Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 20.02.1990) |
SG Berlin (Urteil vom 18.04.1989) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. Februar 1990 insoweit aufgehoben, als ihre Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. April 1989 als unzulässig verworfen worden ist.
Der Rechtsstreit wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist nur noch der Beginn einer höheren Rente nach einer vorzunehmenden Beitragsnachentrichtung, vorrangig jedoch die Zulässigkeit der Berufung.
Die Klägerin bezieht von der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) Witwenrente. Im September 1980 beantragte sie bei der Beklagten die Zulassung zur Nachentrichtung aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes gemäß Art 12 der Durchführungsvereinbarung zum deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommen (DV/DISVA) in Verbindung mit Art 2 § 49a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG). Die Beteiligten stritten in der Folgezeit ua über Voraussetzung und Wirkung einer von der Klägerin vorgenommenen Konkretisierung der Beitragsnachentrichtung.
Die Klägerin hat am 28. September 1988 Untätigkeitsklage vor dem SG Berlin mit dem Ziel erhoben, die Beklagte zur Erteilung eines Bescheides über die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung zu verurteilen. Die Beklagte hat während des Verfahrens den Zulassungsbescheid vom 30. November 1988 erteilt und am 30. März 1989 einen Zusicherungsbescheid erlassen, mit dem sie eine höhere Rente unter Berücksichtigung der Nachentrichtung zum 1. April 1987 bei fristgemäßer Zahlung des Nachentrichtungsbeitrages zugesichert hat.
Während des sozialgerichtlichen Verfahrens hat die Klägerin am 20. Februar 1989 bei der 2. Kammer des SG Berlin, bei der auch die Hauptsache anhängig war, den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt, mit der sie die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung einer höheren Rente ab 1. Oktober 1980 begehrte. Ihr Bevollmächtigter hat zugleich darauf hingewiesen, daß er ab 31. März 1989 für längere Wochen im Ausland sein werde und deshalb im April und Mai 1989 keine Verhandlungstermine wahrnehmen könne. Eine gleichlautende Mitteilung hat das im Anordnungsverfahren ergangene Schreiben des Bevollmächtigten vom 1. März 1989 enthalten. Das SG hat dem Bevollmächtigten am 7. März 1989 schriftlich mitgeteilt, ein Termin in der Hauptsache könne frühestens am 18. April 1989 anberaumt werden. Der Bevollmächtigte der Klägerin hat sodann am 14. März 1989 unter Bezugnahme auf sein Schreiben vom 1. März 1989 darauf hingewiesen, daß er einen Termin am 18. April 1989 wegen des Auslandsaufenthaltes nicht wahrnehmen könne.
Im Hauptsacheverfahren, in dem die Klägerin im Hinblick auf den Ablauf der Einzahlungsfrist zur Beitragsnachentrichtung die Anberaumung eines Verhandlungstermins bis Ende Februar 1989 beantragt hatte, hat das SG den Bevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 28. März 1989, abgesandt am selben Tag, zur Vorlage einer Vollmacht aufgefordert. Laut Aktenvermerk der Kammervorsitzenden vom 31. März 1989 hat der Bevollmächtigte der Klägerin an diesem Tage vormittags telefonisch die sofortige Zusendung der Vollmacht zugesagt und gleichzeitig mitgeteilt, daß er am selben Tage abreisen werde. Die Kammervorsitzende hat dem Bevollmächtigten einen Verhandlungstermin am 18. April 1989 angekündigt und mit Verfügung vom 31. März 1989 in der Hauptsache einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 18. April 1989 anberaumt. Am 1. April 1989 ist ein Schreiben des klägerischen Bevollmächtigten vom 31. März 1989 eingegangen, in dem er unter Vorlage der Vollmacht beantragt hat, im Hinblick auf seine Auslandsreise in der Zeit bis einschließlich 26. Mai 1989 keinen Verhandlungstermin anzuberaumen. Die Terminsladung zum 18. April 1989, die vom SG am 3. April 1989 zur Post gegeben worden ist, wurde dem Bevollmächtigten der Klägerin am 5. April 1989 mit Postzustellungsurkunde durch Niederlegung zugestellt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 18. April 1989, in dem für die Klägerin niemand erschienen war, hat das SG die Klage abgewiesen. Durch Beschluß vom 19. April 1989 hat das SG den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen, da für diese nach der Entscheidung in der Hauptsache kein Raum mehr sei.
Die Klägerin hat gegen das Urteil des SG Berufung eingelegt und geltend gemacht, die Berufung sei auch zulässig, als um den Beginn der höheren Rente gestritten werde. Das sozialgerichtliche Urteil beruhe insoweit auf wesentlichen Verfahrensmängeln. Zunächst sei die 14-tägige Ladungsfrist des § 110 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht eingehalten worden. Des weiteren sei die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils nicht zutreffend. Einerseits sei die Berufung, soweit sie den Rentenbeginn betreffe, als nicht zulässig angesehen worden. Andererseits könne das Urteil nach der Rechtsmittelbelehrung insgesamt mit der Berufung angefochten werden. Insbesondere liege aber ein Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Durch die Anberaumung eines Verhandlungstermins während der Abwesenheit ihres Bevollmächtigten sei diesem eine Terminswahrnehmung unmöglich gemacht worden. Damit sei ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden. In der Sache wandte sie sich ua dagegen, daß in der Zusicherung des Bescheides vom 30. März 1989 der Beginn einer höheren Rente nach Beitragsnachentrichtung erst auf den 1. April 1987 festgesetzt worden ist.
Durch Urteil vom 20. Februar 1990 hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 18. April 1989 hinsichtlich des Beginns einer höheren Hinterbliebenenrente als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Berufung sei gemäß § 146 SGG unzulässig, soweit sie den Streit um den Zeitpunkt betreffe, von dem ab höhere Rente zu zahlen sei. Auch hierbei handele es sich um einen Streit über den Beginn der Rente. Die Zulässigkeit der Berufung, die vom SG nicht zugelassen worden sei, ergebe sich auch nicht aus § 150 Nr 2 SGG. Danach erwiesen sich weder die Nichteinhaltung der Ladungsfrist des § 110 SGG noch die Beifügung einer unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung als Verfahrensfehler iS der genannten Vorschrift. Auch die von der Klägerin gerügte Verletzung des rechtlichen Gehörs liege nicht vor. Es hätten keine erheblichen Gründe iS des § 227 Abs 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 202 SGG vorgelegen, die eine Vertagung bzw eine Nichtanberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung erforderlich gemacht hätten. Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin wäre bei einer zweimonatigen Ortsabwesenheit verpflichtet gewesen, für seine Vertretung zu sorgen. Er hätte im übrigen während des bisherigen Verfahrens alle bedeutsamen Gesichtspunkte vortragen können. Der Bescheid vom 30. März 1989 enthalte nur eine Begünstigung, benachteilige also die Klägerin nicht. Diese habe schließlich nicht vorgetragen, welche zusätzlichen, für die Entscheidung wesentlichen und vom SG nicht berücksichtigten Gesichtspunkte von ihr in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht worden wären, so daß nicht erkennbar sei, daß das Urteil des SG auf der Nichtvertretung der Klägerin beruhe.
Die Klägerin hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und vorgetragen, der von ihr gerügte Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens, nämlich die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung zu dem Zeitpunkt, zu dem ihr Bevollmächtigter – wie dem SG bekannt – ortsabwesend gewesen sei, liege vor. Das Berufungsgericht hätte daher kein Prozeßurteil erlassen, sondern in der Sache entscheiden müssen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. Februar 1990 insoweit aufzuheben, als ihre Klage als unzulässig abgewiesen worden ist, und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen,
hilfsweise,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, in der Sache könne die Klägerin unter Berücksichtigung der Gesamtumstände keinen Erfolg haben. Sie habe ihren Antrag auf Nachentrichtung gemäß § 12 DV/DISVA vom 28. September 1980 nicht mit der erforderlichen Konsequenz verfolgt und erstmals am 9. November 1988 eindeutig eine Bereiterklärung des Inhalts abgegeben, Beiträge für die Zeit von Januar 1956 bis Juni 1969 nachzuentrichten. Dieser Zeitpunkt sei demzufolge entscheidend für den Rentenbeginn sowie für den maßgebenden Beitragssatz. Alle früheren Rechtspositionen der Klägerin seien durch ihr eigenes Verhalten verwirkt worden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin, die sich nur noch insoweit gegen das Urteil des LSG wendet, als ihre Berufung gegen das Urteil des SG als unzulässig verworfen worden ist, führt in diesem Umfang zur Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Das Berufungsgericht hat nämlich, wie die Klägerin zu Recht rügt, verfahrensfehlerhaft dadurch entschieden, daß es statt eines Sachurteils ein Prozeßurteil erlassen hat (BSGE 1, 282, 286 f; 20, 199, 201 = SozR Nr 11 zu § 79 SGG). Das LSG ist zwar im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, daß der von der Klägerin aus einer – angeblichen – Zusicherung hergeleitete Anspruch auf einen früheren Beginn einer höheren Rente ebenfalls den Streit um den Beginn einer Rente (§ 146 SGG) betrifft. Dem steht weder entgegen, daß nicht der Beginn einer Rente überhaupt, sondern lediglich der Beginn einer höheren Rente im Streit steht, noch daß es sich – nur – um die Zusicherung einer höheren Rente handelt. Da auch insoweit um den Beginn der Rente gestritten wird, erfaßt § 146 SGG auch das Minus – die Zusicherung – im Verhältnis zum Streit über den Beginn einer Rente, der ausdrücklich unter § 146 SGG fällt.
Ungeachtet der Vorschrift des § 146 SGG war das Rechtsmittel der Klägerin aber nach § 150 Nr 2 SGG zulässig, da diese im Berufungsverfahren mit der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫, § 62 SGG) einen Verfahrensmangel des erstinstanzlichen Verfahrens gerügt hat, der auch tatsächlich vorliegt.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör iS der aufgezeigten Vorschriften gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 1 SGG), muß den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzulegen (vgl BSG – Beschluß vom 28. August 1991 – 7 BAr 50/91 – zur Veröffentlichung vorgesehen; Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ Buchholz 310, § 108 VwGO Nr 140). Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel dadurch genügt, daß das Gericht mündliche Verhandlung anberaumt (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG), der Beteiligte bzw sein Prozeßbevollmächtigter ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird. Es ist Sache jedes Beteiligten, von der – ordnungsgemäßen – Ladung Kenntnis zu nehmen und sich so einzurichten, daß er zu dem Termin erscheinen kann. Ein Termin zur mündlichen Verhandlung kann – und gegebenfalls muß – jedoch gemäß § 202 SGG iVm dem entsprechend anwendbaren § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO bei Vorliegen erheblicher Gründe aufgehoben werden. Entsprechend ist im Vorfeld der mündlichen Verhandlung, nämlich bei der Terminsanberaumung, zu verfahren. Einer Terminsbestimmung, die es – für das Gericht erkennbar – einem Beteiligten des Verfahrens von vornherein unmöglich macht, den Termin zur mündlichen Verhandlung wahrzunehmen, stehen „erhebliche Gründe” entgegen. Eine derartige Terminsbestimmung verhindert die Wahrnehmung des grundrechtlich verbrieften Anspruchs auf rechtliches Gehör. Ein solcher Fall liegt hier vor.
Der Bevollmächtigte der Klägerin, die im Ausland (Israel) lebt, hatte der Vorsitzenden der 2. Kammer, bei der auch das Hauptverfahren anhängig war, im Verfahren der einstweiligen Anordnung erstmals mit Schriftsatz vom 18. Februar 1989 und danach wiederholt mitgeteilt, daß er ab 31. März 1989 für ca zwei Monate im Ausland weilen werde und gebeten, in diesem Zeitraum keine Termine anzuberaumen. Er hat entsprechende Erklärungen auch im Hauptsacheverfahren abgegeben. Da ein anderweitiger Hinweis des SG nicht erfolgt ist, konnte er bis zum 31. März 1989 davon ausgehen, daß in dem von ihm angegebenen Zeitraum ein Termin zur mündlichen Verhandlung nicht angesetzt würde. Die Terminsladung auf den 18. April 1989 ist von der Kammervorsitzenden in Kenntnis dieser Umstände erst am 31. März 1989 und damit zu einem Zeitpunkt verfügt worden, indem sie damit rechnen mußte, daß der Bevollmächtigte der Klägerin diesen Termin weder selbst wahrnehmen noch Gelegenheit haben konnte, einen Vertreter mit der Terminswahrnehmung zu beauftragen. Die Terminsbestimmung durch die Kammervorsitzende auf ein Datum, von dem ihr bekannt war, daß der Bevollmächtigte der Klägerin nicht ortsanwesend war, und zu einem Zeitpunkt, zu dem sie davon ausgehen mußte, daß die Terminsladung in seiner Abwesenheit zugestellt werden würde, verstößt gegen die Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs im gerichtlichen Verfahren (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) und stellt sich damit als wesentlicher Mangel des Verfahrens dar.
Die angefochtene Entscheidung kann auch darauf beruhen. Es genügt insofern, daß die Möglichkeit einer anderen Entscheidung besteht, wenn das rechtliche Gehör nicht verletzt worden wäre. Das ist hier schon deshalb der Fall, weil die Klägerin keine Möglichkeit hatte, sich zum Zusicherungsbescheid der Beklagten vom 30. März 1989, der sie hinsichtlich der Verweigerung eines weiter zurückliegenden Rentenbeginns belastet, zu äußern.
Nach allem hat das LSG die Berufung der Klägerin, soweit sie den Beginn einer höheren Rente betraf, zu Unrecht als unzulässig verworfen. Das Urteil des LSG war daher insoweit aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen, da eine Entscheidung in der Sache untunlich war (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird in seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen