Leitsatz (redaktionell)
1. Als erwerbsunfähiger Hirnverletzter iS des BVG § 35 Abs 1 S 3 ist nur derjenige Beschädigte anzusehen, der allein wegen seiner Hirnverletzung erwerbsunfähig ist.
2. Das Berufungsgericht hat den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Pflegezulage verneint, weil sich die Verhältnisse, die bei der Erteilung des Umanerkennungsbescheides vom 1951-03-28 berücksichtigt worden sind, nicht geändert hätten. Darauf kommt es aber nicht an, weil es sich bei der erstmaligen Entscheidung über die Pflegezulage nicht um eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse iS des BVG § 62 handelt. Von einer Neufeststellung kann nur die Rede sein, wenn eine Vergleichsmöglichkeit für die fragliche Änderung vorhanden ist, dh wenn eine frühere Feststellung gleichartiger Bezüge vorausgegangen ist (vgl BSG vom 1957-12-12 10 RV 1035/55). Eine Vergleichsmöglichkeit besteht hier nicht, weil die Frage der Hilflosigkeit bei der Erteilung des Umanerkennungsbescheides weder geprüft noch entschieden worden ist. Hiernach kommt es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht darauf an, ob die Voraussetzungen des BVG § 62 vorliegen. Vielmehr ist allein von Bedeutung, ob der Kläger infolge seiner Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1950-12-20, § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 7. Oktober 1955 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Das Versorgungsamt (VersorgA.) B bewilligte dem Kläger mit Umanerkennungsbescheid vom 28. März 1951 wegen der Folgen der im ersten Weltkrieg erlittenen Verwundungen (völlige Versteifung des linken Handgelenks, teilweise Versteifung der Hand, epileptische Anfälle nach Schädelverletzung mit Hirnschädigung) die Rente eines Erwerbsunfähigen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Der Antrag des Klägers auf Gewährung von Pflegezulage vom 8. Mai 1952 wurde abgelehnt, weil eine wesentliche Änderung der Verhältnisse nicht eingetreten sei und die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 BVG nicht vorlägen (Bescheid des VersorgA. B vom 13.11.1952). Das Sozialgericht (SG.) Bremen, auf das die vom Kläger gegen diesen Bescheid eingelegte Berufung als Klage übergegangen war (§ 215 Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) hat die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids verurteilt, dem Kläger vom 1. Mai 1952 bis 31. Juli 1953 eine Pflegezulage von monatlich 50,- DM und vom 1. August 1953 ab von monatlich 60,- DM zu zahlen (Urteil vom 6.7.1954): Der Kläger habe als "erwerbsunfähiger Hirnverletzter" im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG Anspruch auf Pflegezulage.
Das Landessozialgericht (LSG.) hat auf die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 7. Oktober 1955 das Urteil des SG. aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Berufung sei nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen, weil die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung der Pflegezulage nicht wegen einer Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG erfolgt sei. Der Kläger sei kein erwerbsunfähiger Hirnverletzter im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG, weil seine Erwerbsunfähigkeit nicht allein auf der Hirnverletzung beruhe. Das LSG. hat nicht darüber entschieden, ob die Voraussetzungen für die Bewilligung der Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG vorliegen. Insbesondere hat es dahingestellt gelassen, ob - wie der Kläger behauptet - ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der bei ihm festgestellten Hirnarteriosklerose und der Kopfverletzung gegeben ist. Das LSG. ist der Auffassung, daß ein Anspruch auf Pflegezulage schon deshalb nicht bestehe, weil sich die Verhältnisse, die bei der Erteilung des Umanerkennungsbescheids berücksichtigt worden seien, nicht geändert hätten. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Der Kläger rügt mit der Revision, daß das LSG. den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt habe. In den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen werde die Ansicht vertreten, daß eine generelle Beantwortung der Frage, inwieweit cerebral-sklerotische Veränderungen durch eine Hirnverletzung verursacht oder verschlimmert werden könnten, noch nicht möglich sei. Das LSG. hätte den Anteil der Schädigungsfolgen an dem die Hilflosigkeit bedingenden Gesundheitszustand des Klägers feststellen müssen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG. Bremen vom 7. Oktober 1955 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Bremen vom 6. Juli 1954 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist daher zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Das Revisionsgericht hat zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Prozeßvoraussetzungen für das Klage- und Berufungsverfahren vorliegen (BSG. 2 S. 225 (227); 3 S. 124 (126); 4 S. 70 (72) und S. 281 (284)). Zu den Prozeßvoraussetzungen für das Berufungsverfahren gehört die Zulässigkeit der Berufung (BSG. a. a. O.). Das LSG. hat sie im Ergebnis mit Recht bejaht. Nach § 148 Nr. 3 SGG können in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse betreffen. Ein Urteil des SG. betrifft aber - wie das BSG. schon mehrfach entschieden hat - nicht eine solche Neufeststellung, wenn es über einen Anspruch auf Gewährung von Pflegezulage entscheidet und dem mit der Klage angefochtenen Bescheid ein anderer Bescheid, durch den über die Gewährung einer Pflegezulage erkennbar entschieden worden war, nicht vorausgegangen ist (vgl. Urt. des 10. Senats vom 12.12.1957 - 10 RV 1035/55 -; BSG. 3 S. 271 (274), SozR. SGG § 148 Bl. Da 5 Nr. 13). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. In dem Bescheid vom 28. März 1951 ist zu der Frage, ob der Kläger Anspruch auf Pflegezulage hat, nicht Stellung genommen worden. Deshalb ist in dem Bescheid vom 13. November 1952 die erste Feststellung über die Pflegezulage zu erblicken. Da somit das Urteil des SG. nicht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG betrifft, ist die Berufung zulässig.
Das Berufungsgericht hat zutreffend festgestellt, daß der Kläger seinen Anspruch nicht auf § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG stützen kann. Nach dieser Vorschrift erhalten erwerbsunfähige Hirnverletzte eine Pflegezulage von mindestens 50,- DM (§ 35 Abs. 1 Satz 3 in der Fassung vom 20.12.1950). Würde man diese Vorschrift allein nach ihrem Wortlaut auslegen, so hätten erwerbsunfähige Hirnverletzte ohne weitere Prüfung Anspruch auf die einfache Pflegezulage, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Hirnverletzung leicht oder schwer ist und in welchem Maße die Hirnverletzung die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. Es würden dann auch solche erwerbsunfähige hirnverletzte Beschädigte die Pflegezulage erhalten, bei denen die Folgen der Hirnverletzung nur einen geringen Teil der Erwerbsunfähigkeit bedingen, und die auch bei Beurteilung aller Gesundheitsstörungen nicht so hilflos sind, daß sie nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen können. Eine solche Auslegung entspricht nicht dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift, auf den es ankommt (vgl. Urt. des 1. Senats vom 19.6.1957; RGZ. 142 S. 36 (40); BGHZ. 2 S. 192 (195), 17 S. 266 (276) = NJW. 1955 S. 1276 (1277); BGHZ. 23 S. 184 (189) = NJW. 1957 S. 949; Urt. des BFH. vom 13.3.1952 (BStBl. 1952 III S. 120 (121); Bender, JZ. 1957 S. 593 (594 u. 598)). Das Bundesversorgungsgesetz geht bei der Regelung des Anspruchs auf Pflegezulage zunächst in § 35 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 davon aus, daß ein Beschädigter eine Pflegezulage dann erhält, wenn er infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Abs. 1 Satz 2 dieser Vorschrift bestimmt, daß Blinde in der Regel die Pflegezulage in Höhe von 100.- DM erhalten (§ 35 Abs. 1 Satz 2 BVG in der Fassung vom 20.12.1950). Bei diesem Personenkreis hat der Gesetzgeber eine erhöhte Pflegebedürftigkeit unterstellt. Im Anschluß daran schreibt § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG vor, daß erwerbsunfähige Hirnverletzte (ohne daß die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 zu prüfen sind), mindestens die einfache Pflegezulage erhalten. Bei den hirnverletzten Beschädigten kann aber das Vorliegen von Hilflosigkeit nicht ohne weiteres schon dann unterstellt werden, wenn eine leichtere Hirnverletzung vorliegt, selbst wenn der Hirnverletzte wegen weiterer Schädigungsfolgen erwerbsunfähig ist. Bei dieser Sachlage ist es nicht angängig, auch diesen Beschädigten ohne sorgfältige Prüfung, ob Hilflosigkeit vorliegt, die einfache Pflegezulage zu bewilligen. Vielmehr gebieten Sinn und Zweck des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG eine einschränkende Auslegung dahin, daß diese Sonderregelung auf solche erwerbsunfähige Hirnverletzte beschränkt wird, bei denen die Verletzung so schwer ist, daß hierdurch die Erwerbsfähigkeit völlig aufgehoben ist. Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte des § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG bestätigt. In den Versorgungsgesetzen, die vor dem Inkrafttreten des BVG galten, gab es keine Sondervorschrift für die Gewährung von Pflegezulage an Hirnverletzte. Auch in dem Regierungsentwurf des BVG (Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Drucks. Nr. 1333) war eine solche Vorschrift nicht enthalten. Der 26. Ausschuß des Deutschen Bundestages beschloß dann bei den Beratungen über den Entwurf des BVG, den Satz 3 a. a. O. in den Gesetzentwurf einzufügen, nachdem eingehend erörtert worden war, ob es gerechtfertigt sei, den "100 %-Hirnverletzten" hinsichtlich des Anspruchs auf Pflegezulage eine ähnliche Sonderstellung einzuräumen wie den Blinden (vgl. die Protokolle über die Beratungen des 26. Ausschusses S. 39, 40, 139, 140 und den Entwurf des BVG mit den Beschlüssen des 26. Ausschusses - Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, Druck. Nr. 1466 -). In der vom Ausschuß vorgeschlagenen Fassung wurde § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG schließlich ohne weitere Erörterungen im Bundestag Gesetz (Sten. Berichte S. 3454 D). Aus diesen Gründen erhalten nur die Hirnverletzten ohne weitere Prüfung mindestens die einfache Pflegezulage, die allein infolge der Hirnverletzung erwerbsunfähig sind (im Ergebnis ebenso BSG. 1 S. 56 (57, 58); Urteile des LSG. Baden-Württemberg vom 29.4.1954 - Sozialrechtliche Entscheidungssammlung (Soz. Entsch.) IX/3 § 35 BVG Nr. 7, vom 28.10.1955 - Soz. Entsch. IX/3 § 35 BVG Nr. 13 und vom 26.6.1956 - Soz. Entsch. IX/3 § 35 BVG Nr. 20; Schönleiter, Bundesversorgungsgesetz, Anm. 6 zu § 35 BVG; Thannheiser-Wende-Zech, Handbuch des Bundesversorgungsrechts, Anm. zu § 35). Nach den tatsächlichen, von der Revision nicht angegriffenen und daher das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG. (§ 163 SGG) ist die Erwerbsunfähigkeit des Klägers nicht durch seine Hirnschädigung bedingt. Er kann daher seinen Anspruch nicht auf § 35 Abs. 1 Satz 3 BVG stützen.
Das Berufungsgericht hat den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Pflegezulage verneint, weil sich die Verhältnisse, die bei der Erteilung des Umanerkennungsbescheids vom 28. März 1951 berücksichtigt worden sind, nicht geändert hätten. Darauf kommt es aber nicht an, weil es sich bei der erstmaligen Entscheidung über die Pflegezulage nicht um eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG handelt. Von einer Neufeststellung kann nur die Rede sein, wenn eine Vergleichsmöglichkeit für die fragliche Änderung vorhanden ist, d. h. wenn eine frühere Feststellung gleichartiger Bezüge vorausgegangen ist (vgl. Urt. des 10. Senats des BSG. vom 12.12.1957 - 10 RV 1035/55 -). Eine Vergleichsmöglichkeit besteht hier nicht, weil die Frage der Hilflosigkeit bei der Erteilung des Umanerkennungsbescheids weder geprüft noch entschieden worden ist. Hiernach kommt es entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht darauf an, ob die Voraussetzungen des § 62 BVG vorliegen. Vielmehr ist allein von Bedeutung, ob der Kläger infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Hierzu hat das LSG. zwar Ausführungen gemacht, diese Frage aber - weil es den Anspruch des Klägers aus anderen Erwägungen für unbegründet hielt - nicht entschieden.
Das auf der unrichtigen Anwendung der §§ 62, 35 Abs. 1 Satz 1 BVG beruhende Urteil des Berufungsgerichts ist daher aufzuheben. Gleichzeitig ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen, weil die tatsächlichen Feststellungen für eine Entscheidung durch das BSG. nicht ausreichen (§ 170 Abs. 2 SGG). Das Berufungsgericht wird nun zunächst festzustellen haben, ob der Kläger so hilflos ist, daß er nicht ohne Wartung und Pflege bestehen kann. Wird dies bejaht, wird weiter zu prüfen sein, ob die Hilflosigkeit Folge der Schädigung ist. Ob und unter welchen Voraussetzungen eine Hirnsklerose bei Hirnverletzten Schädigungsfolge ist, wird dabei nur durch Anhörung eines Arztes entschieden werden können, der über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen