Entscheidungsstichwort (Thema)
Hilfsmittel. allgemeiner Gebrauchsgegenstand
Leitsatz (redaktionell)
Hilfsmittel iS des RVO § 182b (Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens):
1. Kann ein Versicherter die Körperpflege an sich selbst nicht vornehmen, weil er nicht über funktionsfähige Arme verfügt, so ist ein Gerät, das diese Funktionseinbuße ausgleichen kann, ein Hilfsmittel iS des RVO § 182b.
2. Ein Gegenstand, der seinem Wesen nach ein Hilfsmittel iS des RVO § 182b ist, verliert die Eigenschaft als Hilfsmittel nicht allein deshalb, weil er auch als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dient; insoweit das Hilfsmittel einen Gebrauchsgegenstand darstellt, ist eine wirtschaftliche Trennung vorzunehmen, die zu einem entsprechenden Eigenanteil des Versicherten führt.
3. Zur Bestimmung des zuständigen Rehabilitationsträgers bei der Gewährung von Hilfsmitteln iS von §§ 182b, 1237 Abs 1 Nr 4 RVO usw.
Orientierungssatz
Ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand (hier: Schrägbodenteller, Schwammlanze, Tamponapplikator, Waschlanze, Anziehstab) wird nicht dadurch zu einem Hilfsmittel iS der KV, daß er behindertengerecht gestaltet ist.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c Fassung: 1974-08-07, § 182b S. 1 Fassung: 1974-08-07, § 1237 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1974-08-07
Verfahrensgang
SG Münster (Entscheidung vom 22.11.1977; Aktenzeichen S 14 Kr 168/76) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22. November 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Tatbestand
Der klagende Sozialhilfeträger begehrt von der beklagten Krankenkasse Ersatz der Kosten, die ihm bei der Beschaffung verschiedener Hilfsmittel für die Tochter der bei der Beklagten versicherten Beigeladenen entstanden sind.
Die 1962 geborene Tochter Anneliese der Beigeladenen ist körperlich schwer behindert; der linke Arm fehlt, der rechte Arm ist verstümmelt. Um eine gewisse Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Mädchens zu erreichen, verordnete Dr. G Orthopädische Universitätsklinik M, im Februar 1976 einen Schrägbodenteller, eine Schwammlanze, einen Tampon-Applikator, eine Waschlanze und einen Anziehstab. Die Kosten dieser Gegenstände übernahm der Kläger, nachdem zuvor die Beklagte ihre Leistungsverpflichtung verneint hatte.
Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) hat die Beklagte antragsgemäß zum Ersatz der zuletzt in Höhe von 1.012,70 DM (bei Klageerhebung in Höhe von 705,70 DM) geltend gemachten Aufwendungen verurteilt. Bei den auf Kosten des Klägers angeschafften Gegenständen handele es sich um Hilfsmittel iSd § 182b Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie seien notwendig, um das Fehlen des linken Armes und die Verkümmerung des rechten Armes auszugleichen. Dem Kläger stehe als vorläufigem Kostenträger ein Ersatzanspruch nach § 1531 RVO zu, denn die Beklagte sei gegenüber der Beigeladenen leistungspflichtig gewesen.
Die Beklagte hat hiergegen die zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 182b RVO. Die Gegenstände, für die Kostenersatz begehrt werde, seien keine Hilfsmittel iSd genannten gesetzlichen Bestimmung. Dazu zählten nur solche, die bei der Behinderung selbst, also im Bereich ausgefallener oder gestörter Körperfunktionen helfend einsetzten, nicht dagegen jene, die Folgeerscheinungen von Behinderungen - vor allem im beruflichen, gesellschaftlichen oder privaten Bereich - auszugleichen oder zu mildern bezweckten. Zu letzteren gehörten die hier angeschafften Gegenstände, die außerhalb des Leistungsspektrums der Krankenversicherungsträger lägen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Münster vom 22. November 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des SG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen ist. Die bisherigen Tatsachenfeststellungen reichen zu einer Entscheidung in der Sache nicht aus. Dem Kläger steht gegenüber der Beklagten ein Anspruch auf Kostenersatz zu, wenn und soweit die für die Tochter der Beigeladenen angeschafften Gegenstände Hilfsmittel iSd § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c iVm § 182b RVO sind. Die sonstigen Voraussetzungen des Ersatzanspruches des Klägers nach §§ 1531 bis 1533 RVO und des diesem zugrunde liegenden Anspruchs der Beigeladenen auf Familienkrankenhilfe für ihre behinderte Tochter Anneliese nach § 205 RVO sind nicht fraglich.
Die Familienkrankenhilfe umfaßt grundsätzlich alle für die Versicherten selbst vorgesehenen Leistungen der Krankenhilfe, also auch die Gewährung von Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln (§ 205 Abs 1 Satz 1 Halbs 1 iVm § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c RVO). Unter welchen Voraussetzungen dieser spezielle Anspruch besteht, ist in der durch § 21 Nr 7 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7.8.1974 (BGBl I, 1881) mit Wirkung vom 1. Oktober 1974 an (§ 45 Abs 1 RehaAnglG) eingefügten und hier anzuwendenden Bestimmung des § 182b RVO geregelt. Danach hat der Versicherte Anspruch auf Ausstattung mit solchen Körperersatzstücken sowie orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder eine körperliche Behinderung auszugleichen.
Aus dieser Zweckbestimmung und aus der Aufgabenverteilung im gesamten Sozialleistungsbereich auf mehrere Leistungsträger ergeben sich Umfang und Begrenzung der Leistungsverpflichtung der Krankenkasse. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil vom selben Tage in der Sache 3 RK 26/78 mit weiteren Nachweisen) ist die Krankenkasse als Trägerin der Krankenhilfe und einer ausschließlich medizinischen Rehabilitation - im Gegensatz zu anderen Sozialleistungsträgern mit final umfassenderer Zuständigkeit (z.B. die Rentenversicherungsanstalten, die Berufsgenossenschaften, die Versorgungsverwaltung und die Sozialhilfeträger) - nur zur Gewährung von solchen Hilfsmitteln verpflichtet, die den Ausgleich der körperlichen Behinderung selbst bezwecken, also unmittelbar gegen die Behinderung gerichtet sind. Das klassische Hilfsmittel in diesem Sinne ist dasjenige, das die natürlichen Funktionen eines nicht oder nicht voll funktionsfähigen Körperorgans ersetzt oder ergänzt (z.B. Prothese, Hörgerät). Kein Anspruch gegen die Krankenkasse besteht daher bei Notwendigkeit eines Hilfsmittels, das nicht bei der Behinderung selbst, sondern bei deren Folgen und Auswirkungen in den verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere auf beruflichem, gesellschaftlichem oder privatem Gebiet ansetzt.
Der Senat hat in seinem Urteil vom 13. Februar 1975 - 3 RK 35/74 - (SozR 2200 § 187 RVO Nr 3) einen Bad-Helfer (Gerät, das es ermöglicht, vom Rollstuhl aus in die Badewanne zu gelangen) als Hilfsmittel iSd § 187 Nr 3 RVO in der bis 1. Oktober 1974 geltenden Fassung anerkannt, weil dieses Gerät der vom Gesetz vorgeschriebenen Zweckbestimmung diene: Es gehöre zu den elementaren Bestandteilen der Körperpflege eines Versicherten, das in der Wohnung zur Verfügung stehende Wannenbad benutzen zu können. Die dadurch ermöglichte gründliche körperliche Reinigung sei nicht nur ein Grunderfordernis der Hygiene, wie es sich vom Leitbild des gesunden Menschen aus darstelle, sie diene auch der Erhaltung und Verbesserung der Arbeitsfähigkeit. Wenn auch § 182b RVO, der § 187 Nr 3 RVO aF ersetzt hat, nicht mehr ausdrücklich auf die Erhaltung und Verbesserung der Arbeitsfähigkeit abstellt, so enthält das zum alten Rechtszustand ergangene Urteil vom 13. Februar 1975 den auch für die jetzt geltende gesetzliche Regelung bedeutsamen Gesichtspunkt, daß der für die Arbeitsfähigkeit maßgebende Gesundheitszustand von der Befriedigung lebensnotwendiger Grundbedürfnisse, wie der Körperpflege, abhängig ist. Bei einer körperlichen Behinderung in diesem Bereich handelt es sich in der Regel nicht um Folgen oder Auswirkungen einer Behinderung auf beruflichem, gesellschaftlichem oder privatem Gebiet, sondern um eine den gesundheitlich-medizinischen Bereich unmittelbar zuzuordnende Behinderung. Kann eine Person, wie im vorliegenden Fall die Tochter der Beigeladenen, die Körperpflege an sich selbst nicht vornehmen, weil sie nicht über funktionsfähige Arme verfügt, so ist ein Gerät, das diese Funktionseinbuße ausgleichen kann, ein Hilfsmittel iSd § 182b RVO; denn es ersetzt natürliche Körperfunktionen und dient medizinischen Zwecken, nämlich der Hygiene, also der Gesunderhaltung.
Aus Vorstehendem ergibt sich aber auch, daß die Verpflichtung der Krankenkasse zur Bereitstellung eines Hilfsmittels begrenzt ist. Sie hat grundsätzlich nur Leistungen im Rahmen der Krankenhilfe und der medizinischen Rehabilitation zu erbringen. Sie ist nicht zuständig für Maßnahmen der sozialen und beruflichen Eingliederung. Außerdem steht einem Berechtigten ein Anspruch auf Krankenpflege nur insoweit zu, als diese notwendig ist (§ 182 Abs 2 RVO). Folglich ist der Zuständigkeitsbereich der Krankenversicherung von dem Bereich der Eigenverantwortung sowie dem Bereich der Leistungsträger abzugrenzen, die für den Ausgleich von Nachteilen auf beruflichem und gesellschaftlichem Gebiet zuständig sind (BSG vom 28. Sept. 1976 - 3 RK 9/76 - BSGE 42, 229). Eine Abgrenzung zu dem der Eigenverantwortung des Versicherten bzw. der Sozialhilfe zuzurechnenden Bereich hat der Senat bei der Krankenpflege darin gesehen, daß nur die medizinischen Mittel der gezielten Krankheitsbekämpfung geschuldet werden (Urteil vom 18. Mai 1976 - 3 RK 53/74 - BSGE 42, 16). Mehraufwendungen, die der Versicherte im Bereich des täglichen Lebens wegen der Krankheit hat, mögen sie noch so notwendig sein, sind von der Kasse nicht zu tragen. In dem Umfang, in dem ein Hilfsmittel zugleich anderen Zwecken dient, etwa ein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ist, besteht keine Leistungspflicht der Kasse (Urteile vom 10. November 1977 - 3 RK 7/77 - SozR 2200 § 182 b RVO Nr 4 und vom 21. März 1978 - 3 RK 61/77 - KVRS 2240/25).
Im vorliegenden Falle kann die Frage, ob alle Gegenstände, für die der Kläger Kostenersatz geltend macht, Hilfsmittel iSd § 182b RVO sind, aufgrund der bisherigen Tatsachenfeststellungen des SG nicht hinreichend sicher beantwortet werden. Zweifel bestehen insbesondere hinsichtlich des Schrägbodentellers, einer Eßhilfe für Bewegungsbehinderte. Hierbei handelt es sich um einen Porzellanteller mit schräg verlaufendem Innenboden. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß der Schrägbodenteller nur als besondere Ausführung eines allgemeinen Gebrauchsgegenstandes anzusehen ist. Ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand wird nicht dadurch zu einem Hilfsmittel im krankenversicherungsrechtlichen Sinne, daß er behindertengerecht gestaltet ist. Anders verhält es sich, wenn der Gegenstand seinem Wesen nach ein Hilfsmittel ist, also die Aufgabe hat, natürliche Körperfunktionen zu ersetzen. Dieser Gegenstand verliert die Eigenschaft als Hilfsmittel nicht allein deshalb, weil er auch als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dient. In einem solchen Falle ist aber die Leistungsverpflichtung der Krankenkasse abzugrenzen von dem Bereich, der der Eigenverantwortung des Versicherten oder der Sozialhilfe zuzurechnen ist. Die fehlende reale Trennbarkeit ist kein Hindernis, Hilfsmittel und Gebrauchsgegenstand wirtschaftlich zu unterscheiden und bei einer Verpflichtung der Krankenkasse zur Gewährung des Hilfsmittels den Versicherten mit einem Eigenanteil zu belasten (vgl BSG 42, 229).
Eine Entscheidung in der Sache wäre dem Senat auch dann nicht möglich, wenn außer dem Schrägbodenteller alle anderen Hilfsmittel in vollem Umfange als solche iSd § 182 RVO anzuerkennen wären. Dem angefochtenen Urteil kann nicht entnommen werden, wie sich der vom SG festgestellte Gesamtkostenbetrag in Höhe von 1.012,70 DM zusammensetzt. Dies ergibt sich auch nicht aus den Unterlagen des Klageverfahrens. In der Klageschrift werden zwar die Kosten für die einzelnen Gegenstände getrennt aufgeführt, insgesamt belaufen sich diese Kosten aber nur auf 705,70 DM. Dieser Gesamtkostenbetrag stimmt mit der vom Kläger zuletzt erhobenen und vom SG anerkannten Ersatzforderung nicht überein. Es bedarf daher auch insoweit einer Ergänzung der Tatsachenfeststellungen.
Aus diesen Gründen war die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.
Fundstellen