Leitsatz (amtlich)
Ein mitarbeitender Meister (Hilfsmeister), der gegenüber mehreren Facharbeitern weisungsbefugt ist und sich in der Spitzengruppe der Lohnskala befindet, gehört in die Gruppe mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion (vgl BSG 1977-03-30 5 RJ 98/76 = BSGE 43, 243, BSG 1978-03-15 1/5 RJ 128/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 29, BSG 1979-02-15 5 RJ 112/77 = SozR 2200 § 1246 Nr 37). Er ist deshalb zumutbar nur auf Tätigkeiten zu verweisen, die nach ihrer tariflichen Einstufung in die Gruppe der Facharbeiter fallen.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
SG Dortmund (Entscheidung vom 21.12.1978; Aktenzeichen S 8 J 37/78) |
Tatbestand
I
Der Kläger beansprucht von der Beklagten Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er ist gelernter Kraftfahrzeuglackierer und war von 1964 bis 1975 als Hilfsmeister beschäftigt. Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bezog er von der Beklagten vom 1. Juli 1975 bis zum 30. April 1978. Mit Bescheid vom 30. März 1978 lehnte diese es ab, darüber hinaus Rente zu gewähren. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 7. Juni 1978).
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 21. Dezember 1978 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit über den Monat April 1978 hinaus zu gewähren. Er habe die Stellung eines mitarbeitenden Meisters innegehabt und sei nach M 1, der niedrigsten von drei Vergütungsgruppen für Meister, bezahlt worden. Der Kläger gehöre zur Gruppe der Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion, denn er habe Weisungsbefugnis gegenüber mehreren Facharbeitern gehabt und habe eine höhere Vergütung bezogen als diese. Er habe sich als Hilfsmeister in der Spitzengruppe der Lohnskala befunden, aber noch nicht die höchstmögliche Tarifgruppe eines Meisters im Arbeitsverhältnis erreicht. Facharbeitertätigkeiten des eigenen sowie verwandter Berufsbereiche könne er nicht mehr verrichten, weil es sich dabei um mindestens mittelschwere Arbeiten handele, die für ihn gesundheitlich nicht mehr zumutbar seien. Leichte Facharbeitertätigkeiten berufsfremder Bereiche kämen nicht in Frage, denn die dafür erforderlichen Kenntnisse könne der Kläger nicht durch eine dreimonatige betriebliche Einweisung erwerben.
Dieses Urteil hat die Beklagte mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision angefochten. Sie rügt die Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie der §§ 131 Abs 1, 103 Satz 1 und 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beklagte ist der Ansicht, eine Erweiterung des sog "Dreistufenschemas" und die Aufspaltung der oberen Gruppe in zwei Stufen sei sowohl der Intention als auch der Handhabung des § 1246 Abs 2 RVO nicht förderlich, sondern eher abträglich und daher abzulehnen. Im übrigen könne das angefochtene Urteil keinen Bestand haben, weil das SG die ihm obliegende Aufklärungspflicht verletzt habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Dortmund vom 21. Dezember 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Sprungrevision der Beklagten zurückzuweisen.
Er macht geltend, daß die Rüge von Verfahrensmängeln bei der Sprungrevision nicht möglich sei. Im übrigen habe die Beklagte keine überzeugenden Gründe dargelegt, die es gerechtfertigt erscheinen ließen, von den Grundsätzen über die Grenzen zulässiger Verweisbarkeit eines Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion abzurücken.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Sprungrevision der Beklagten ist nicht begründet. Dem Kläger steht die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu, denn in seinem Falle sind die Voraussetzungen des § 1246 RVO erfüllt.
Soweit die Beklagte Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens rügt, kann die Sprungrevision gemäß § 161 Abs 4 SGG nicht darauf gestützt werden.
Der Senat sieht aufgrund des Vorbringens der Beklagten keine Veranlassung, seine in der Entscheidung vom 30. März 1977 (- 5 RJ 98/76 - BSGE 43, 243, 246 = SozR 2200 § 1246 Nr 16) begonnene und mit Urteil vom 15. Februar 1979 (- 5 RJ 112/77 - SozR aaO Nr 37) fortgeführte Rechtsprechung zur Verweisung des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion aufzugeben oder zu modifizieren, zumal auch der 1. und der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) zum gleichen rechtlichen Ergebnis gelangt sind (vgl Urteile des 1. Senats in SozR aaO Nr 29 und vom 4. Oktober 1979 - 1 RA 55/78 - sowie Urteile des 4. Senats in BSGE 45, 276, 278 = SozR aaO Nr 27, ferner Nr 31 - Urteile vom 28. Juni und 29. November 1979 - 4 RJ 53/78 und 4 RJ 17/79; vgl auch Urteil des erkennenden Senats vom 11. September 1979 - 5 RJ 136/78). Der 4. Senat ist allerdings der Auffassung, es fehle eine berufssystematische Unterscheidung innerhalb der Gruppe der Facharbeiter, so daß wegen der besonderen Qualität seiner Facharbeitertätigkeit der herausgehobene Vorarbeiter schon aufgrund der "besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit" iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO nur entsprechend eng verweisbar sei (Urteil vom 29. November 1979 aaO mwN).
Die Revision hat keine überzeugenden Argumente vorgebracht, die gegen eine im Vergleich zum Facharbeiter engere Verweisbarkeit des herausgehobenen Vorarbeiters und des besonders qualifizierten Facharbeiters sprechen. Der Senat vermag nicht zu erkennen, wieso eine weitere Differenzierung des nicht starr anzuwendenden Dreistufenschemas, die den Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion zu den Leitberufen des Facharbeiters, des sonstigen Ausbildungsberufes und des ungelernten Arbeiters hinzufügt, durch die Massenverwaltungen der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr sinnvoll gehandhabt werden kann. Es trifft zu, daß die Zusammenfassung von qualitativ gleichwertigen Berufstätigkeiten in Berufsgruppen nach der Rechtsprechung des BSG ein Hilfsmittel ist, den Begriff der Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs 2 RVO) auf der Grundlage der vom Gesetz vorgegebenen Leitlinien auch für die Massenverwaltung der gesetzlichen Rentenversicherung sinnvoll handhabbar zu machen und dabei zugleich den Ansprüchen an Rechtssicherheit und gleichmäßige Sachbehandlung zu genügen (vgl Urteil des Senats vom 20. Juni 1979 - 5 RKn 26/77 -). Eine Modifizierung des dazu entwickelten Mehrstufenschemas ist durchaus mit diesen Zielen zu vereinbaren. Der fortschreitenden Spezialisierung im Arbeitsleben haben die Tarifparteien zunehmend durch eine im Vergleich zu früher differenzierte und verfeinerte Tarifgestaltung Rechnung getragen. So kennt heute zB der Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV-Bau) neben drei Gruppen von Facharbeitern den Bauvorarbeiter und den Werkpolier (vgl Urteil des Senats in SozR aaO Nr 37). In der Lohnordnung des Steinkohlenbergbaus gibt es oberhalb der Gruppe 08, in der sich Facharbeiter befinden, drei Gruppen von Hauern (09 bis 11), und davon werden wieder solche mit Leitungsfunktionen und besonders qualifizierte durch Zulagen herausgehoben (zB Aufsichtshauer und Sicherheitshauer - vgl Urteile des Senats vom gleichen Tage in Sachen 5 RKn 30/78 und 5 RKn 25/78 -). Aus dem Bereich des Kraftfahrzeuggewerbes erwähnt der 4. Senat (Urteil vom 28. Juni 1979 aaO) fünf Beschäftigungsgruppen für Kraftfahrzeugmechaniker und Gesellen einschließlich der Gruppenführer und Vorarbeiter.
Diese Entwicklung kann die Rechtsprechung bei der Verweisung im Rahmen des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit nicht unberücksichtigt lassen. Selbst wenn - wie die Beklagte meint - eine differenziertere Regelung aufgrund verfeinerter Kriterien mehr Streitpunkte bietet, so setzt die am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise insoweit der erforderlichen Schematisierung Grenzen. In der obersten Gruppe der Arbeiterberufe muß die Zusammenfassung von Tätigkeiten in Einklang zu bringen sein mit ihrer Wertigkeit und Bedeutung für den Betrieb. Die beruflichen Anforderungen dürfen nicht so wesentliche Qualitätsunterschiede aufweisen, daß eine Gleichbehandlung bei der Verweisung der herausragenden bisherigen Berufstätigkeit zuwiderläuft. Ebenso wie die Revision unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG (Urteil des 4. Senats vom 19. August 1972 - 4 RJ 95/72 = SozR Nr 104 zu § 1246 RVO) hält es auch der Senat für erforderlich, bei der Auslegung des § 1246 RVO die gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Entwicklung nicht außer acht zu lassen. Der Senat folgt jener Entscheidung des 4. Senats insoweit, als darin ausgeführt ist, daß grundlegende Änderungen der tatsächlichen Gegebenheiten - erwähnt wird ausdrücklich eine Veränderung der Qualifikationsstruktur einzelner Berufe und Tätigkeiten - zu einer Umschichtung und auch ohne Gesetzesänderung zu einem Wandel in der Rechtsprechung führen können. Die Schlußfolgerung, die die Beklagte an dieses Urteil knüpft, vermochte der Senat indes nicht zu übernehmen. Die engere Verweisung der Gruppe mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion beruht gerade auf der veränderten Qualifikationsstruktur, und die daraus sich ergebende Belastung der Versichertengemeinschaft entspricht der zeitgemäßen Anwendung des § 1246 Abs 2 RVO.
Der Beklagten kann auch nicht darin beigepflichtet werden, daß die Verweisbarkeit im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO erweitert werden müßte. Der Vorschlag der Beklagten führt zu einer gleichen Verweisungsbreite in den Gruppen mit dem Leitbild des sonstigen Ausbildungsberufs und des ungelernten Arbeiters. Dann aber fehlt es bei den sonstigen Ausbildungsberufen an der in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO vorgeschriebenen "Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit". In der Rechtsprechung des BSG ist immer wieder betont worden, daß das Verweisungsschema nicht starr zu handhaben ist. Auch schließt es nicht aus, den Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion auf den Facharbeitern gleichwertige Angestelltentätigkeiten zu verweisen, soweit die dazu erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten vorhanden sind oder keine längere betriebliche Einweisungszeit und Einarbeitungszeit als drei Monate vorausgesetzt wird (vgl Urteil des Senats vom 15. Februar 1979 in SozR aaO Nr 38).
Die Revision geht unter Hinweis auf die Definition der Leistungsgruppen in der Anlage 1 zu § 22 Fremdrentengesetz (FRG) davon aus, der Gesetzgeber selbst habe eine dreistufige Einteilung der Versicherten gewählt. Diese Leistungsgruppen zählen jedoch nicht zu den Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit. Sie dienen vielmehr dazu, die Durchführung des im Fremdrentenrecht gültigen Eingliederungsprinzips hinsichtlich der Rentenhöhe zu ermöglichen. In aller Regel dreht es sich dabei um Versicherungszeiten in der Vergangenheit. Auch im Geltungsbereich der RVO reichte früher die Dreiteilung der Arbeiterberufe in Gelernte, Angelernte und Ungelernte als schematisches Unterscheidungsmerkmal für die Rentenversicherung aus. Im übrigen wurde die Leistungsgruppengliederung zur Differenzierung der Entgelte aus der amtlichen Verdienststatistik für Zwecke des FRG übernommen, weil für eine andersartige Gruppenbildung - insbesondere auch für eine weitere Auffächerung der Beschäftigungsmerkmale - keine ausreichenden statistischen Unterlagen über die Einkommensentwicklung zur Verfügung standen (so BT-Drucks III/1109 S 52 zu § 20 der Begründung des Entwurfs zum Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz -FANG- vom 25. Februar 1960). Es handelt sich also keineswegs um eine für § 1246 Abs 2 RVO verbindliche Einteilung des Gesetzgebers. Schließlich unterscheiden auch dort die Definitionen der Leistungsgruppen, wo es damals schon möglich war - nämlich in der knappschaftlichen Rentenversicherung - zwischen den Hauern im Gedinge und den gelernten Grubenhandwerkern.
Ausgehend von den mit der Sprungrevision nicht angreifbaren Feststellungen des SG steht dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu. Danach hatte er die Stellung eines mitarbeitenden Meisters inne und wurde nach der niedrigsten von drei Meistergruppen entlohnt. Das SG hat nicht festgestellt, um welchen Tarifvertrag in welchem Tarifgebiet es sich handelt, insbesondere auch nicht, ob um einen Gehaltstarif für Angestellte oder einen Lohntarif für Arbeiter. Es hat ausgeführt, der Kläger habe sich durchaus in der Spitzengruppe der Lohnskala für Arbeiter befunden; er habe aber "nicht die höchstmögliche Tarifgruppe eines Meisters im Arbeitsverhältnis erreicht". Da Meister normalerweise im Angestelltenverhältnis beschäftigt werden, hätte es nahegelegen, darauf näher einzugehen. Aber auch, wenn es sich bei den Meistergruppen hier nicht um Angestelltentätigkeiten handeln sollte, so lag der Lohn des Klägers über demjenigen der übrigen Lackiererfacharbeiter, die ihm unterstellt und die an seine Weisungen gebunden waren. Der vom SG festgestellte Sachverhalt reicht bei einem als Hilfsmeister beschäftigten Versicherten noch aus, die für die Frage der zumutbaren Verweisungstätigkeit maßgebende "bisherige Berufstätigkeit" in die Gruppe mit dem Leitbild des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion einzureihen. Der Kläger kann infolgedessen nur auf andere Facharbeitertätigkeiten oder auf Tätigkeiten iS des § 1246 Abs 2 RVO zumutbar verwiesen werden, die wegen ihrer Qualitätsmerkmale Facharbeitertätigkeiten gleichstehen, was in der Regel in der tariflichen Einstufung zum Ausdruck kommt (vgl Urteil des Senats vom 11. September 1979 - 5 RJ 136/78 - mwN). Eine derartige Verweisung ist nach den im Verfahren über die Sprungrevision der Beklagten unangreifbaren Feststellungen des SG nicht mehr möglich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1655539 |
BSGE, 3 |