Orientierungssatz
Parallelentscheidung zu dem Urteil des BSG vom 20.2.2020 - B 14 AS 3/19 R, das vollständig dokumentiert ist.
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 31. Mai 2018 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägern die Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Umstritten sind Kostenerstattungsansprüche gemäß § 63 SGB X nach Aufrechnungen des beklagten Jobcenters.
Nach einem erfolgreichen Vorverfahren der Kläger - eine Mutter und zwei ihrer minderjährigen Kinder - hatte der Beklagte entschieden, er werde deren außergerichtliche Kosten erstatten, soweit sie notwendig gewesen und nachgewiesen seien. Außerdem hatte er die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig erkannt (Bescheide vom 14.10.2015). Die Kläger machten 595 Euro Anwaltskosten für die Vertretung im Vorverfahren geltend. Der Beklagte erklärte, er erkenne diesen Betrag in voller Höhe an, rechne aber mit Forderungen gegenüber den Klägern in unterschiedlicher Höhe auf (Schreiben vom 5.11.2015). Die nach Aufrechnung im Verhältnis zu einer Klägerin noch verbliebenen 82,78 Euro glich er bei der Bevollmächtigten aus.
Das SG hat auf die Klage der Kläger und eines weiteren Kindes den Beklagten zu Freistellung von den noch geltend gemachten Anwaltskosten in Höhe von 512,22 Euro verurteilt (Urteil vom 28.8.2017). Das LSG hat die zugelassenen Berufungen zurückgewiesen (Urteil vom 31.5.2018). Die von dem Beklagten in voller Höhe anerkannten Kostenerstattungsansprüche seien nicht erloschen. Sie richteten sich auf Freistellung und seien mangels Gleichartigkeit iS von § 387 BGB nicht mit den Geldforderungen des Beklagten aufzurechnen.
Der Senat hat die Revision zugelassen. Das weitere minderjährige Kind hat seine Klage zurückgenommen. Der Beklagte rügt eine Verletzung von § 63 SGB X. Erstattungsansprüche nach dieser Vorschrift zielten auf Zahlung. Zu § 257 BGB entwickelte Grundsätze seien nicht heranzuziehen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 31. Mai 2018 sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. August 2017 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist nach Rücknahme der Klage des weiteren minderjährigen Kindes unbegründet. Das LSG hat die auf die Ansprüche der Kläger bezogene Berufung des Beklagten zu Recht zurückgewiesen und damit die Verurteilung des Beklagten zum Ausgleich von noch 512,22 Euro durch das SG bestätigt.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen die Pflicht des Beklagten zur Übernahme des aus der Kostennote der Bevollmächtigten der Kläger noch offenen Betrags. Dass die Gebührenabrechnung dem Grunde nach berechtigt war, ist nach den bestandskräftigen Entscheidungen vom 14.10.2015 über die Kostenlast (§ 63 Abs 1 Satz 1 SGB X) und die Notwendigkeit der Hinzuziehung der Bevollmächtigten (§ 63 Abs 2, Abs 3 Satz 2 SGB X) nicht mehr zu prüfen.
Durch seinen Kostenfestsetzungsverwaltungsakt (§ 63 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 1 SGB X) vom 5.11.2015 hat der Beklagte die geltend gemachten Aufwendungen in Höhe von 595 Euro vollumfänglich anerkannt; auch ihre Höhe ist damit nicht im Streit. Vor der Aufrechnungserklärung hat der Beklagte geregelt, er erkenne die vollen Anwaltskosten an. Die Kostenfestsetzung bezieht sich damit auf die gesamte Kostennote und nicht nur auf die gezahlten 82,78 Euro.
2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Streitigkeiten wegen der Kosten eines isolierten Vorverfahrens (§§ 78 ff SGG) sind keine Kosten des Verfahrens iS von § 144 Abs 4 SGG (stRspr; vgl BSG vom 12.12.2019 - B 14 AS 48/18 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Wegen der Höhe der offenen Kostennote war die Berufung statthaft, nachdem sie das SG in seinem Urteil zugelassen hat (vgl § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG).
Zutreffende Klageart ist die echte Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG). Mit dieser Klageart kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hat. Leistung in diesem Sinne ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 54 RdNr 37; zur Zahlung aus einem nicht aufgehobenen Bewilligungsverwaltungsakt BSG vom 27.3.1980 - 10 RV 23/79 - BSGE 50, 82 = SozR 1500 § 54 Nr 40), demgemäß auch die freistellende Zahlung als Unterfall der bewilligten Kostenerstattung.
Dem Klageziel steht kein weiterer Verwaltungsakt entgegen, mit dem Rechte der Kläger aus dem Kostenfestsetzungsverwaltungsakt wieder beseitigt worden sind (vgl § 39 Abs 2 SGB X) und der deswegen hätte angefochten werden müssen. Eine hierfür erforderliche Regelung (§ 31 SGB X) hat der Beklagte erkennbar nicht treffen wollen und stattdessen Aufrechnungen erklärt (vgl BSG vom 24.7.2003 - B 4 RA 60/02 R - SozR 4-1200 § 52 Nr 1 RdNr 17; zur Verrechnung BSG vom 31.8.2011 - GS 2/10 - BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4, RdNr 15). Wegen der Aufrechnungen hat er nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG weder Aktivitäten entfaltet, die Verwaltungsverfahren mit dem Ziel des Abschlusses durch Verwaltungsakt hätten sein können (vgl § 8 SGB X), noch seine Entscheidungen als Verwaltungsakte bezeichnet oder anderweitig den Eindruck erweckt, er habe durch Verwaltungsakte über die Aufrechnungen entschieden (vgl zur Entscheidung in der Form des Verwaltungsakts, ohne dass die Merkmale des § 31 SGB X gegeben sind Littmann in Hauck/Noftz, K § 31 SGB X, RdNr 35, Stand Dezember 2011; BSG vom 3.4.2003 - B 13 RJ 39/02 R - BSGE 91, 68 = SozR 4-1300 § 31 Nr 1 RdNr 12). Die nach den Aufrechnungserklärungen durch den Beklagten vorgenommene Erläuterung, es ergebe sich nur noch ein zu begleichender Anspruch in Höhe von 82,78 Euro, ist kein (feststellender) Verwaltungsakt und auch keine gesonderte Teilablehnung der Auszahlung.
3. Die Kläger haben die geltend gemachten Ansprüche auf vollen Ausgleich der vom Beklagten festgesetzten 595 Euro. Den Aufrechnungen stand ein Aufrechnungsverbot entgegen.
a) Zwar hat der Beklagte, weil er die Kostenerstattungsansprüche der Kläger nicht durch Zahlung erfüllen wollte, Aufrechnungen durch öffentlich-rechtliche Willenserklärungen erklärt. Hierzu war er grundsätzlich berechtigt (vgl zur Aufrechnung als Rechtsinstitut des öffentlichen Rechts BSG vom 9.6.1988 - 4 RA 9/88 - BSGE 63, 224, 230 = SozR 1300 § 48 Nr 47 S 135 mwN; BSG vom 15.12.1994 - 12 RK 69/93 - BSGE 75, 283, 284 ff = SozR 3-2400 § 28 Nr 2 S 9 ff; BSG vom 22.7.2004 - B 3 KR 21/03 R - BSGE 93, 137 = SozR 4-2500 § 137c Nr 2; zur Verrechnung BSG vom 31.8.2011 - GS 2/10 - BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4; allgemein zum Meinungsstand BSG vom 16.12.2009 - B 7 AL 43/07 R - RdNr 15; vgl auch BVerwG vom 27.10.1982 - 3 C 6/82 - BVerwGE 66, 218, 221; BFH vom 2.4.1987 - VII R 148/83 - BFHE 149, 482, 487). Welche Anforderungen indes im Einzelnen bei einer sozialrechtlichen Überformung der entsprechend anzuwendenden Vorschriften des BGB an eine wirksame Aufrechnung zu stellen wären und inwieweit einzelne spezialgesetzliche Vorschriften des SGB II als abschließend verstanden werden müssen, kann offen bleiben. Jedenfalls bestand ein Aufrechnungsverbot.
b) Die Aufrechnung von Kostenerstattungsansprüchen aus § 63 SGB X mit Erstattungsforderungen eines Jobcenters aufgrund der Überzahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II verstößt gegen ein normatives Aufrechnungsverbot.
Auch eine Aufrechnung, die die Vorgaben der §§ 387, 388 BGB erfüllt, ist ausgeschlossen, wenn sie gegen ein gesetzliches oder vertragliches Verbot verstößt. Gesetzliche Aufrechnungsverbote können ausdrücklich angeordnet sein oder sich aus dem Sinn und Zweck einer Vorschrift ergeben (Rüßmann in Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, § 387 RdNr 71, Stand 17.8.2017; ähnlich Wagner in Erman, BGB, 15. Aufl 2017, § 387, RdNr 2, nach dem neben ausdrücklichen gesetzlichen Aufrechnungsverboten auch die Natur der Rechtsbeziehungen oder der Zweck der geschuldeten Leistung die Aufrechnung ausschließen können). Aufrechnungsverbote sind ua auf den Vorrang der Effektiverfüllung zurückzuführen. Bei diesem Vorrang geht es darum, den an der Aufrechnung beteiligten Gläubigern der Hauptforderung den Leistungsgegenstand zur tatsächlichen Verfügung zu erhalten, sei es auch nur im Interesse Dritter (Gernhuber, Die Erfüllung und ihre Surrogate sowie das Erlöschen der Schuldverhältnisse aus anderen Gründen, 2. Aufl 1994, S 258).
Das Aufrechnungsverbot gegenüber den Klägern als Inhabern der Kostenerstattungsansprüche ergibt sich aus Sinn und Zweck des § 63 SGB X. Auf dessen Regelungen beruht der Kostenfestsetzungsverwaltungsakt des Beklagten, mit dem er die geltend gemachten Aufwendungen anerkannt hat.
§ 63 SGB X berechtigt Widerspruchsführer, die Erstattung der Aufwendungen zu verlangen, die ihnen durch ihr erfolgreiches oder nur wegen der Heilung von Verfahrens- oder Formfehlern erfolgloses Vorgehen gegen einen Verwaltungsakt entstanden sind. Ob und in welchem Umfang Aufwendungen dem Grunde nach zu erstatten sind, richtet sich (ausgenommen § 63 Abs 1 Satz 2 SGB X) ausschließlich nach dem Erfolg des Widerspruchs (vgl BSG vom 12.6.2013 - B 14 AS 68/12 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 20 RdNr 20 ff). Der Erstattungsanspruch kompensiert zugleich den Umstand, dass die Verwaltung die an sie auf Art 20 Abs 3 GG gestützte Erwartung, sie werde nach Gesetz und Recht handeln, nicht erfüllt.
Die Vorschrift übernimmt weitgehend die Kostenregelung zum verwaltungsgerichtlichen Vorverfahren in § 80 VwVfG, die bewusst eingeführt worden war, um die zuvor umstrittene und vom Großen Senat des BVerwG abgelehnte Kostenerstattungspflicht bei einem Erfolg des Widerspruchs im isolierten Vorverfahren aufgrund für das gerichtliche Verfahren geltender Kostenerstattungsvorschriften zu ermöglichen (vgl Gesetzentwurf der Bundesregierung zum VwVfG, BT-Drucks 7/910 S 91 mwN; BVerwG vom 1.11.1965 - GrSen 2.65 - BVerwGE 22, 281).
Ergänzend regelt § 63 Abs 2 SGB X, unter welcher Voraussetzung Anspruch auf Erstattung von Aufwendungen für die Vertretung durch Bevollmächtigte besteht. Dazu muss die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig gewesen sein. Wegen der Komplexität des Sozialrechts ist die Rechtslage für den Bürger regelmäßig schwer zu erfassen, schon aus diesem Grund ist die Zuziehung rechtskundiger Bevollmächtigter (zB Gewerkschaft, Rentenberater, Rechtsanwalt, vgl § 73 Abs 2 Satz 2 SGG) in der Regel notwendig. Zugleich rechtfertigen die Gesichtspunkte eines fairen Verfahrens und einer gewissen Waffengleichheit die Hinzuziehung eines sachkundigen Bevollmächtigten (vgl Becker in Hauck/Noftz, SGB X, K § 63 RdNr 50, Stand Februar 2015; zur Inanspruchnahme von Rechtsrat und anwaltlicher Vertretung als geeignete Maßnahme zur Steigerung der Effektivität des Vorverfahrens BVerfG vom 11.5.2009 - 1 BvR 1517/08 - NZS 2010, 88, 91). Dessen Einschaltung ist bei einem Widerspruchserfolg nach den Regeln der Kostenerstattung für das Vorverfahren im Ergebnis "kostenlos" (BVerfG vom 11.5.2009 - 1 BvR 1517/08 - NZS 2010, 88, 89).
Die Kostenerstattung nach § 63 SGB X hat bei unbemittelten Widerspruchsführern mehrere Funktionen. Sie sichert die Widerspruchsführer vor der Kostenlast bei einem erfolgreichen isolierten Vorverfahren ab, sie gibt im Wege des Freistellungsanspruchs den Bevollmächtigten die Sicherheit, ihre Gebühren und Auslagen auch bei Vertretung von unbemittelten Widerspruchsführern zu erhalten und sie steht dafür, dass auch unbemittelte Widerspruchsführer Anwälte finden, die zu ihrer Vertretung bereit sind, weil sie im Erfolgsfall dieselbe Vergütung erwarten können, wie bei bemittelten Mandanten.
Diese Funktionen werden vereitelt, wenn bevollmächtigte Anwälte, sei es, dass Widerspruchsführer - wie hier - selbst Inhaber des Anspruchs nach § 63 SGB X bleiben, dass sie ihren Anspruch an die Bevollmächtigten abgetreten haben (vgl BSG vom 20.2.2020 - B 14 AS 4/19 R) oder dass der Anspruch wegen § 9 Satz 2 des Gesetzes über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen auf Bevollmächtigte übergegangen ist (BerHG; vgl BSG vom 20.2.2020 - B 14 AS 3/19 R), damit rechnen müssen, dass der Rechtsträger, der die Kosten des Vorverfahrens zu erstatten hat, seinerseits mit Forderungen gegenüber Widerspruchsführern wirksam aufrechnen kann.
Das erfolgreiche Bemühen der Widerspruchsführer um die Korrektur rechtswidriger Verwaltungsakte ginge bei der Zulässigkeit der Aufrechnung von Kostenerstattungsansprüchen aus einem Vorverfahren letztlich allein zu ihren Lasten. Dieses Ergebnis weicht ohne erkennbare Rechtfertigung vom prozessualen Kostenrecht ab, dem das "Obsiegens- und Unterliegensprinzip" zugrunde liegt (vgl § 197a Abs 1 letzter Halbsatz SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO; § 135 Abs 1 FGO; § 91 Abs 1 Satz 1 ZPO; BSG vom 12.6.2013 - B 14 AS 68/12 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 20 RdNr 19) oder bei dem es maßgeblich zu beachten ist (vgl Gutzler in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 193 RdNr 28 ff). Endet das Vorverfahren zum Nachteil der Widerspruchsführer und haben sie später im Klageverfahren Erfolg, erfasst der gerichtliche Ausspruch zur Kostenerstattung auch das Vorverfahren (vgl BSG vom 20.10.2010 - B 13 R 15/10 R - SozR 4-1500 § 193 Nr 6 RdNr 20; BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 50/15 R - SozR 4-1300 § 63 Nr 25 RdNr 20 ff). Bei hinreichender Aussicht auf Erfolg und der wegen der regelmäßigen Prozesskostenhilfebedürftigkeit von Empfängern von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vorzunehmenden Prozesskostenhilfebewilligung sichert das Aufrechnungsverbot aus § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 126 Abs 2 Satz 1 ZPO das Beitreibungsrecht des Rechtsanwalts und damit auch dessen Bezahlung für die Vertretung im gerichtlichen Verfahren. Die Kosten des Vorverfahrens erfasst § 126 Abs 2 Satz 1 ZPO aber nicht.
Dass für das gerichtliche Verfahren Mechanismen vorgesehen sind, die aus Gründen der Rechtsschutzgleichheit aus Art 3 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 und 3 GG (vgl BVerfG vom 23.6.1999 - 1 BvR 984/89 - NJW 1999, 3186; BVerfG vom 3.3.2014 - 1 BvR 1671/13 - NZS 2014, 336) den Ausgleich von Aufwendungen finanziell bedürftiger Rechtsschutzsuchender wegen ihrer Vertretung ohne Abschläge gegenüber den Aufwendungen von Bemittelten sichern, ist auch für den Kostenerstattungsanspruch aus § 63 SGB X zu würdigen (vgl zum Gleichlauf von Rechtsschutzgleichheit und Rechtswahrnehmungsgleichheit BVerfG vom 11.5.2009 - 1 BvR 1517/08 - NZS 2010, 88, 89).
Das Grundgesetz verbürgt sich mit dem Anspruch aus Art 3 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 und 3 GG - für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt iVm Art 19 Abs 4 GG - für grundsätzlich gleiche Chancen von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich. Der Unbemittelte ist einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt (BVerfG vom 14.10.2008 - 1 BvR 2310/06 - BVerfGE 122, 39, 49; BVerfG vom 11.5.2009 - 1 BvR 1517/08 - NZS 2010, 88, 89).
§ 63 SGB X setzt durch die Verbindung der Kostenerstattung mit dem Erfolg des Widerspruchs den Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit um. Mit der uneingeschränkten Anknüpfung an den Erfolg des Widerspruchs tritt § 63 SGB X jedem Versuch entgegen, die Erstattung an individuelle Eigenschaften von Widerspruchsführern zu knüpfen. Solche Eigenschaften sind, sofern es um Aufwendungen durch die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe geht, erst bei der Gebührenbemessung zu berücksichtigen. Hier werden die grundsätzlich beim Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vorliegenden unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse in den allermeisten Fällen durch den Bemessungsgesichtspunkt der Bedeutung der Angelegenheit ausgeglichen (vgl BSG vom 1.7.2009 - B 4 AS 21/09 R - BSGE 104, 30 = SozR 4-1935 § 14 Nr 2, RdNr 38).
Die gebotene Gleichstellung Bemittelter und Unbemittelter bezieht sich auch auf die Unterstützung bei der Rechtswahrnehmung durch Bevollmächtigte, wenn deren Hinzuziehung notwendig ist. Rechtsanwälte und andere entgeltlich tätige Bevollmächtigte sind auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihrer Auftraggeber angewiesen. Müssen sie befürchten, ihre Vergütung nicht über den Ausgleich nach § 63 SGB X zu erhalten, werden sie die Übernahme der Vertretung ablehnen. Je gezielter Jobcenter zur Aufrechnung von Erstattungsforderungen angewiesen werden, desto weniger wird es Leistungsberechtigten gelingen, anwaltliche Beratung und Vertretung zu erlangen (vgl auch Schweigler, SGb 2017, 314, 316 zum "Praxishandbuch für das Verfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz" der Bundesagentur für Arbeit).
Bei Widersprüchen im Bereich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II sind Widerspruchsführer oftmals auf rechtskundige Vertretung angewiesen. Denn aufgrund der Abhängigkeit dieser Leistungen von sich ändernden Bedarfen und zu berücksichtigendem Einkommen und Vermögen sind Erstattungsforderungen der Jobcenter gegen Leistungsbezieher nichts ungewöhnliches (vgl zur Größenordnung nur BT-Drucks 19/12241 vom 9.8.2019 S 2: 2 883 472 Erstattungsbescheide im Jahr 2018). Das gilt erst recht im Zusammenhang mit der vorläufigen Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II (§ 41a SGB II; vgl zur Leistungserbringung im Voraus § 42 Abs 1 SGB II; zur Untauglichkeit des Erlasses von endgültigen Verwaltungsakten in Fällen, in denen der Sachverhalt nicht endgültig aufgeklärt ist BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 17 f), bei deren endgültiger Festsetzung sonst zu würdigende Vertrauensschutzgesichtspunkte (vgl § 45 Abs 2 SGB X) nicht zu prüfen sind. Daher geht es häufig um konkrete Einzelheiten der Anspruchsberechnung, die von Rechtsunkundigen regelmäßig nicht als mangelhaft erkannt werden können.
Der Zugriff der Jobcenter wegen solcher Erstattungsforderungen auf von ihnen an Leistungsberechtigte nach dem SGB II zu erbringende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist durch § 43 SGB II beschränkt. Dieser aus verfassungsrechtlichen Gründen beschränkte Zugriff auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (vgl zuletzt BVerfG vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 - NZS 2020, 13, 16) kann nicht auf Kosten des Anspruchs auf Rechtswahrnehmungsgleichheit umgangen werden.
Die zum Vorverfahren erlassenen gesetzlichen Regelungen - einschließlich derjenigen zur Kostenerstattung - sind schließlich im Lichte des Art 19 Abs 4 GG auszulegen und begrenzen den einseitigen Zugriff auf Forderungen der Widerspruchsführer zusätzlich. Das gilt auch, wenn sich einem Vorverfahren kein gerichtliches Verfahren anschließt. Denn aus Sicht durch einen Verwaltungsakt Belasteter ist das Vorverfahren bei den in § 78 Abs 1 Satz 1, Abs 3 SGG genannten Verfahrensarten zwingend. Erst nach Abschluss des Vorverfahrens ist die für eine anschließende Klage gegen Verwaltungsakte gesetzliche Prozessvoraussetzung erfüllt (vgl § 78 Abs 1, Abs 3 SGG; vgl nur BSG vom 18.3.1999 - B 12 KR 8/98 R - SozR 3-1500 § 78 Nr 3 S 5 mwN; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 78 RdNr 3). Welchen Ausgang das Vorverfahren nimmt, können Widerspruchsführer bei der kostenauslösenden Inanspruchnahme rechtskundiger Unterstützung regelhaft nicht prognostizieren. Bei einer Aufrechnung würden sie trotz ihres Erfolgs im Ergebnis ihre Aufwendungen selbst zu tragen haben. Den Gebührenforderungen ihrer Bevollmächtigten sind sie nämlich weiterhin ausgesetzt.
Da im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren nach der AO dem Grunde nach nicht um existenzsichernde Leistungen gestritten wird und das Verfahren bis auf die Streitigkeiten über den Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung (vgl § 77 EStG) ohnehin keine Erstattung der Aufwendungen der Beteiligten vorsieht (vgl dazu auch BFH vom 23.7.1996 - VII B 42/96 - BFHE 180, 529), bedarf es keiner weiteren Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BFH zur Aufrechnung mit Steueransprüchen gegen prozessuale Kostenerstattungsansprüche aus der FGO (vgl dazu zuletzt BFH vom 16.3.2016 - VII B 102/15).
Aus § 126 Abs 2 Satz 1 ZPO und § 43 RVG, die gesetzliche Aufrechnungsverbote regeln, lässt sich nichts gegen ein Aufrechnungsverbot aus dem Sinn und Zweck des § 63 SGB X herleiten. Ausdrückliche gesetzliche Aufrechnungsverbote stehen neben denjenigen, die sich aus dem Sinn und Zweck einer Vorschrift ergeben und lassen diesen Raum. Daraus, dass der Gesetzgeber in § 126 Abs 2 Satz 1 ZPO das Beitreibungsrecht des beigeordneten Anwalts sichert, ergeben sich keine Auswirkungen für ein Aufrechnungsverbot aus § 63 SGB X. Im Rahmen der Prozesskostenhilfe sind allein Regelungen für das Gerichtsverfahren getroffen. Im Übrigen beruhen beide Aufrechnungsverbote allein auf der Sicherung des anwaltlichen Gebührenanspruchs (vgl Volpert in Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 5. Aufl 2017, § 43 RdNr 5, 8), während es bei dem aus § 63 SGB X abgeleiteten Aufrechnungsverbot um den Anspruch des unbemittelten Mandanten wegen des Gebots der Rechtswahrnehmungsgleichheit geht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen
NJW 2021, 110 |
NZA 2020, 1530 |
AnwBl 2020, 208 |
NZS 2020, 776 |
SGb 2020, 301 |
RVG prof. 2020, 78 |
SR-aktuell 2020, 55 |
info-also 2020, 235 |