Entscheidungsstichwort (Thema)

Unzulässiger Ausforschungsbeweis. vorweggenommene Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

Ein Beweisantrag zielt nach den im Zivilprozeß entwickelten Grundsätzen zum "Ausforschungsbeweis" auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis, wenn ihm die Bestimmtheit bei der Angabe der Tatsachen oder Beweismittel fehlt oder aber der Beweisführer für seine Behauptung nicht genügend Anhaltspunkte angibt und erst aus der Beweisaufnahme die Grundlage für seine Behauptungen gewinnen will.

 

Normenkette

SGG § 103 S. 1 Fassung: 1974-07-30; ZPO § 445

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 13.07.1978; Aktenzeichen L 13 An 120/77)

SG München (Entscheidung vom 24.02.1977; Aktenzeichen S 13 An 804/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Juli 1978 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger, der von der Beklagten Altersruhegeld bezieht, erstrebt die zusätzliche Berücksichtigung einer Beitragszeit von Januar 1944 bis Mai 1945. Er war damals als Geschäftsführer bei einer Firma im Sudetenland beschäftigt. Gegen den Rentenbescheid hat er in einem Vorprozeß ua auf Anrechnung der streitigen Zeit Klage erhoben. In diesem Verfahren sind die Zeugen R. und B. vernommen worden. Nach ihrer Aussage bezog der Kläger ein Gehalt von monatlich 600,- bis 650,- RM netto (die Versicherungspflichtgrenze lag damals bei monatlich 600,- RM brutto). Zu einer Beitragsentrichtung äußerte sich keiner der Zeugen. Die damalige Klage nahm der Kläger, nachdem er gegen die Zeugenaussagen keine Einwendungen erhoben hatte, zurück.

Im September 1974 beantragte der Kläger erneut die Berücksichtigung der strittigen Zeit. Sein Begehren stützte er auf ein nachträglich gefundenes Schreiben der Beschäftigungsfirma vom 29. Mai 1944 an die Buchhalterin folgenden Inhalts:

"Ab 1.5.1944 ist für die Tätigkeit des Geschäftsführers, Herrn F… S…, ein monatlicher Betrag von RM 700,-- auf sein Konto zu überweisen und wie folgt zu buchen:

1. Monatliches Bruttogehalt RM 550,--.

2. Der Differenzbetrag von seinem monatlichen Nettogehalt bis 700,-- RM ist als Spesenbeitrag bzw als Honorar für die Bereitstellung seiner Zimmermeisterkonzession zu buchen."

Die Beklagte lehnte eine Neuberechnung gem § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) ab, da das Entgelt von 700,- RM netto die Versicherungspflichtgrenze überschritten habe und aus dem Schreiben eine Beitragsentrichtung nicht ersichtlich sei (Bescheid vom 3. Mai 1975, Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 1975).

Im Klageverfahren hat der Kläger noch eine Lohnbescheinigung des Nachfolgebetriebes vorgelegt, wonach er monatlich 550,- RM erhalten habe. Er hat seine Klage nunmehr auch auf § 1744 Abs. 1 Nr 6 Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützt. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Februar 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hatte zur mündlichen Verhandlung zum Beweisthema einer Beitragsentrichtung den Zeugen B… geladen, wegen einer Auslandsreise des Zeugen die Ladung aber wieder aufgehoben. Es hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 13. Juli 1978). Das LSG ließ dahinstehen, ob es sich beim angefochtenen Bescheid um einen solchen nach § 79 AVG oder um einen Zweitbescheid iS von § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO handele. Weder Beitragsentrichtung noch Versicherungspflicht seien glaubhaft gemacht. Die vorliegenden Unterlagen des tschechischen Versicherungsträgers ergäben keine Beitragsentrichtung. Weder das Schreiben an die Buchhaltung noch die Lohnauskunft des Nachfolgebetriebes sagten etwas darüber aus, in welcher Höhe und an welchen Versicherungsträger Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt worden seien. Die Begrenzung auf ein Bruttogehalt von 550,- RM dürfte rein steuerliche Gründe gehabt haben. Zumindest bei der Vergütung für die Überlassung der Zimmermeisterkonzession in Höhe von 150,- bis 200,- RM monatlich habe es sich um beitragspflichtiges Entgehalt gehandelt, so daß die Jahresarbeitsverdienstgrenze von 7.200,- RM überschritten worden sei. Das Angebot, den Zeugen B… darüber zu hören, ob er für eine Beitragsentrichtung oder einen Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen vom Gehalt etwas bekunden kann, sei schon deshalb unbehelflich, weil dadurch ein Ausforschungsbeweis und nicht ein Tatsachenbeweis angestrebt werde. Der Zeuge könne im übrigen nach seiner letzten eidesstattlichen Erklärung nur pauschal bekunden, daß für alle Angestellten des Betriebes Beiträge abgeführt worden seien. Zu einer Bestätigung der Beitragsentrichtung im Einzelfall sei er nicht in der Lage, wie er schon im Vorprozeß infolge des langen Abstandes zum strittigen Zeitraum bekundet habe. Da die Mitteilung vom 29. Mai 1944 vertraulich gewesen sei, sei schon aus diesem Grunde vom Zeugen keine ergänzende gerichtserhebliche Aussage zu erwarten.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Er beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen sowie die Bescheide der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, das Altersruhegeld unter zusätzlicher Anrechnung der Beitragszeit vom 1. Januar 1944 bis zum 30. April 1945 in Höhe des nachgewiesenen Entgelts neu zu berechnen.

Die Beklagte hat davon abgesehen, sich zur Sache zu äußern und Anträge zu stellen.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und einer Rückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

a) Die Revision rügt zutreffend eine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) durch das LSG. In der Revisionsbegründung ist der Sachverhalt, der das LSG zur Vernehmung des Zeugen B… hätte drängen müssen, ausreichend (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) dargelegt.

Bei der Prüfung dieses Verfahrensmangels kommt es allein auf die materiell-rechtliche Auffassung des LSG an. Dieses hat dahinstehen lassen, ob hier ein Zweitbescheid iS des § 1744 RVO oder ein Bescheid iS des § 79 AVG vorliege und nur darauf abgestellt, ob die nach § 1 der Versicherungsunterlagenverordnung (VuVO) rechtserheblichen Tatsachen glaubhaft gemacht sind; danach konnte rechtserheblich allein sein, ob für den Kläger Beiträge zur Angestelltenversicherung für die Zeit von Januar 1944 bis Mai 1945 entrichtet worden sind. Insoweit durfte das LSG aber z.Zt. der Urteilsfällung den Sachverhalt ohne eine Vernehmung des Zeugen B… noch nicht als ausreichend geklärt ansehen. Die vom LSG angeführten Gründe rechtfertigen keine Unterlassung dieser Vernehmung.

Dabei kann dahinstehen, ob die im Zivilprozeß entwickelten Grundsätze zum "Ausforschungsbeweis" in der Sozialgerichtsbarkeit überhaupt entsprechend angewandt werden können. Denn der Beweisantrag war auch bei Anwendung dieser Grundsätze zulässig. Ein Beweisantrag zielt danach auf einen unzulässigen Ausforschungsbeweis, wenn ihm die Bestimmtheit bei der Angabe der Tatsachen oder Beweismittel fehlt oder aber der Beweisführer für seine Behauptung nicht genügend Anhaltspunkte angibt und erst aus der Beweisaufnahme die Grundlage für seine Behauptungen gewinnen will. Keine dieser Voraussetzungen ist hier erfüllt. Der Kläger hat eine Beitragsentrichtung bestimmt behauptet. Er hat mit seinen Angaben zur damaligen beruflichen Stellung des Zeugen auch Anhaltspunkte für seine Annahme vorgetragen, dieser könne zur Beitragsentrichtung aussagen. Er hat somit keine Angaben "ins Blaue" hinein gemacht. Die Formulierung des Beweisthemas - ob der Zeuge bekunden kann - steht dem nicht entgegen.

Nicht stichhaltig ist auch die weitere Begründung, daß nach der letzten eidesstattlichen Erklärung des Zeugen nur mit einer Pauschalbehauptung des Inhalts zu rechnen sei, für alle Angestellten, also auch für den Kläger, seien Versicherungsbeiträge entrichtet worden. Der Sache nach handelt es sich um eine vorweggenommene und damit unzulässige Beweiswürdigung. Die Formulierung der eidesstattlichen Erklärung schließt nicht aus, daß der Zeuge, Schwiegersohn des damaligen Betriebsinhabers und mit Prokura im Personalbereich beschäftigt, Konkretes zur Beitragsentrichtung für den Kläger bezeugen konnte.

Auch die vom LSG ferner erwähnte Vernehmung des Zeugen im Vorprozeß vermag das Vorgehen des LSG nicht zu rechtfertigen. Der Zeuge hat sich damals nicht zur Beitragsentrichtung geäußert. Nach dem Beschluß des SG Bremen vom 9. Januar 1964 (Bl 92 der Verwaltungsakten) sollte er zwar außer zu speziellen Fragen, die das Gehalt des Klägers betrafen, allgemein zur Beitragsentrichtung für den Kläger in der strittigen Zeit gehört werden. Das Vernehmungsprotokoll des SG Köln vom 2. April 1964 (Bl 105 der Verwaltungsakten) enthält dazu jedoch weder Fragen noch Erklärungen. Ob sich das damit erklären läßt, daß möglicherweise das allgemeine Beweisthema übersehen wurde (vgl dazu die Ladung des Zeugen R… durch das SG Ulm, Bl 94 und 95 der Verwaltungsakten, die lediglich die Spezialfragen aufführt), kann dahinstehen. Entscheidend ist jedenfalls, daß sich der Zeuge B… seinerzeit ersichtlich nur zu den im Beweisbeschluß genannten Spezialfragen geäußert hat. Nur auf die Beantwortung dieser Fragen zum Gehalt des Klägers bezieht sich auch die Erläuterung des Zeugen, genaue Angaben könne er nicht mehr machen, weil inzwischen nahezu 20 Jahre verstrichen seien. Wenn das LSG hieraus schließt, daß der Zeuge auch zur Beitragsentrichtung nicht mehr bekunden könne, selbst dann nicht, wenn ihm das Schreiben an die Buchhalterin als Gedächtnisstütze vorgelegt werde, so ist dies wiederum eine vorweggenommene Beweiswürdigung.

Schließlich konnte das LSG nicht aus dem im vorgelegten Schreiben an die Buchhalterin enthaltenen Wort "vertraulich" schließen, daß der Zeuge B… über die Beitragsentrichtung für den Kläger keine Kenntnisse habe.

b) Das somit an einem Verfahrensmangel leidende Urteil des LSG läßt sich nicht aus anderen Gründen aufrechterhalten. Dabei ist zunächst klarzustellen, daß der Kläger zu Unrecht die Anwendung des § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO verlangt. Diese Vorschrift will die nachträgliche Führung des Urkundenbeweises ermöglichen. Sie setzt voraus, daß die aufgefundene Urkunde einen für den Kläger günstigeren Verwaltungsakt als den im Vorprozeß angefochtenen Rentenbescheid herbeigeführt haben würde. Aus dem vom Kläger vorgelegten Schreiben ergibt sich aber nichts für eine Beitragsentrichtung. Somit liegt kein Fall des § 1744 Abs 1 Nr 6 RVO, sondern ein Fall des § 79 AVG vor.

Jedoch hätte auch von dieser materiell-rechtlichen Auffassung aus der Zeuge gehört werden müssen. Zwar ist die Amtsermittlungspflicht im Rahmen des § 79 AVG eingeschränkt; der Versicherungsträger und im Streitfall die Gerichte sind hier freier gestellt. Sie können sich in diesem Verfahren auf die Würdigung schriftlicher Erklärungen beschränken, wenn von einer Zeugenvernehmung offensichtlich weder eine wesentliche Ergänzung des bisherigen Beweisstoffes noch eine wesentliche Verstärkung seiner Beweiskraft zu erwarten ist (SozR Nr 7 zu § 1300 RVO). Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben, weil der Zeuge B…, wie bereits dargelegt, zur entscheidenden Frage der Beitragsentrichtung offenbar vor Gericht bisher nicht vernommen worden ist.

Bei dieser Sach- und Rechtslage ist der Rechtsstreit an das LSG zur Behebung des Aufklärungsmangels zurückzuverweisen. Dabei bleibt es dem LSG überlassen, inwieweit es dem Zeugen außer der Frage nach der Beitragsentrichtung weitere hierfür indiziell bedeutsame Fragen, etwa zum Gehalt des Klägers, stellt. Für die abschließende Entscheidung des LSG bleibt jedoch zu beachten, daß das LSG die Beklagte nach ständiger Rechtsprechung zu einer Neufeststellung gem § 79 AVG nur verurteilen darf, wenn ihre Überzeugung von der Nichtentrichtung von Beiträgen bzw dem fehlenden Nachweis einer solchen Entrichtung evident unrichtig erscheint (vgl SozR 2200 § 1300 Nr 15).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG Vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665210

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