Entscheidungsstichwort (Thema)
Dauerrente. Feststellung. Übergangszeit
Orientierungssatz
1. Wenn der Versicherungsträger rechtzeitig die Dauerrente im Anschluß an die vorläufige Rente feststellt, bewirkt dies zwar, daß über die bisher gewährte vorläufige Rente verfügt wird; dies ist jedoch nicht der wesentliche Inhalt des Bescheides. Dieser ist vielmehr in erster Linie auf die Feststellung der Dauerrente gerichtet (vgl BSG 1968-12-19 2 RU 153/66 = BSGE 29, 73).
2. Bei den Leistungen, welche dem Rentenempfänger nach § 623 Abs 2 RVO noch für eine Übergangszeit zu belassen sind, handelt es sich um Einzelleistungen, welche den Rechtsanspruch selbst (Stammrecht) nicht berühren (vgl BSG 1964-02-20 8 RV 225/61 = BSGE 20, 209).
Normenkette
RVO § 622 Abs. 2, § 623 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.03.1966) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 23.03.1965) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. März 1966 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger wurde am 20. Dezember 1962 von einem Arbeitsunfall betroffen. Er stürzte auf dem Heimweg von der Arbeitsstätte mit dem Motorrad und zog sich einen Schädelbasisbruch sowie Kopfplatzwunden zu. Die Beklagte gewährte ihm für die Folgen dieses Unfalls durch Bescheid vom 9. August 1963 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. Diese Rente setzte die Beklagte wegen Besserung der Unfallfolgen durch Bescheid vom 26. Februar 1964 herab und gewährte sie nur noch nach einer MdE von 20 v. H.
Während des Klageverfahrens gegen diesen Bescheid entzog die Beklagte die vorläufige Rente durch Bescheid vom 17. November 1964 mit Wirkung vom Ablauf des auf die Zustellung dieses Bescheides folgenden Monats und stellte gleichzeitig - negativ - die erste Dauerrente fest. Dieser Bescheid wurde am 17. November 1964 durch eingeschriebenen Brief zur Übersendung an den Kläger bei der Post aufgegeben.
Das Sozialgericht (SG) Oldenburg hat mehrere ärztliche Sachverständigengutachten eingeholt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 23. März 1965 hat der Kläger die Klage gegen den Bescheid vom 26. Februar 1964 zurückgenommen und beantragt, den Bescheid vom 17. November 1964 aufzuheben. Diesem Antrag ist durch Urteil des SG vom 23. März 1965 entsprochen worden. Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Es habe offen bleiben können, ob und in welchem Maße der Kläger durch Folgen des Unfalls seit dem 1. Januar 1965 noch in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei. Der Entziehungsbescheid vom 17. November 1964 sei rechtswidrig.
Er sei zwar vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall vom 20. Dezember 1962 zugestellt worden. Durch diese Zustellung habe jedoch nicht verhindert werden können, daß die bisherige vorläufige Rente gemäß § 622 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) kraft Gesetzes in die Dauerrente umgewandelt worden sei; denn der Entziehungsbescheid sei erst mit Ablauf des auf seine Zustellung folgenden Monats wirksam geworden (§ 623 Abs. 2 RVO). Daß die Zustellung des Entziehungsbescheides den für den Eintritt seiner Wirksamkeit maßgebenden Zeitpunkt bilde, lasse sich nicht aus § 622 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVO herleiten. Bei der Zweijahresfrist für den Eintritt der Dauerrente kraft Gesetzes stehe am Beginn das Unfallereignis, also kein Bescheid, der erst wirksam werde. Deshalb sei es nicht angängig, für das Ende der Frist auf die Zustellung eines Bescheides abzustellen, dessen Inhalt erst später wirksam werde. Da sonach die vorläufige Rente des Klägers automatisch in die Dauerrente umgewandelt worden sei, müsse die Rente in der bisher gewährten Höhe mindestens bis zum 21. Dezember 1965 weitergezahlt werden.
Mit der Berufung hiergegen hat die Beklagte mit eingehenden Ausführungen, die sich vor allem mit dem inzwischen ergangenen Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. September 1965 (BSG 24, 36) auseinandersetzen, geltend gemacht, der Entziehungsbescheid sei bereits mit seiner Zustellung wirksam geworden, so daß ein späterer Eintritt der Dauerrente kraft Gesetzes nicht mehr möglich sei.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 22. März 1966 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Die Auffassung der Beklagten treffe nicht zu. Das BSG habe durch Urteil vom 29. September 1965 eindeutig und überzeugend entschieden, daß ein Bescheid, durch den eine vorläufige Rente unter gleichzeitiger Festsetzung der Dauerrente entzogen werde, nach § 623 Abs. 2 RVO mit dem Ablauf des auf die Zustellung folgenden Monats wirksam werde (BSG 24, 36). Nach bisheriger Rechtsprechung wäre gemäß § 610 RVO in der bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 geltenden Fassung (aF) nicht nur der die Leistung im Sinne des § 608 RVO aF neu feststellende Bescheid mit Ablauf des auf seine Zustellung folgenden Monats wirksam, sondern auch der auf die erste Feststellung der Dauerrente gerichtete Bescheid, der nach § 1585 Abs. 2 RVO keine Änderung der bisher maßgebend gewesenen Verhältnisse erfordere. Daran habe sich durch § 623 Abs. 2 RVO nichts geändert. Das BSG habe vor allem überzeugend ausgesprochen, daß sich die Herabsetzung oder Entziehung einer Rente nach § 623 Abs. 2 RVO nicht anders als nach § 610 RVO aF nur durch einen Bescheid vollziehen lasse, der "schon von seinem als Einheit zu betrachtenden Inhalt her die Aufspaltung seiner Wirkung in die rechtliche Wirksamkeit und die wirtschaftliche Auswirkung verbietet". Der Umstand, daß sich die Schutzfrist des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO um die Zeit verkürze, die zwischen der Zustellung und dem Eintritt der Rechtsänderung liege (bis zu zwei Monaten), stehe dieser rechtlichen Folgerung nicht entgegen. Von BSG 24, 36 abzuweichen, bestehe kein Anlaß. Bei dieser Rechtslage wäre der Entziehungsbescheid vom 17. November 1964 erst am 31. Dezember 1964 wirksam geworden. In diesem Zeitpunkt sei jedoch die Frist von zwei Jahren nach dem Unfall vom 20. Dezember 1962 bereits abgelaufen gewesen und demzufolge gemäß § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO aus der vorläufigen Rente kraft Gesetzes die Dauerrente geworden, die mindestens ein Jahr weitergewährt werden müsse (§ 622 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVO).
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil des LSG ist der Beklagten am 12. Mai 1966 zugestellt worden. Die Beklagte hat gegen das Urteil am 8. Juni 1966 Revision eingelegt und diese am 13. Juli 1966 begründet.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 17. November 1964 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.
Die Auffassung des LSG, die Rente habe nicht zu dem in dem Entziehungsbescheid der Beklagten vom 17. November 1964 nach § 623 Abs. 2 RVO vorgesehenen Zeitpunkt wegfallen können, weil das Wirksamwerden dieses Bescheides durch die inzwischen eingetretene automatische Umwandlung der bisherigen vorläufigen Rente in die Dauerrente verhindert und demzufolge die Jahresschutzfrist des § 622 Abs. 2 RVO in Lauf gesetzt worden sei, stimmt zwar mit der Entscheidung des erkennenden Senats vom 29. September 1965 (BSG 24, 36) überein. Wie in dem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil des erkennenden Senats vom 19. Dezember 1968 - 2 RU 153/66 - des Näheren ausgeführt ist, wird jedoch an dieser Entscheidung nicht festgehalten. Hierzu haben im wesentlichen folgende Gründe geführt: Wenn der Versicherungsträger rechtzeitig die Dauerrente im Anschluß an die vorläufige Rente feststellt, bewirkt dies zwar, daß über die bisher gewährte vorläufige Rente verfügt wird; dies ist jedoch nicht der wesentliche Inhalt des Bescheides. Dieser ist vielmehr in erster Linie auf die - im vorliegenden Fall negative - Feststellung der Dauerrente gerichtet. Hierdurch und nicht durch die sich aus § 623 Abs. 2 RVO ergebende Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Weiterzahlung der vorläufigen Rente bis zum Ablauf des auf die Zustellung des Bescheides folgenden Monats wird die Rechtsnatur eines solchen Entziehungsbescheides bestimmt. Bei den Leistungen, welche dem Rentenempfänger nach § 623 Abs. 2 RVO noch für eine Übergangszeit zu belassen sind, handelt es sich um Einzelleistungen, welche den Rechtsanspruch selbst (Stammrecht) nicht berühren (vgl. BSG 5, 4, 6; 7, 108, 110; 20, 209, 214; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 6. Aufl., Bd. III S. 666 v und 714 mit weiteren Nachweisungen; Malkewitz in "Die Rentenversicherung" 1963, 10, 17). Dem steht nicht entgegen, daß in § 623 Abs. 2 RVO ausdrücklich das Wort "wirksam" gebraucht ist; bei einem auf Grund des § 1585 Abs. 2 RVO ergangenen Bescheid kann sich das Wirksamwerden der Herabsetzung oder Entziehung einer bisher gewährten vorläufigen Rente an sich nur auf die trotz Wegfalls des Hauptanspruchs noch für die gesetzlich vorgesehene Zeit zu erbringenden Einzelleistungen beziehen. Schließlich steht der bisherigen Betrachtungsweise entgegen, daß sie zu einer nach Sinn und Zweck des § 1585 Abs. 2 RVO nicht zu rechtfertigenden uneinheitlichen Anwendung dieser Vorschrift führen würde. Die Frage, in welchem Zeitpunkt die erste Dauerrente festgestellt ist, kann nicht unterschiedlich nach dem Inhalt des gemäß § 1585 Abs. 2 RVO ergehenden Bescheides beurteilt werden, d. h. je nachdem, ob die Dauerrente im Verhältnis zu der vorangegangenen Rente höher, gleichhoch, niedriger oder gar nicht gewährt wird.
Der Bescheid der Beklagten vom 17. November 1964 ist sonach mit seiner Zustellung, die am 20. November 1964 als erfolgt gilt, rechtswirksam geworden. Damit ist die automatische Umwandlung der vorläufigen Rente in die Dauerrente verhindert worden. Die bisher gewährte Rente hätte allerdings nur entzogen werden dürfen, wenn keine zum Bezug einer Rente berechtigenden Unfallfolgen mehr vorhanden waren. Hierzu hat das LSG - von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht - keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Dem erkennenden Senat ist somit keine abschließende Entscheidung über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Weiterzahlung der Rente möglich. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen