Orientierungssatz
Zur Frage der Zulässigkeit der Berufung bei Streitigkeiten hinsichtlich der Rentenhöhe für abgelaufene Zeiträume.
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1958-06-25, § 150 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30, Nr. 2 Fassung: 1974-07-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. September 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Altersruhegeldes für die Zeit vom 1. März 1972 bis zum 31. Januar 1974.
Der am 24. September 1901 geborene Kläger, der als Verfolgter des Nationalsozialismus nach Argentinien ausgewandert ist, bezieht von der Beklagten seit dem 1. September 1966 das Altersruhegeld. Mit dem am 22. Februar 1972 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben vom 19. Februar 1972 beantragte er, die Nachentrichtung von Beiträgen nach dem Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I, 1846) zuzulassen und eine Vergleichsberechnung durchzuführen. Die Beklagte bestätigte die Berechtigung zur Nachentrichtung von Beiträgen und erhöhte mit Bescheid vom 13. April 1972 das Altersruhegeld für die Zeit vom 1. Februar 1971 an aufgrund der durchgeführten Vergleichsberechnung. Wegen der Nachentrichtung von Beiträgen wandte sich der Kläger an die Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz, die ihm am 4. Juli 1974 mitteilte, sie habe ihm in seinen Versicherungsunterlagen aufgrund seiner Beitragszahlung vom 21. Januar 1974 (fristgemäß zum Antrag vom 22. Februar 1972) freiwillige Beiträge für das Jahr 1950 angerechnet. Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 26. August 1974 das Altersruhegeld unter Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge für die Zeit vom 1. Februar 1974 an neu fest.
Der Kläger hat mit der dagegen erhobenen Klage geltend gemacht, ihm stehe die höhere Rente auch für die Zeit vom 1. März 1972 bis zum 31. Januar 1974 zu. Die Beitragsnachentrichtung habe gemäß § 1420 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als im Februar 1972 erfolgt zu gelten. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 13. März 1975 abgewiesen, weil nach Art. 4 § 2 Abs. 2 WGSVG die höhere Rente frühestens vom ersten Tag des Monats an zu zahlen sei, der auf die tatsächliche Beitragsnachentrichtung folge.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG nicht zugelassene - Berufung des Klägers mit Urteil vom 8. September 1975 als unzulässig verworfen. Es hat angenommen, die Berufung sei nach § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen und auch nicht nach § 150 SGG ausnahmsweise statthaft. Die Nichtzulassung der Berufung durch das SG könne vom Berufungsgericht nicht nachgeprüft werden. Das Unterlassen der Zulassung sei auch kein Verfahrensmangel, der nach § 150 Nr. 2 SGG zur Statthaftigkeit der Berufung führen könne. Soweit der Kläger die Nichtbeachtung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) rüge, habe er keinen Verfahrensmangel, sondern einen Inhaltsmangel des angefochtenen Urteils geltend gemacht. Auch die Rüge des Klägers, das SG habe es zu Unrecht unterlassen, die LVA R beizuladen, sei nicht geeignet, die Berufung nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft zu machen. Die Voraussetzungen des § 75 Abs. 1 und 2 SGG für eine Beiladung der LVA Rheinprovinz seien nicht erfüllt. Weder würden durch die Entscheidung des SG die berechtigten Interessen der LVA R berührt noch könne ihr gegenüber mangels einer Beteiligung an dem hier streitigen Rechtsverhältnis nur eine einheitliche Entscheidung ergehen. Schließlich komme sie auch nicht anstelle der Beklagten als leistungspflichtig in Betracht, denn leistungspflichtig sei nach den §§ 1630, 1614 und 1572 Abs. 4 RVO allein die Beklagte.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, das LSG hätte kein Prozeßurteil erlassen dürfen, sondern hätte in der Sache selbst entscheiden müssen. Das SG sei von der Rechtsprechung des BSG abgewichen (SozR 5070 Nr. 1 zu § 8 WGSVG und BSG 33, 41, 46). Das SG habe deshalb nach § 150 Nr. 1 SGG die Berufung zulassen müssen. Bei der gebotenen Sachentscheidung hätte das LSG zu dem Ergebnis kommen müssen, daß die Beitragsnachentrichtung fristgemäß zum Antrag vom 22. Februar 1972 erfolgt sei, so daß sie als zu diesem Zeitpunkt bewirkt gelte. Das höhere Altersruhegeld müsse dementsprechend am 1. März 1972 beginnen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach den in der Berufungsinstanz gestellten Anträgen zu erkennen.
In der Berufungsinstanz hat der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 13. März 1975 aufzuheben, den Bescheid vom 26. August 1974 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm das höhere Altersruhegeld vom 1. März 1972 an zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen;
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
II
Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg.
Das LSG hat die Berufung des Klägers mit Recht als unzulässig verworfen; es mußte von einer Entscheidung in der Sache selbst absehen.
Die Berufung des Klägers betrifft lediglich die Höhe des Altersruhegeldes für die Zeit vom 1. März 1972 bis zum 31. Januar 1974 und damit Rente für abgelaufene Zeiträume im Sinne des § 146 SGG. Die Anwendung dieser Vorschrift ist nicht auf solche Fälle beschränkt, in denen das erstinstanzliche Urteil mit der Berufung wegen der Frage angefochten wird, ob dem Versicherten überhaupt eine Rente für abgelaufene Zeiträume zusteht. Sowohl nach dem Sinn als auch nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist die Berufung auch dann ausgeschlossen, wenn das erstinstanzliche Urteil mit der Berufung hinsichtlich der Rentenhöhe für abgelaufene Zeiträume angegriffen wird. Sie könnte also nur unter den Voraussetzungen des § 150 SGG ausnahmsweise statthaft sein. Die Voraussetzungen des § 150 SGG liegen jedoch nicht vor.
Da das SG die Berufung nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist das Rechtsmittel nicht nach dieser Vorschrift statthaft. Es mag dahingestellt bleiben, ob einer der Zulassungsgründe des § 150 Nr. 1 SGG vorliegt, ob also das SG die Berufung hätte zulassen müssen. Selbst wenn das SG die Berufung zu Unrecht nicht zugelassen hätte, kann das Berufungsgericht die Nichtzulassung nicht nachprüfen und durch eine eigene Zulassungsentscheidung ersetzen (vgl. BSG in SozR Nrn. 8, 12, 17, 19, 29 zu § 150 SGG). Daran hat sich auch seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) am 1. Januar 1975 nichts geändert. Zwar ist durch den mit diesem Gesetz eingefügten § 160 a SGG die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das LSG eingeführt worden, bewußt jedoch nicht die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung durch das SG.
Die Berufung ist auch nicht nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft. Die Nichtzulassung der Berufung ist insbesondere kein Verfahrensmangel (vgl. BSG in SozR Nrn. 38 und 40 zu § 150 SGG).
Die mit der Berufung vorgebrachte Rüge des Klägers, das SG hätte die Rechtsprechung des BSG beachten müssen, enthält nicht die Rüge eines Verfahrensmangels, sondern einen Angriff gegen den materiellen Inhalt des Urteils, der die Berufung des Klägers nicht nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft machen kann.
Auch die unterlassene Beiladung der LVA R ist kein wesentlicher Verfahrensmangel, der über § 150 Nr. 2 SGG zur Statthaftigkeit der Berufung führen könnte. Das LSG hat zutreffend dargelegt, daß die Voraussetzungen des § 75 Abs. 2 SGG für eine notwendige Beiladung nicht vorliegen. Insbesondere kam und kommt die LVA R nicht als leistungspflichtig in Betracht. Es wird auch vom Kläger nicht geltend gemacht, daß die LVA R leistungspflichtig sei. Die LVA R ist nicht generell für die Feststellung und Zahlung von Auslandsrenten zuständig (so RVO-Gesamtkommentar Anm. 3 zu § 1630; Pickel "Das Verwaltungsverfahren" 2. Aufl., Stand: Juni 1975, Anm. 3 zu § 1630 RVO). Nach § 1630 Abs. 2 Satz 2 RVO wäre die LVA Rheinprovinz nur dann zuständig, wenn nicht eine andere LVA nach Satz 1 aaO zuständig wäre (vgl. Jantz-Zweng-Eicher, "Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht" 2. Aufl., S. 177, 178). Da der im Ausland wohnende Kläger zuletzt im Bezirk der Beklagten gewohnt hat und beschäftigt gewesen war, ist nach § 1630 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 1614 und § 1572 Abs. 4 RVO allein die Beklagte für die Feststellung und Zahlung der Leistung zuständig. Daran ändert nichts, daß die LVA R die nachentrichteten freiwilligen Beiträge entgegengenommen und anerkannt hat. Die Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis (Höhe des Altersruhegeldes) muß auch nicht notwendig im Verhältnis zu den beiden Versicherungsträgern einheitlich ergehen, denn die LVA R ist an dem streitigen Rechtsverhältnis nicht beteiligt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen des § 75 Abs. 1 SGG für eine Beiladung der LVA R vorliegen. Diese Vorschrift ermöglicht lediglich die Beiladung des Versicherungsträgers, dessen berechtigte Interessen durch die Entscheidung berührt werden, sie ist also nicht zwingend vorgeschrieben, sondern steht im Ermessen des Gerichts. Macht das Gericht von seinem Ermessen dahin Gebrauch, daß es die mögliche Beiladung unterläßt, so liegt darin kein Verfahrensmangel.
Die Voraussetzungen des § 150 Nr. 3 SGG können schon nach Art des Streitgegenstandes nicht vorliegen und sind vom Kläger auch nicht geltend gemacht worden.
Der Vortrag des Klägers, daß die Beklagte an die Erklärung der LVA R gebunden sei, die Beitragsentrichtung sei fristgemäß zum Antrag vom 22. Februar 1972 erfolgt, verkennt, daß das Revisionsgericht nicht in der Lage ist, über die materiellen Fragen zu entscheiden, da die Berufung nicht statthaft ist.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision des Klägers zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen