Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehinderung – GdB – Einzel-GdB – Gesamt-GdB – Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – Rechtswidrigkeit – Änderung der Verhältnisse – Rücknahme – Aufhebung – Abschmelzung
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Feststellungsbescheid nach § 4 SchwbG, mit dem nach einer Änderung der Verhältnisse (ÄdV) zugunsten des Betroffenen unter Einbeziehung eines früher rechtswidrig festgestellten GdB ein zu hoher neuer GdB festgestellt wird, ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt mit Dauerwirkung.
2. Ein derartiger Neufeststellungsbescheid wegen einer ÄdV kann nur dann ohne Rücksicht auf den rechtswidrigen Altbescheid „zurückgenommen” werden, wenn die Voraussetzungen des § 45 SGB 10 auch hinsichtlich des rechtswidrigen Altbescheides (noch) vorliegen.
3. Ist die Abschmelzung (§ 48 Abs 3 SGB 10) des rechtswidrigen Altbescheides anläßlich der ÄdV zugunsten des Betroffenen versäumt worden, kann eine spätere ÄdV zuungunsten des Betroffenen nur dann zur Festsetzung eines geringeren als des ursprünglich festgesetzten (unrichtigen) GdB führen, wenn diese (auch) die durch den Altbescheid geregelten Verhältnisse betrifft.
Stand: 26. Februar 2001
Normenkette
SGB X § 45 Abs. 3 S. 1, § 48 Abs. 1, 3; SchwbG § 4
Beteiligte
das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. März 2000 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Bei dem 1937 geborenen Kläger hatte der Beklagte mit Bescheid vom 2. November 1993 aufgrund einer versorgungsärztlich festgestellten Hörminderung beiderseits einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. Nach einem im Sommer 1996 abgelaufenen Vorderwandinfarkt machte der Kläger im September 1996 eine Erhöhung des GdB geltend. Mit Bescheid vom 3. Dezember 1996 stellte der Beklagte aufgrund von „Schwerhörigkeit beiderseits” und „Herzinfarkt bei koronarer Eingefäßerkrankung im Stadium der Heilungsbewährung” ab 24. September 1996 einen GdB von 80 fest, wobei er für die beiden Leiden je einen Einzel-GdB von 50 zugrundegelegt hatte. Ermittlungen des Beklagten im zweiten Halbjahr 1997 ergaben, daß einerseits wegen des Herzinfarkts Heilungsbewährung eingetreten war, aufgrund deren statt des bislang geschätzten Einzel-GdB von 50 nur noch ein solcher von 10 gerechtfertigt war, andererseits das Gehörleiden des Klägers von Anfang an nur in einer 70 %igen Ertaubung rechts bei Normalhörigkeit links bestanden hatte und richtigerweise nur mit einem GdB von 20 zu bewerten gewesen wäre.
Nach entsprechender Anhörung des Klägers im Dezember 1997 setzte der Beklagte mit Bescheid vom 14. Mai 1998 den mit Bescheid vom 3. Dezember 1996 festgestellten Gesamt-GdB mit Wirkung vom 17. Mai 1998 von 80 auf 20 herab. Als Behinderungen lägen nunmehr „Hörminderung rechts” und „vernarbter Herzinfarkt bei Eingefäßerkrankung” vor. Der Bescheid vom 3. Dezember 1996 sei unrichtig gewesen und nach § 45 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren – (SGB X) zurückzunehmen. Der Kläger sei hinsichtlich der Richtigkeit der Bescheide vom 2. November 1993 und vom 3. Dezember 1996 „gutgläubig im Sinn des § 45 SGB X” gewesen. Deshalb könne der Bescheid von 1996 nur mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden. Mit Widerspruchsbescheid vom 2. November 1998 stellte der Beklagte den GdB ab 17. Mai 1998 mit 30 fest. Dabei ging er vom Vorliegen von „degenerativen Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen” und „Instabilität des linken Kniegelenks” als weiteren „Behinderungen” aus.
Die Klage blieb erfolglos (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 6. September 1999). Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 23. März 2000 den Gerichtsbescheid auf und stellte den GdB unter Abänderung des Bescheides vom 14. Mai 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 1998 mit 50 fest. In den Entscheidungsgründen führte es aus, der Beklagte habe einen GdB von 50 und damit die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers bereits mit Bescheid vom 2. November 1993 festgestellt. Diese Feststellung sei zwar fehlerhaft gewesen, da der tatsächliche GdB damals nur 20 betragen habe. Der Bescheid vom November 1993 habe aber schon 1996 nicht mehr zurückgenommen werden können, weil inzwischen die Zwei-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X verstrichen gewesen sei. Das wegen Verschlimmerung des Leidenszustandes 1996 abgelaufene Verfahren habe nur der Erhöhung des GdB wegen eines hinzugetretenen Leidens gedient. Eine Neubewertung des bereits dem Bescheid vom 2. November 1993 zugrundeliegenden Leidens Hörminderung (Schwerhörigkeit) beiderseits „habe nicht stattgefunden, vielmehr hätten weder der Kläger noch der Beklagte dieses Leiden thematisiert”. Es hätten hier dieselben Grundsätze zu gelten wie bei der Rechtsfigur der sog „konstitutiven Fehlerwiederholung”. Über den aus Gründen des Bestandsschutzes zu belassenden Grad von 50 hinaus sei der GdB allerdings nicht zu erhöhen.
Mit seiner Revision macht der Beklagte geltend, das LSG habe die vom Bundessozialgericht (BSG) zur Gesamt-GdB-Bildung entwickelten Grundsätze nicht beachtet und somit (ua) § 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) verletzt. Den für die Feststellung des Gesamt-GdB zugrunde gelegten Einzelgraden komme nach der Rechtsprechung des BSG keine Bindungswirkung zu. In die mit Bescheid vom 3. Dezember 1996 vorgenommene Neubewertung des Gesamt-GdB habe auch der für die Hörminderung festgesetzte Teil-GdB von 50 Eingang gefunden. Das Versorgungsamt habe mit dem genannten Bescheid eine neue aktenkundige Entscheidung über den Gesamtleidenszustand des Klägers und damit auch über die Hörminderung getroffen. Im übrigen könnten Feststellungsbescheide nach dem SchwbG nicht mit Anpassungsbescheiden des Entschädigungsrechts verglichen werden, weswegen die Grundsätze über die konstitutive Fehlerwiederholung keine Anwendung fänden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. März 2000 aufzuheben und die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 6. September 1999 zurückzuweisen.
Der im Revisionsverfahren nicht durch einen vor dem Bundessozialgericht vertretungsbefugten Bevollmächtigten vertretene Kläger hat keinen Antrag gestellt.
II
Die Revision des Beklagten hat iS der Aufhebung und Zurückverweisung Erfolg.
Streitig ist unter den Beteiligten noch geblieben, ob der Beklagte mit dem streitbefangenen Bescheid vom 14. Mai 1998 (Bescheid von 1998) in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. November 1998 seinen Bescheid vom 3. Dezember 1996 (Bescheid von 1996), mit dem er wegen Schwerhörigkeit beiderseits und Zustand nach Herzinfarkt einen GdB von 80 anerkannt hatte, wegen ursprünglicher Unrichtigkeit und wegen Änderung der Verhältnisse auch insoweit zurücknehmen bzw aufheben durfte, als er ab 17. Mai 1998 anstelle eines GdB von 50 einen solchen von 30 festgestellt hat.
Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, daß eine Rücknahme des Bescheides von 1996, die dem Kläger einen GdB von weniger als 50 beließ, nur zulässig war, wenn der Bescheid vom 2. November 1993 (Bescheid von 1993) im Jahr 1998 noch nach § 45 SGB X zurückgenommen werden konnte. Ob dies der Fall war, kann der Senat allerdings aufgrund der bisherigen Feststellungen des LSG noch nicht beurteilen.
Gemäß § 45 Abs 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er rechtswidrig ist, unter bestimmten Einschränkungen zurückgenommen werden. Für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung, wozu auch die Feststellungsbescheide nach den SchwbG (vgl § 4 Abs 1 und 4 SchwbG) zählen, gilt nach § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X die Einschränkung, daß eine Rücknahme grundsätzlich nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts möglich ist.
Beim Bescheid von 1996 handelt es sich um einen rechtswidrigen begünstigenden Dauerbescheid iS des § 45 Abs 3 SGB X, dessen Bekanntgabe zum Zeitpunkt des Rücknahmebescheides (Bescheid von 1998) weniger als zwei Jahre zurück lag. Trotzdem war die vollständige, dh die einen GdB von nur weniger als 50 belassende Rücknahme dieses Bescheides grundsätzlich nur möglich, wenn 1998 die Rücknahmevoraussetzungen auch hinsichtlich des rechtswidrigen Bescheides von 1993 noch vorlagen.
Der Bescheid von 1996 war ein Aufhebungs- und Neufeststellungsbescheid (§ 48 SGB X) wegen einer Änderung der Verhältnisse zugunsten des Klägers (Erhöhung des GdB durch Zustand nach Herzinfarkt), mit der Besonderheit, daß durch ihn ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung abgeändert wurde. Zugleich war er seinerseits ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung iS des § 45 Abs 3 SGB X. Seine Rechtswidrigkeit beruhte darauf, daß der Beklagte – wie schon im November 1993 – nicht erkannt hatte, daß der Kläger nur auf dem rechten Ohr schwerhörig, auf dem linken aber normalhörig war, und von einer „Schwerhörigkeit beiderseits” mit einem Einzel-GdB von 50 ausgegangen war. Diese Bewertung entsprach der schon im Bescheid von 1993 vorgenommenen unzutreffenden Einschätzung dieses GdB – seinerzeit als Gesamt-GdB. Durch Zugrundelegung des damaligen GdB bei der Ermittlung des neuen Gesamt-GdB war auch der mit Bescheid von 1996 festgesetzte Gesamt-GdB von 80 fehlerhaft, dh „rechtswidrig” iS des § 45 SGB X.
Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Rechtsprechung des Senats zur „konstitutiven Fehlerwiederholung”. Gemäß dieser Rechtsprechung ist ein Bescheid, mit dem ein fehlerhafter Dauerbescheid den geänderten Verhältnissen angepaßt wird, bevor dessen Fehlerhaftigkeit festgestellt wurde, als rechtmäßig anzusehen (vgl BSGE 79, 92, 94 = SozR 3-1300 § 45 Nr 30 mwN). Diese Rechtsprechung paßt aber, wie der Beklagte zu Recht geltend macht, nicht auf die Berücksichtigung eines fehlerhaft festgestellten GdB bei der Ermittlung eines neuen, aufgrund des Hinzutritts eines Leidens neu zu beurteilenden Gesamt-GdB. Denn bei einer derartigen Neufestsetzung im Rahmen einer auf § 48 Abs 1 SGB X gestützten Aufhebung wegen einer Änderung der Verhältnisse zugunsten des Betroffenen handelt es sich nicht um eine reine Hochrechnung des im alten Bescheid festgestellten Gesamt-GdB, sondern um dessen Neuermittlung unter Berücksichtigung der gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen Leiden (vgl BSGE 81, 50 = SozR 3-3870 § 3 Nr 7). Richtigerweise hätte der Beklagte, wenn die Fehlerhaftigkeit des Bescheides von 1993 bereits 1996 erkannt worden wäre, nach § 48 Abs 3 SGB X den 1996 tatsächlich vorliegenden GdB (mindestens 50) feststellen können und müssen. Nach dieser Vorschrift darf, wenn ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden kann, und – wie hier – eine Änderung der Verhältnisse zugunsten des Betroffenen eingetreten ist, die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt. Diese Vorschrift findet auch im Schwerbehindertenrecht hinsichtlich der Feststellung des (Gesamt-)GdB entsprechende Anwendung, obwohl es sich dabei nicht um eine „Leistung” handelt (vgl BSGE 60, 287, 291 = SozR 1300 § 48 Nr 29).
Voraussetzung für eine derartige „Abschmelzung” des Bescheides von 1993 im Jahr 1996 wäre allerdings gewesen, daß der Bescheid von 1993 nicht nach § 45 SGB X zurückgenommen werden konnte, etwa wegen Maßgeblichkeit der (abgelaufenen) Zweijahresfrist nach § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X. Im anderen Fall hätte der Beklagte den bindenden Bescheid von 1993 nach § 45 SGB X zurücknehmen können, etwa wenn der Kläger diesen Bescheid mit vorsätzlich oder fahrlässig gemachten falschen Angaben erwirkt (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X) oder bei der Bekanntgabe dieses Bescheides dessen Unrichtigkeit gekannt oder infolge von grober Fahrlässigkeit nicht gekannt haben sollte (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X), so daß für die Rücknahme anstelle der Zweijahresfrist eine Zehnjahresfrist gelaufen wäre. Dadurch, daß der Beklagte weder eine Rücknahme noch eine „Abschmelzung” vorgenommen hat, ist der Änderungsbescheid von 1996 aber nicht rechtmäßig geworden.
Der rechtswidrige Bescheid von 1996 konnte – auch innerhalb der für ihn geltenden Zweijahresfrist – als rein begünstigender, dh die Rechtsstellung des Klägers ausschließlich verbessernder – Bescheid uU nur teilweise zurückgenommen werden: Der Kläger durfte ggf durch die Rücknahme keine ungünstigere Rechtsposition erlangen, als sie ihm 1993 bereits eingeräumt worden war. Das würde jedenfalls dann gelten, wenn der Bescheid von 1993 im Jahr 1996 wegen Ablaufs der in § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X genannten Zweijahresfrist inzwischen gesteigerte Bestandskraft erlangt haben sollte, dh nicht mehr zu Lasten des Klägers zurückgenommen werden konnte. Die Fehlerhaftigkeit des Bescheides von 1996 beruhte nämlich insoweit auf der bereits 1993 vorgenommenen und mittlerweile möglicherweise gesteigert bestandskräftig gewordenen Fehlbeurteilung der Schwerhörigkeit des Klägers, die – wenn auch unzutreffend – als beiderseitig und deswegen als hochgradig angesehen worden war. Der insoweit möglicherweise erworbene Vertrauensschutz, der zu einer praktisch unverlierbaren sozialen Rechtsposition geführt haben könnte, hätte ggf dem Kläger auch bei einer Rücknahme des Bescheides von 1996 zugute kommen müssen, solange nicht hinsichtlich der 1993 festgestellten und bewerteten Schwerhörigkeit eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zu seinen Lasten eintrat (vgl zur Zulastenänderung bei fehlerhaften Dauerbescheiden BSG SozR 1300 § 48 Nr 13, BSGE 67, 204, 210 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1 und Steinwedel in KassKomm RdNr 31 zu § 48).
Dem steht nicht entgegen, daß mit diesem Bescheid der alte Bescheid von 1993 wegen einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse (zugunsten des Klägers) gemäß § 48 Abs 1 SGB X „aufgehoben” worden war. Das ergibt sich schon daraus, daß (1996) eine Aufhebung nach § 48 Abs 1 SGB X nur „insoweit” zulässig war, als eine Änderung der Verhältnisse eingetreten war. Eine solche lag aber nur in Gestalt der Heilungsbewährung des 1996 abgelaufenen Herzinfarkts, nicht hingegen hinsichtlich des Ohrenleidens vor. Schon diese Überlegung spricht dafür, daß die verfestigte Rechtsposition, die der Kläger durch die Bestandskraft des Bescheides vom 2. November 1993 erworben haben könnte, durch die erst 1996 eingetretene Zugunstenänderung nicht beeinträchtigt werden konnte, es sei denn, der Beklagte hätte die Abschmelzungsregelung des § 48 Abs 3 SGB X angewendet (vgl dazu BSGE 60, 278, 291 = SozR 1300 § 48 Nr 29). Dies ist indessen unterblieben. Durch die Zugunstenänderung des Bescheides von 1993 allein konnten dem Kläger mithin die aus der Bestandskraft des Bescheides von 1993 erwachsenen Rechtsvorteile nicht verloren gehen.
Dieses Ergebnis wird auch durch folgende Überlegungen gestützt: Tritt hinsichtlich eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts mit Dauerwirkung (wie hier des Bescheides von 1993) eine Änderung der Verhältnisse ein, so stellt das Gesetz – jedenfalls ausdrücklich – die Möglichkeit einer Korrektur nur mit dem in § 48 Abs 3 SGB X geregelten Verfahren bereit (vgl zur Anwendung dieser Vorschrift auf das Schwerbehindertenrecht BSGE 60, 278, 291 = SozR 1300 § 48 Nr 29). Das heißt, die spätere „Zugunstenänderung” ist bei der Neufeststellung nur insoweit zu berücksichtigen, als die festzusetzende Vergünstigung der tatsächlichen Rechtslage entspricht. Wird diese Möglichkeit nicht wahrgenommen, so kann die unterbliebene „Abschmelzung” nicht bei einer zukünftigen „Zulastenänderung” der Verhältnisse nachgeholt werden. Vielmehr ist es in einem solchen Fall erforderlich, daß sich entweder (auch) die früher von der Behörde zu Unrecht für maßgeblich gehaltenen oder fehlbeurteilten Umstände (hier die Schwerhörigkeit des Klägers) zu Lasten des Klägers geändert haben (vgl dazu Steinwedel aaO) – diese Möglichkeit scheidet indessen nach den Feststellungen des LSG hier aus –, oder daß hinsichtlich des ursprünglichen Bescheides (hier desjenigen von 1993) die Rücknahmevoraussetzungen des § 45 SGB X vorliegen.
Übrigens wäre die vollständige Rücknahme des Bescheides von 1996 – ohne Rücksicht auf die etwa eingetretene gesteigerte Bestandskraft des Bescheides von 1993 – auch ermessenswidrig, dh durch das in § 45 Abs 1 SGB X eingeräumte Rücknahmeermessen („darf”) nicht gedeckt, weil bei der Rücknahme des zugunsten des Betroffenen geänderten Bescheides die vorher erreichte formale Rechtsposition des Betroffenen (weitgehender Schutz des Klägers gegen die Rücknahme der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft) nicht außer acht bleiben darf.
Gleichwohl kann der Senat noch keine abschließende Entscheidung treffen. Denn es läßt sich nicht ausschließen, daß der Bescheid von 1993 – und entsprechend auch der Bescheid von 1996 – im Jahr 1998 noch wegen ursprünglicher Unrichtigkeit nach § 45 SGB X zurückgenommen werden konnte. Es erscheint immerhin denkbar, daß der Kläger zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides von 1993 wußte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht wußte, daß der Bescheid – wegen offensichtlicher Zugrundelegung falscher Tatsachen durch den Beklagten – rechtswidrig war. Das LSG hat die zur Beurteilung dieser Frage erforderlichen Tatsachen bisher nicht ermittelt, sich insbesondere auch nicht die Feststellungen des Beklagten in den angefochtenen Bescheiden zu eigen gemacht. Es hat lediglich festgestellt, der Kläger habe die Unrichtigkeit des Bescheides von 1996 „nicht zu vertreten”. Dem kann aber nur die Feststellung entnommen werden, daß der Kläger diesen Bescheid nicht mit falschen Angaben erwirkt hat, daß also die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X nicht vorlagen. Dagegen hat das LSG offengelassen, ob der Kläger die Unrichtigkeit des Bescheides von 1993 bei dessen Bekanntgabe kannte oder hätte kennen müssen (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X). Hierfür spricht: Der Kläger wußte, daß er nur auf einem Ohr schwerhörig ist, während das andere Ohr keine Funktionsstörung aufweist. Daraus konnte er möglicherweise den Schluß ziehen, daß die vom Beklagten im Bescheid von 1993 getroffene Feststellung „Hörminderung beiderseits” und die darauf beruhende Bewertung des GdB mit 50 und die damit verbundene Feststellung der Schwerbehinderung mit diesem Beschwerdebild unvereinbar waren. Ob dem Kläger insoweit grobfahrlässige Unkenntnis vorgeworfen werden kann, muß noch vom LSG ermittelt werden.
Diese Feststellungen erübrigen sich nicht deswegen, weil der Bescheid von 1998 zugleich auch als Aufhebungs- und Änderungsbescheid gemäß § 48 SGB X anzusehen ist. Daß der Beklagte (auch) eine solche Aufhebung wegen Änderung der Verhältnisse mit dem Bescheid von 1998 bezweckte, ergibt sich aus der diesem Bescheid vorausgegangenen entsprechenden Anhörung des Klägers im Dezember 1997, ferner aus denkgesetzlichen Gründen: als reiner Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X hätte der Bescheid von 1998 den Bescheid von 1996 nämlich nur insoweit ändern dürfen, als dieser ursprünglich unrichtig war, dh auf einer Einbeziehung des Ohrenleidens mit einem Einzel-GdB von 50 beruhte. Aber auch nach § 48 SGB X durfte 1998 der Bescheid von 1996 nur insoweit, wie inzwischen eine Änderung der Verhältnisse zu Ungunsten des Klägers eingetreten war, aufgehoben werden. Das war – durch zwischenzeitliche Heilungsbewährung – nur hinsichtlich des Zustandes nach Herzinfarkt der Fall. Diese bis 1998 eingetretene Änderung der Verhältnisse konnte aber eine Herabsetzung des 1996 festgesetzten GdB von 80 auf einen Wert von weniger als 50 nicht rechtfertigen, weil sie das 1993 mit einem Einzel-GdB von 50 bewertete Ohrenleiden nicht erfaßte. Der Wegfall oder die Verringerung lediglich der von dem Herzleiden ausgehenden Funktionsstörungen rechtfertigte 1998 höchstens die Rückgängigmachung der 1996 zugunsten des Klägers vorgenommenen Änderung (Wiederherabsetzung des GdB von 80 auf 50), nicht aber eine Herabsetzung des GdB auf weniger als den bereits allein für das Ohrenleiden bindend festgesetzten GdB von 50. Die 1993 erworbene Rechtsstellung blieb also auch für die spätere Zulastenänderung des Bescheides von 1996 beachtlich und konnte, solange sich das Ohrenleiden nicht besserte, nur verloren gehen, wenn entweder hinsichtlich des Bescheides von 1993 die Voraussetzungen des § 45 SGB X vorlagen oder wenn die 1993 erlangten Vorteile in dem in § 48 Abs 3 SGB X geregelten Verfahren abgeschmolzen worden waren.
Der Rechtsstreit ist nach allem zur Feststellung der Frage, ob der Kläger bei der Bekanntgabe des Bescheids von 1993 dessen Rechtswidrigkeit kannte oder hätte kennen müssen, an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz).
Bei der abschließenden Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des gesamten Verfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 558056 |
BSGE 87, 126 |
BSGE, 126 |
SozR 3-1300 § 45, Nr. 43 |
NJOZ 2001, 803 |