche enthält, die auch durch Heranziehung der Entscheidungsgründe nicht gelöst werden können. Neben der Aufhebung der die Einbehaltung eines Teiles der Rentennachzahlung anordnenden Bescheide der Versorgungsverwaltung hat das SG. die beigeladene LVA. verurteilt, dem Kläger "den einbehaltenen Betrag auszuzahlen ", obwohl die LVA. gar keine Rente einbehalten hatte. Nach den Urteilsgründen hat das SG. zunächst geprüft, ob eine Rechtsgrundlage für die Einbehaltung der Versorgungsrente durch das VersorgA. gegeben sei, und dies verneint. Anstatt nun hieraus die einzig mögliche Rechtsfolge zu ziehen, nämlich die Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung der einbehaltenen Rente, führt das SG. aus, daß die Beigeladene 4790.70 DM an den Kläger zurückzuzahlen habe. Dieser Widerspruch wird verstärkt durch die auf § 148 Nr. 2 SGG (bei dem Hinweis auf § 148 Nr. 3 handelt es sich um einen Schreibfehler) gestützte Zulassung der Berufung. Nach § 148 Nr. 2 SGG ist die Berufung dann ausgeschlossen, wenn Urteile der SG. Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen. Das träfe im vorliegenden Fall aber nur bei einer Verurteilung des Beklagten zu. Wegen der hiernach festgestellten Widersprüche in der Urteilsformel, die auch durch Auslegung nicht behoben werden können, kann das Urteil des SG. keine Rechtswirkungen äußern. Diese Unwirksamkeit ist von Amts wegen zu beachten (vgl. in einem ähnlichen Fall BGHZ. 5 S. 240 (246); Stein-Jonas-Schönke-Pohle, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., Anm. I 2 vor § 578 ZPO; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., § 143 II 2 und § 56 II 2 c). Sie muß dazu führen, daß das angefochtene Urteil, das an diesem Fehler leidet, aufgehoben wird. Gleichzeitig muß die Sache an das SG. zurückverwiesen werden, damit dieses das Klagebegehren eindeutig feststellt und erneut in der Sache entscheidet (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des SG. vorbehalten.
Fundstellen