Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. Inhalt des Urteils. nicht ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung. Berufungsfrist. zu Unrecht als verspätet angesehene Berufung
Orientierungssatz
1. Dadurch, dass die Rechtsmittelbelehrung nach § 136 Abs 1 Nr 7 SGG Bestandteil des schriftlich abgefassten Urteils ist, wird den Beteiligten das Recht eingeräumt, die Rechtsmittelbelehrung vom Gericht selbst zu erhalten. Das hat zur Folge, dass das Maß der damit gewährleisteten Rechtssicherheit nicht erreicht ist, wenn die Rechtsmittelbelehrung nicht zu dem vom Richter unterschriebenen Urteilsteil gehört (hier: Rechtsmittelbelehrung folgt erst nach der Unterschrift). Eine solche Rechtsmittelbelehrung kann, ungeachtet ihres Inhalts, nicht als ordnungsgemäß im Sinne des § 66 Abs 1 SGG angesehen werden (vgl BSG vom 16.4.1957 - 10 RV 210/54 = SozR SGG § 136 Bl Da 1 Nr 4).
2. Die Rüge, das Berufungsgericht habe zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt, setzt voraus, dass der eingelegte Rechtsbehelf tatsächlich - und nicht nur irrigerweise angenommen - verspätet war. In einem solchen Fall kann aber in dieser Rüge unbedenklich auch die gleichzeitige Rüge erblickt werden, dass die eingelegte Berufung zu Unrecht als verspätet angesehen worden ist. Das muss insbesondere dann gelten, wenn sich der Revisionsangriff seinem Sinn nach darauf richtet.
Normenkette
SGG § 66 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 67 Fassung: 1953-09-03, § 136 Abs. 1 Nr. 7 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 2. Februar 1955 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger beantragte am 30. Januar 1948 bei der Landesversicherungsanstalt (LVA.) Hessen in W Versorgung nach dem Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte vom 8. April 1947 (KB-Leistungsgesetz - KBLG -) wegen eines im Wehrdienst erlittenen doppelten Unterarmbruchs rechts und wegen Gelenkrheumatismus, den er sich im Wehrdienst zugezogen habe. Mit Bescheid vom 25. August 1951 wurde beim Kläger "leichte Einschränkung der Drehbewegung des rechten Unterarms nach Knochenbruch" als Leistungsgrund anerkannt, Rente jedoch versagt, weil die durch den angegebenen Leistungsgrund bedingte Erwerbsunfähigkeit den gesetzlichen Mindestgrad von 30 v. H. (nach dem KBLG) bzw. von 25 v. H. (nach dem Bundesversorgungsgesetz - BVG -) nicht erreiche. Die Klage gegen diesen Bescheid hatte Erfolg. Mit Urteil des Sozialgerichts (SG.) Wiesbaden vom 18. Mai 1954 wurde der Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 25. August 1951 verurteilt, dem Kläger unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v. H. vom 1. Januar 1948 ab eine Rente zu gewähren. Im Urteil des SG. folgt die Rechtsmittelbelehrung nach den vom Kammervorsitzenden unterschriebenen Entscheidungsgründen, sie ist weder durch die Unterschrift gedeckt, noch ist in den Entscheidungsgründen auf sie verwiesen.
Gegen dieses ihm am 5. Juni 1954 zugestellte Urteil legte der Beklagte mit Schriftsatz vom 5. Juli 1954, der am 6. Juli 1954 beim Hessischen Landessozialgericht (LSG.) in Darmstadt einging, Berufung ein. Wegen Versäumung der Berufungsfrist um einen Tag beantragte er mit Schriftsatz vom 8. Juli 1954 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da es ihm nicht möglich gewesen sei, die Berufung noch rechtzeitig vor Ablauf der Berufungsfrist einzulegen. Ein Bote habe die Berufungsschrift am Montag, dem 5. Juli 1954, gegen 14 Uhr überbringen sollen. Die Diensträume des LSG. seien jedoch um diese Zeit geschlossen gewesen, wahrscheinlich deshalb, weil am 5. Juli 1954 um 13 Uhr anlässlich des örtlichen H.-festes in D der Dienstbetrieb im LSG eingestellt worden sei. Ein Briefkasten sei nicht vorhanden, ein Bereitschaftsdienst nicht eingeteilt gewesen; ein Hinweis darauf, bei welcher Stelle eilige Schriftstücke für das LSG. abgegeben werden könnten, habe gefehlt. Der Bote habe daher den Berufungsschriftsatz beim Hausmeister des Versorgungsamts (VersorgA.) in D abgegeben, der dann die Weiterleitung an das LSG. am 6. Juli 1954 vorgenommen habe. Unter diesen Umständen sei es nicht möglich gewesen, die Berufung noch bis zum Ablauf der Berufungsfrist einzulegen.
In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. am 2. Februar 1955 beantragte der Beklagte die Vertagung der Sache, um Gelegenheit zu haben, die im Wiedereinsetzungsantrag vom 8. Juli 1954 behaupteten Tatsachen glaubhaft machen zu können. Das LSG. lehnte diesen Vertagungsantrag ab; die Berufung des Beklagten wurde wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen, die Revision wurde vom LSG. nicht zugelassen.
Gegen dieses, am 2. Februar 1955 verkündete, am 2. März 1955 zugestellte Urteil richtet sich die mit Schriftsatz vom 19. März 1955 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingelegte Revision des Beklagten. Er rügt die Verletzung der §§ 67 und 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und macht geltend, die Revision sei nach der Vorschrift des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Er führt aus, die vom LSG. im angefochtenen Urteil angeführte Vorschrift des § 294 der Zivilprozessordnung (ZPO) in Verbindung mit § 202 SGG sei im sozialgerichtlichen Verfahren nicht anwendbar, da § 67 SGG für die Wiedereinsetzung besondere, von der ZPO abweichende Vorschriften enthalte. Im übrigen gelte nach dem SGG im Hinblick auf § 103 SGG im Gegensatz zur ZPO der Amtsbetrieb. Die Sollvorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 2 SGG sei auch nicht so zwingend wie die entsprechende Mußvorschrift der ZPO. Das LSG. habe deshalb die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht verweigern dürfen.
Der Beklagte hat beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG. in Darmstadt vom 2. Februar 1955 aufzuheben, seinem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG stattzugeben und die Sache gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das Hessische LSG. in Darmstadt zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung am 19. Dezember 1957 seinen in der Revisionserwiderungsschrift vom 21. Mai 1955 gestellten Antrag, die Revision des Beklagten als unzulässig zu verwerfen, gegebenenfalls die Revision zurückzuweisen, nicht wiederholt, sondern ebenfalls beantragt,
das Urteil vom 2. Februar 1955 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische LSG. in Darmstadt zurückzuverweisen.
Im Hinblick auf die ständige Rechtsprechung des BSG. zu § 66 SGG müsse die Rechtsmittelbelehrung des SG. Wiesbaden als unrichtig erteilt angesehen werden, da sie in der Urteilsurkunde erst hinter der Unterschrift des Kammervorsitzenden folge und somit nicht Bestandteil des Urteils geworden sei. Deshalb habe nach § 66 Abs. 2 SGG die Berufungsfrist ein Jahr betragen, eines Wiedereinsetzungsantrags des Beklagten habe es nicht bedurft; das Berufungsgericht sei bei der Verweigerung der beantragten Wiedereinsetzung unzutreffend davon ausgegangen, dass die Berufungsfrist verstrichen gewesen sei.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da das LSG. sie nicht zugelassen hat, hängt ihre Statthaftigkeit davon ab, ob die in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils genannten Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 SGG gegeben sind; entweder muß ein wesentlicher Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts gerügt werden (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und vorliegen (BSG. 1 S. 150), oder bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG muß das Gesetz verletzt sein (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
Die Revision ist statthaft. Dabei ist unschädlich, dass der Beklagte in der Revisionsbegründungsschrift ausgeführt hat, er stütze die Revision auf die - nur für die Zulassung kraft Ausspruchs geltende - Vorschrift des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Hier handelt es sich um einen offensichtlichen Schreibfehler, der nicht zum Nachteil des Beklagten wirken konnte; denn aus dem Gesamtvorbringen des Beklagten ist unmißverständlich zu entnehmen, dass er die Revision auf die Vorschrift des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG stützen will: er rügt mit seinem Vorbringen, das LSG. habe ihm zu Unrecht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert, einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
Diese Rüge geht allerdings insofern fehl, als der Beklagte rechtsirrig davon ausgeht - ebenso wie das LSG. rechtsirrig davon ausgegangen ist -, dass die Berufungsfrist mit dem 5. Juli 1954 abgelaufen gewesen sei. Denn nach § 66 Abs. 1 SGG beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist. Diese schriftliche Rechtsmittelbelehrung muss nach § 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG im Urteil enthalten sein. Das aber bedeutet nach der ständigen Rechtsprechung des BSG., dass im sozialgerichtlichen Verfahren eine Rechtsmittelbelehrung vom Gericht selbst erteilt, beim Urteil eines SG. mithin auch durch die Unterschrift des Kammervorsitzenden gedeckt sein muß (vgl. BSG. 4 S. 206 (210)). Das SGG hat dadurch, dass es die Rechtsmittelbelehrung zum Bestandteil des schriftlich abgefassten Urteils gemacht hat (§ 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG), den Beteiligten das Recht eingeräumt, die Rechtsmittelbelehrung vom Gericht selbst zu erhalten; das hat zur Folge, dass das Maß der damit gewährleisteten Rechtssicherheit nicht erreicht ist, wenn die Rechtsmittelbelehrung nicht zu dem vom Richter unterschriebenen Urteilsteil gehört; eine solche Rechtsmittelbelehrung kann, ungeachtet ihres Inhalts, nicht als ordnungsgemäß im Sinne des § 66 Abs. 1 SGG angesehen werden (vgl. BSG. im SozR. SGG § 136 Bl. Da 1 Nr. 4).
Vorliegend ist der entscheidende Teil des sozialgerichtlichen Urteils einschließlich der Kostenentscheidung vom Kammervorsitzenden unterschrieben worden; die - inhaltlich nicht zu beanstandende - Rechtsmittelbelehrung folgt aber erst nach der Unterschrift, ohne dass in den Urteilsgründen auf sie als Bestandteil des Urteils auch nur verwiesen worden wäre. Damit ist eine formgerechte, den Vorschriften der §§ 66 Abs. 1, 136 Abs. 1 Nr. 7 SGG entsprechende Rechtsmittelbelehrung vom SG. Wiesbaden nicht erteilt worden. Die Frist zur Einlegung der Berufung begann daher nicht zu laufen (§ 66 Abs. 1 SGG); sie betrug vielmehr nach § 66 Abs. 2 SGG ein Jahr. Entgegen der Auffassung des Beklagten und der des Berufungsgerichts lief diese Frist erst am 5. Juni 1955 ab, ohne dass es darauf ankam, ob die Einlegung der Berufung durch den Beklagten erst nach Ablauf der Regelfrist von einem Monat (§ 151 Abs. 1 SGG) auf dem dargelegten Mangel des sozialgerichtlichen Urteils beruhte oder nicht (vgl. BSG. 1 S. 254 (256)). Danach aber war die vom Beklagten eingelegte Berufung gegen das Urteil des SG. Wiesbaden mit ihrem Eingang beim LSG. am 6. Juli 1954 nicht verspätet, so dass für das Berufungsgericht kein Anlass bestand, über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entscheiden.
Wie bereits dargelegt, hat der Beklagte diesen Umstand nicht für den von ihm gerügten Verfahrensmangel - Verweigerung der beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und damit Erlass eines Prozessurteils statt eines Sachurteils - angeführt. Die Rüge, das Berufungsgericht habe zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt, setzt jedoch voraus, dass der eingelegte Rechtsbehelf tatsächlich - und nicht nur irrigerweise angenommen - verspätet war. In einem solchen Falle aber kann in der Rüge, das Vordergericht habe zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert, unbedenklich auch die gleichzeitige Rüge erblickt werden, dass die eingelegte Berufung zu Unrecht als verspätet angesehen worden sei (vgl. BSG. im SozR. SGG § 162 Bl. Da 16 Nr. 66). Das muss insbesondere dann gelten, wenn sich - wie vorliegend - der Revisionsangriff seinem Sinn nach darauf richtet. Damit aber hat der Beklagte einen wesentlichen Mangel des Verfahrens schlüssig gerügt; der gerügte Mangel liegt auch vor, denn im Hinblick auf die nicht ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung des SG. Wiesbaden war die Berufungsfrist im Zeitpunkt des Eingangs der Berufungsschrift beim LSG. noch nicht abgelaufen (§ 66 Abs. 2 SGG).
Das angefochtene Urteil beruht auch auf dem dargelegten Verfahrensmangel, weil anderenfalls das LSG. anstelle des ergangenen Prozessurteils ein Sachurteil erlassen hätte. Denn eine Entscheidung beruht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG bereits dann auf einem Verfahrensmangel, wenn nur die Möglichkeit besteht, dass das Gericht bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels anders entschieden hätte (BSG. im SozR. SGG § 162 Bl. Da 7 Nr. 29). Die Revision ist deshalb auch begründet. Das angefochtene Urteil musste aufgehoben werden; in der Sache selbst konnte der Senat nicht entscheiden, da eigene Feststellungen des LSG. über die Voraussetzungen für die dem Kläger vom SG. Wiesbaden zugesprochene Rente fehlen. Die Sache musste daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen