Leitsatz (amtlich)
War eine BG zunächst zur Tragung der Kosten einer Heilanstaltspflege wegen einer Siliko-Tuberkulose nach RVO §§ 558 ff aF verpflichtet, so bleibt diese Verpflichtung nach TbcG § 27 Abs 3, BSHG § 135 Abs 1 iVm § 132 weiter bestehen, wenn der Behandlungsfall später ein Asylierungsfall wird, ohne daß es darauf ankommt, ob die BG nach RVO §§ 558 ff aF bei Asylierungsfällen an sich nicht zur Tragung dieser Kosten verpflichtet ist.
Normenkette
RVO § 558 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1925-07-14; BSHG § 135 Abs. 1, § 132; TbcG § 27 Abs. 3 Fassung: 1959-07-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juli 1965 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 19. September 1962 wird zurückgewiesen
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der im Jahre 1887 geborene frühere Bergmann J... R. (R.) bezog von der Beklagten seit 1948 Unfallrente wegen Silikose. Als im Jahre 1960 eine aktiv fortschreitende Lungentuberkulose hinzutrat, wurde R., nachdem seine Behandlungsbedürftigkeit in einem Krankenhaus durch den von der Beklagten beauftragten Prof. Dr. R. festgestellt worden war, am 21. Juli 1960 in das Tuberkulose-Krankenhaus "H." der Diakonissen-Krankenanstalten in D. zur stationären Behandlung eingewiesene. Die Beklagte trug zunächst die entstehenden Kosten. Nachdem Dr. N..., der Chefarzt des Krankenhauses, der Beklagten mit Schreiben vom 18. August 1961 mitgeteilt hatte, daß es sich nunmehr um einen Asylierungsfall handele, eröffnete die Beklagte dem Kläger als Landesfürsorgeverband (jetzt: überörtlichem Träger der Sozialhilfe) am 8. November 1961, daß sie die Kosten nur für die Zeit bis zum 20. Juli 1961 übernehmen könne, weil es sich um einen Fall der Dauerbehandlung im Sinne des Tuberkulosehilfegesetzes vom 23. Juli 1959 -BGBl I 513- (THG) handele; gesundheitspolizeiliche bzw. gesundheitsfürsorgerische Gründe seien für die Absonderung des R. maßgebend. Aufwendungen für derartige Dauerbehandlungsfälle gingen nicht zu ihren Lasten. Der Kläger übernahm zwar die vom 1. September 1961 an entstehenden Krankenhauskosten, weil er sich als Träger der Tuberkulosehilfe veranlaßt sah, eine vorzeitige Entlassung des anstaltspflegebedürftigen R. aus dem Krankenhaus zu verhindern, erhob aber beim Sozialgericht (SG) Köln Klage.
Das SG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger die durch die Heilbehandlung des R. in der Zeit vom 1. September 1961 an entstandenen Kosten zu erstatten (Urteil vom 19. September 1962). Es ist der Auffassung, daß die Beklagte nach § 27 Abs. 3 THG, § 135 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bis zur Beendigung der Heilbehandlung zur Tragung der Kosten der Heilbehandlung verpflichtet bleibe. Auch wenn es sich um einen "Asylierungsfall" handele, könne eine Änderung in der durch die Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit begründeten Zuständigkeit der Beklagten nicht eintreten.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: R. habe gegen die Beklagte für die Zeit von 1. September 1961 an keinen Anspruch auf Krankenhausbehandlung mehr gehabt, da es sich seitdem um einen Asylierungsfall gehandelt habe. § 27 Abs. 3 THG vermöge eine Verpflichtung der Beklagten zum Kostenersatz, die über den durch die RVO gestellten Rahmen hinausgehe, nicht zu rechtfertigen. Diese Vorschrift betreffe nur das Verhältnis zwischen den nach dem THG zur Bekämpfung der Tuberkulose berufenen Stellen. Auch aus dem BSHG lasse sich der Ersatzanspruch gegen die Beklagte nicht rechtfertigen. Zwar bringe § 135 Abs. 1 in Verbindung mit § 132 aaO gegenüber § 27 Abs. 3 THG insofern eine Erweiterung, als die sachliche Zuständigkeit u.a auch von Trägern der Sozialversicherung bis zur Beendigung der Heilbehandlung bestehen bleibe. Danach könne sich diese Gesetzeserweiterung im vorliegenden Fall deshalb nicht auswirken, weil der Kläger beim Inkrafttreten des BSHG (1. Juni 1962) bereits seit längerem die Heilbehandlung des Versicherten in eigener Zuständigkeit durchgeführt habe und weil die Beklagte nach der RVO nicht zur Tragung der Kosten verpflichtet sei.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung des § 27 Abs. 3 THG durch das Berufungsgericht und trägt im wesentlichen vor: § 27 Abs. 3 THG sei auf den vorliegenden Fall anzuwenden, weil sich die die sachliche Zuständigkeit begründenden Umstände geändert hätten. Die Beklagte zähle auch zu den Stellen, die von § 27 Abs. 3 THG erfaßt würden. Der 4. Abschnitt des THG behandele die Zusammenarbeit der zur Bekämpfung der Tuberkulose verpflichteten Stellen. Im Gegensatz zum BSHG, das in § 132 den Anwendungsbereich der Sonderbestimmungen für sonstige zur Tuberkulosebekämpfung verpflichteten Stellen umreiße, habe das THG auf eine derartige Aufzählung verzichtet und dafür die Überschrift zu Abschnitt 4 THG so umfassend gewählt, daß sämtliche Träger von Maßnahmen zur Tuberkulosebekämpfung erfaßt würden. Daß Abschn. 4 THG -und insbesondere § 27 Abs. 3 THG- sich nicht nur auf die Stellen beziehe, die nach dem THG zur Gewährung von Leistungen berufen waren, ergebe sich aus der Erwähnung der gesetzlichen Krankenversicherung im § 27 Abs. 3 Satz 3 THG, wo es heiße, daß die Bestimmungen und Vorschriften über die zeitliche Begrenzung der Leistungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unberührt blieben. Wenn die gesetzlichen die gesetzlichen Krankenversicherung unberührt Trägern zählten, für die § 27 Abs. 3 THG anzuwenden ist, so sei kein Grund zu erkennen, die Berufsgenossenschaften auszuschließen.
Mit dem 20. Juli 1961 sei die Heilbehandlung des R. noch nicht abgeschlossen gewesen. Der Begriff "Heilbehandlung" in § 27 THG müsse entsprechend der Definition des § 2 THG ausgelegt werden. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 THG gehörten aber zur Heilbehandlung die stationäre Krankenhaus- und Heilstättenbehandlung einschließlich der Dauerbehandlung.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Rügen des Klägers nicht für durchgreifend. § 27 Abs. 3 THG finde keine Anwendung. Die gesetzliche Verpflichtung der Beklagten bestehe darin, den Gesundheitszustand zu bessern und die Arbeitskraft so schnell wie möglich mit allen Mitteln wiederherzustellen oder das Leiden zu bessern. Eine willkürliche Ausdehnung dieser gesetzlichen Verpflichtung über § 27 Abs. 3 THG hinaus auf die Behandlung von Asylierungsfällen würde eine Gesetzesüberschreitung darstellen. Die Zuständigkeit der Beklagten könne daher bei einer Asylierung nicht gegeben sein. Asylierungsmaßnahmen habe die Allgemeinheit, also der Staat, zu tragen. Gegen die Auffassung des Klägers spreche auch § 536 Abs. 2 RVO in der Fassung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes -UVNG-. Wäre die Zuständigkeit des Unfallversicherungsträgers bereits durch § 27 Abs. 3 THG begründet, so hätte es einer Erweiterung der früheren Vorschriften (§§ 558 ff RVO aF) nicht bedurfte. Die Einführung des § 556 Abs. 2 RVO nF beruhe gerade darauf, daß neuerdings auch Asylierungsfälle dem Unfallversicherungsträger aufgebürdet würden, die früher nur den Trägern der Sozialhilfe oder den Rentenversicherungsträgern und wegen des Erstattungsanspruchs letztlich dem Bund angelastet worden seien. Es treffe nicht zu, daß in der angefochtenen Entscheidung dem Begriff "Heilbehandlung" eine wesensfremde Bedeutung beigelegt worden sei. Dieser Begriff könne nur in seiner eigentlichen Bedeutung verstanden werden. Aus dem Umstand, daß in § 2 Abs. 1 Nr. 1 THG auch die Dauerbehandlung auf geführt ist; könne nicht der Schluß gezogen werden, daß das Tuberkulosehilfegesetz den Rahmen eines anderen Gesetzes ändern wolle.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist begründete.
Zu Unrecht hat das LSG die Klage abgewiesen. Denn der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf Ersatz der von ihm für die Heilbehandlung des R. in der Zeit vom 1. September 1961 bis zu dessen Tode (19. Oktober 1962) auf gewendeten Kosten, gleichgültig, ob die Beklagte auch bei Asylierungsfällen nach § 558 ff RVO aF dem Versicherten Leistungen zu erbringen hat oder ob dies nicht der Fall ist.
Geht man davon aus, daß seit dem 1. September 1961 ein Asylierungsfall vorlag und daß die Beklagte nicht nur bei "Behandlungsfällen", sondern auch in einem solchen Fall verpflichtet war, die Kosten der Heilbehandlung nach §§ 558 ff RVO zu tragen, so hat der Kläger Anspruch auf Ersatz dieser Kosten nach § 1531 ff RVO (§ 1541 RVO in der Fassung des § 31 Ziff. 1 Buchst. c des Gesetzes über die Tuberkulosehilfe vom 23. Juli 1959 -THG-, BGBl I 518). Denn er hat in der Zeit vom 1. September 1961 bis zum 19. Oktober 1962 als Träger der Tuberkulosehilfe nach gesetzlicher Pflicht, nämlich zunächst nach § 1 Abs. 2 THG und seit dem 1. Juni 1962 nach § 59 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961 -BSHG- (BGBl I 815), die Kosten der Heilbehandlung des R. getragen, der seinerseits während dieser Zeit gegen die Beklagte nach § 558 ff RVO aF Anspruch auf Heilbehandlung gehabt hätte.
Gleiches gilt aber auch dann, wenn die Beklagte bei Asylierungsfällen nach §§ 558 ff RVO aF nicht zur Gewährung von Heilbehandlung verpflichtet gewesen wäre. Dem Kläger stände dann ein Anspruch auf Ersatz der von ihm für R. aufgewendeten Heilbehandlungskosten bis zum 31. Mai 1962 nach § 27 Abs. 1 Satz 3 THG und danach auf Grund des § 59 Abs. 2 Satz 2, 1. Halbsatz BSHG zu. Die Verpflichtung der Beklagten, die Kosten der Heilbehandlung des R. zu tragen, ergibt sich für die Zeit vom 1. September 1961 an aus § 27 Abs. 3 THG und seit dem Inkrafttreten des BSHG. (1. Juni 1962) aus § 135 Abs. 1 in Verbindung mit § 132 BSHG. Diese Vorschriften betreffen nicht nur das Verhältnis zwischen den Trägern der Sozialhilfe im engeren Sinne, sondern auch das Verhältnis zwischen diesen und anderen zur Bekämpfung der Tuberkulose verpflichteten Stellen. Hinsichtlich des THG ergibt sich dies schon aus der Überschrift des vierten Abschnitts diese Gesetzes, in welcher alle zur Bekämpfung der Tuberkulose verpflichteten Stellen und nicht nur die Träger der Tuberkulosehilfe im engeren Sinne angesprochen sind. Hinzukommt, daß in § 27 Abs. 3 Satz 3 THG eine -einengende- Sonderregelung für die gesetzliche Krankenversicherung getroffen ist, woraus zu schließen ist, daß § 27 Abs. 3 aaO auch die Sozialversicherungsträger erfaßt. Bestätigt wird diese Auffassung zudem durch die heute diese Frage regelnden §§ 135 Abs. 1 in Verbindung mit 132 BSHG. In der letztgenannten Vorschrift werden die Träger der Sozialversicherung ausdrücklich genannt. Dadurch sollte die Rechtslage nicht geändert, sondern nur klargestellt werden. Es werden also sowohl durch § 27 Abs. 3 TAG als auch durch § 135 in Verbindung mit § 132 BSHG alle Sozialversicherungsträger erfaßt, die Leistungen für den Fall einer Erkrankung an Tuberkulose gewähren, mithin auch die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung im Rahmen ihrer Zuständigkeit (Muthesius/Spahn/Caesar, Recht der Tuberkulosehilfe, Anm. 2 zu § 25 und Anm. 5 zu § 1 THG).
Die Voraussetzungen des § 27 Abs. 3 THG und des § 135 Abs. 1 in Verbindung mit § 132 BSHG liegen vor, wenn man unterstellt, daß die Beklagte seit Eintritt des Asylierungsfalls nicht mehr verpflichtet war, dem Versicherten Heilbehandlung zu gewähren. Nach der Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit des R. durch einen Arzt der Beklagten und der daraufhin durchgeführten Einweisung des R. in das Krankenhaus (21. Juli 1960) hätten sich in diesem Fall die die Zuständigkeit der Beklagten begründenden Umstände geändert. Zunächst war die Beklagte nach § 558 ff RVO aF ohne Zweifel zur Gewährung der stationären Heilbehandlung des R. verpflichtet. Nachdem der Behandlungsfall zu einem Asylierungsfall wurde, wäre sie dagegen gemäß dieser Rechtsauffassung nach §§ 558 ff RVO aF nicht mehr zuständig gewesen. Für die Fälle des Zuständigkeitswechsels schreiben aber § 27 Abs. 3 THG und § 135 Abs. 1 in Verbindung mit § 132 BSHG vor, daß die bisherige Zuständigkeit, und das bedeutet die Verpflichtung zur Tragung der Heilbehandlungskosten, weiterbestehen bleibt. Diese Regelung ist im Interesse der Tuberkuloseerkrankten ergangen. Es sollte vermieden werden, daß während einer Heilbehandlung Zuständigkeitsstreitigkeiten entstehen, durch welche der Tuberkuloseerkrankte in Sorge geraten könnte, ob und wer die Kosten seiner Heilbehandlung weiter zu tragen hat› Es trifft zu, daß diese Regelung nur bis zur Beendigung der "Heilbehandlung" gilt. Entgegen der Auffassung der Beklagten war diese aber nicht schon am 1. September 1961, sondern erst mit dem Tode des R. beendet. Unter "Heilbehandlung" im Tode des R. beendet. Unter "Heilbehandlung" im Sinne des THG und des BSHG ist nämlich, wie sich aus § 2 Abs. 1 Nr. 1 THG, § 49 Abs. 2 Nr. 1 BSHG ergibt, die stationäre Krankenhausbehandlung einschließlich der Dauerbehandlung zu verstehen. Diese dauerte aber bis zum Tode des R.
Die Beklagte wendet gegen die Anwendung dieser Vorschriften weiter ein, daß erst § 556 Abs. 2 RVO in der Fassung des UVNG vom 30. April 1963 (BGBl I 241) ihre Leistungspflicht für Asylierungsfälle bei Tuberkulose als Berufskrankheit begründet habe, und meint, diese Vorschrift wäre nicht erforderlich gewesen, wenn sie bereits nach §27 Abs. 3 THG, § 135 Abs. 1 in Verbindung mit § 132 BSHG verpflichtet wäre, die Kosten der Heilbehandlung zu tragen. Hierbei übersieht sie, daß die genannten Vorschriften des THG und des DSHG nur den Sonderfall des Wechsels der Zuständigkeit während der Heilbehandlung regeln, während § 556 Abs. 2 RVO nF nunmehr allgemein die Leistungspflicht der Berufsgenossenschaften bei Asylierungsfällen wegen Tuberkulose als Berufskrankheit vorschreibt. § 556 Abs. 2 RVO nF bezieht sich also auch auf Fälle, die von der Regelung des § 27 Abs. 3 THG, § 135 Abs. 1 in Verbindung mit § 132 BSHG nicht erfaßt werden; die neue Vorschrift war mithin erforderlich, wenn der Gesetzgeber bei Erkrankung an Tuberkulose die Leistungspflicht des Trägers der Unfallversicherung umfassend begründen oder klarst eilen wollte. Die Beklagte hat deshalb dem Kläger die von diesem getragenen Kosten der Heilbehandlung des R. auch dann zu ersetzen, wenn sie bei Asylierungsfällen allein nach §§ 558 ff RVO aF nicht zur Tragung dieser Kosten verpflichtet wäre.
Da dem Kläger der geltend gemacht Ersatzanspruch gegen die Beklagte auf jeden Fall zusteht, ohne daß es darauf ankommt, ob diese nach §§ 558 ff RVO aF auch in Asylierungsfällen zur Tragung der Kosten verpflichtet war, ist die Revision begründet.
Das angefochtene Urteil wird daher aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen