Leitsatz (amtlich)

Die Erschießung eines Wehrmachtsangehörigen im Jahre 1942 aufgrund eines in einem ordnungsgemäßen Militärstrafverfahren erlassenen Todesurteils wegen Fahnenflucht im Felde ist nicht als offensichtliches Unrecht im Sinne des BVG § 1 Abs 2 Buchst d anzusehen.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 2 Buchst. d Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Die Revision der Klägerinnen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 18. März 1955 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerinnen zu 2) leistete seit Februar 1940 Wehrdienst. Er wurde nach einer Nachricht des Gerichts der Division an seine Einheit am 27. Juli 1942 an der Ostfront wegen Fahnenflucht rechtskräftig zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde dieser Nachricht zufolge am 10. August 1942, nach einer Mitteilung der Abwicklungsstelle der deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht in B am 18. August 1942 in S vollstreckt.

Die Klägerin zu 1) beantragte im Juni 1948 für die Klägerinnen zu 2) die Bewilligung von Waisenrente. Die Versuche der Landesversicherungsanstalt (LVA.) Schleswig-Holstein, die Gründe der Verurteilung zu ermitteln und die Kriegsgerichtsakten beizuziehen, blieben erfolglos. Die LVA. bewilligte den Klägerinnen zu 2) mit Bescheid vom 24. August 1949 Waisenrente nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27.

Die Anträge der Klägerin zu 1) vom 27. März 1951 und 5. Mai 1951 auf Gewährung von Witwen- und Waisenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wurden durch Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA.) H vom 4. September 1952 abgelehnt, weil keine Schädigung im Sinne des § 1 BVG vorliege. Der Verstorbene habe seine Beziehungen zur Wehrmacht durch die eigenmächtige Entfernung von der Truppe gelöst und hierbei den Tod erlitten. Der Widerspruch gegen diesen Bescheid wurde durch die Entscheidung des Beschwerdeausschusses des Landesversorgungsamts (LVersorgA.) Schleswig-Holstein vom 30. Juli 1953 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG.) Lübeck hat den Beklagten verurteilt, den Klägerinnen vom 1. Oktober 1950 ab Hinterbliebenenrente nach dem BVG zu zahlen (Urteil vom 13.9.1954). Zwar seien die Voraussetzungen des § 1 BVG nicht erfüllt. § 85 dieses Gesetzes verbiete aber im vorliegenden Fall eine Überprüfung der Feststellung der LVA. in dem Bescheid vom 24. August 1949, daß der Tod des Ehemanns der Klägerin zu 1) auf militärischen Dienst zurückzuführen sei.

Das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig hat durch Urteil vom 18. März 1955 das Urteil des SG. aufgehoben und die Klage abgewiesen: Der Bescheid nach der SVD Nr. 27 sei für die Entscheidung über den Versorgungsanspruch nach dem BVG nicht rechtsverbindlich. Den Klägerinnen stehe kein Anspruch nach dem BVG zu, weil bei der Hinrichtung weder allgemeine Auflösungserscheinungen mitgewirkt hätten noch die Strafmaßnahme als offensichtliches Unrecht anzusehen sei. Das Todesurteil sei von einem Kriegsgericht gefällt und in einem Bestätigungsverfahren überprüft worden. Die Todesstrafe sei bei Fahnenflucht im Kriege von jeher nicht nur in deutschen, sondern auch in den Gesetzen anderer Staaten vorgesehen gewesen. Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Die Klägerinnen rügen mit der Revision die Verletzung des § 85 BVG. Nach ihrer Ansicht war das VersorgA. bei der Entscheidung über den Versorgungsanspruch nach dem BVG an die Feststellung in dem Bescheid vom 24. August 1949, daß der Tod des Vaters der Klägerinnen zu 2) auf den militärischen Dienst zurückzuführen sei, gebunden.

Die Klägerinnen beantragen

unter Aufhebung des Urteils des LSG. Schleswig vom 18. März 1955 die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG. Lübeck vom 13. September 1954 als unbegründet zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist daher zulässig.

Die Revision ist aber nicht begründet.

Die Rüge der Revision, daß das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerinnen auf Hinterbliebenenrente nach dem BVG zu Unrecht sachlich geprüft habe, ist nicht begründet. Das LSG. ist hinsichtlich des von der Klägerin zu 1) geltend gemachten Anspruchs auf Witwenrente davon ausgegangen, daß sie bereits nach der SVD Nr. 27 Rente bezogen habe. Diese Ansicht beruht auf der unzutreffenden Beurteilung der rechtlichen Tragweite des Bescheids der LVA. Schleswig-Holstein vom 24. August 1949, an die das Revisionsgericht nicht gebunden ist (BGHZ. 3 S. 1 (15); RGZ. 136 S. 232 (234); 153 S. 85 (91); Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., § 140 III 2 a (S. 675); Stein-Jonas-Schönke-Pohle, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., Anm. III B 5 zu § 549 ZPO). In diesem Bescheid ist nur den Klägerinnen zu 2) die Waisenrente bewilligt worden. Eine Entscheidung darüber, ob der Klägerin zu 1) Witwenrente zusteht, ist nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften nicht ergangen. Somit handelt es sich, soweit das VersorgA. Heide in dem Bescheid vom 4. September 1952 die Bewilligung der Witwenrente nach dem BVG abgelehnt hat, um eine Entscheidung nach dem BVG, für die § 85 Satz 1 BVG keine Bedeutung gewinnen konnte. Für den Waisenrentenanspruch der Klägerinnen zu 2) nach dem BVG hat das Berufungsgericht eine Rechtsverbindlichkeit des Bescheids der LVA. vom 24. August 1949 nach § 85 Satz 1 BVG im Ergebnis zutreffend verneint. Nach dieser Vorschrift ist, soweit nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften über die Frage des ursächlichen Zusammenhanges einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG entschieden worden ist, die Entscheidung auch nach diesem Gesetz rechtsverbindlich. Eine solche Bindung an eine vor dem Inkrafttreten des BVG ergangene Entscheidung kommt aber nur dann in Frage, wenn die Voraussetzungen für den Anspruch nach dem BVG erfüllt sind. Denn vom Inkrafttreten des BVG an bilden die in den §§ 1 bis 5 BVG aufgezählten Tatbestände die alleinige Grundlage für die Versorgung nach diesem Gesetz; ältere Entscheidungen haben durch die im § 84 BVG erfolgte Aufhebung der alten Versorgungsgesetze ihre Rechtswirkungen verloren. Eine Ausnahme von dieser Regel ist die gesetzliche Anordnung im § 85 Satz 1 BVG, daß eine Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung für die Anwendung des BVG rechtsverbindlich ist. Sie ist als Ausnahmevorschrift nicht auf andere Anspruchsvoraussetzungen auszudehnen. Rechtsverbindlich für die Entscheidung nach dem BVG ist deshalb nur eine Entscheidung über den medizinischen Zusammenhang; dagegen ist eine nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangene Entscheidung nicht rechtsverbindlich für die Frage, ob eine Schädigung im Sinne des BVG vorliegt (vgl. BSG. 4 S. 21 (23), S. 272 (273, 274), S. 276 (281)). § 85 Satz 1 BVG stand daher einer sachlichen Prüfung des Anspruchs der Klägerinnen nach dem BVG nicht entgegen.

Das Berufungsgericht hat einen solchen Anspruch auch mit Recht verneint. Die Hinterbliebenen erhalten auf Antrag Versorgung, wenn ein Beschädigter an den Folgen einer Schädigung gestorben ist (§§ 1 Abs. 5, 38 Abs. 1 Satz 1 BVG). Eine Schädigung, die durch eine mit militärischem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme herbeigeführt ist, begründet einen Versorgungsanspruch, wenn diese Maßnahme den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist (§ 1 Abs. 2 Buchst. d BVG). Die Anerkennung des Anspruchs der Klägerinnen scheitert aber daran, daß das gegen ihren Ehemann und Vater wegen Fahnenflucht im Felde verhängte Todesurteil und die Vollstreckung dieses Urteils kein offensichtliches Unrecht gewesen sind. Ein solches offensichtliches Unrecht liegt nach Ansicht des Senats nur dann vor, wenn die verhängte Strafmaßnahme den Umständen nach unzweifelhaft eine mit rechtsstaatlichen Anschauungen in krassem Widerspruch stehende Überschreitung des rechten Strafmaßes gewesen ist. § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG soll nach seinem Sinn und Zweck insbesondere die Fälle erfassen, die in der letzten Phase des Krieges durch das Vorgehen deutscher Wehrmachts-, Partei- und Zivildienststellen oder von Einzelpersonen entstanden sind, um die Erfüllung eines Einsatzes zu erzwingen, obwohl der verlangte Dienst den Umständen nach nicht mehr erwartet werden konnte (Begründung zum Entwurf des BVG, Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Drucks. Nr. 1333 S. 46; Protokolle über die Verhandlungen des (26.) Ausschusses für Kriegsopfer und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages über das BVG, S. 123 A; Schönleiter, Bundesversorgungsgesetz, Anm. 15 zu § 1 BVG). Daraus folgt, daß nicht jede mit dem Kriegsgeschehen zusammenhängende Straf- und Zwangsmaßnahme, bei der Kriegsstrafrecht angewendet worden ist, einen Versorgungsanspruch nach § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG begründen kann. Wäre eine solche Regelung beabsichtigt gewesen, dann hätte der Gesetzgeber diese Vorschrift des Bundesversorgungsgesetzes anders gefaßt. Es ist daher in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob eine Strafmaßnahme im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Anschauungen steht. Dies ist, wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat, hier nicht der Fall. Wenn sich ein Soldat im Jahre 1942 - damals gab es in der deutschen Wehrmacht noch keine Auflösungserscheinungen - im Felde von der Truppe in der Absicht entfernte, sich der Verpflichtung zum Dienst in der Wehrmacht dauernd zu entziehen, dann mußte er damit rechnen, daß ihm wegen Fahnenflucht die Todesstrafe drohte (§§ 69 Abs. 1, 70 Abs. 2 des Militärstrafgesetzbuches in der Fassung vom 10.10.1940 - RGBl. I S. 1348 -). Wie der 8. Senat bereits in seinem Urteil vom 7. Juni 1956 (BSG. 3 S. 131 (135)) ausgeführt hat, ist jede Wehrmacht darauf angewiesen, daß die Truppenangehörigen auch bei der Truppe bleiben. Das gilt insbesondere für die Kriegszeit. Fahnenflucht im Felde war deshalb während des Krieges nicht nur nach deutschen Gesetzen mit der Todesstrafe bedroht. Die Verurteilung zum Tode wegen Fahnenflucht im Felde und die Vollstreckung des Urteils auf Grund eines ordnungsgemäßen Militärstrafverfahrens kann daher nicht als offensichtliches Unrecht im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. d BVG angesehen werden. Das angefochtene Urteil ist somit im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die Revision der Klägerinnen war daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

BSGE, 195

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