Leitsatz (amtlich)
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsfrist kann auch nach Ablauf der Jahresfrist des SGG § 67 Abs 3 beantragt werden, wenn dem Antragsteller erst nach Ablauf dieser Frist das Armenrecht bewilligt und ein Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigter beigeordnet worden ist.
Leitsatz (redaktionell)
Die Klagerücknahme ist als Prozeßhandlung ebenso wie die Klageerhebung in einer bestimmten Form dem Gericht gegenüber vorzunehmen; sofern sie nicht in der mündlichen Verhandlung erklärt wird, erfolgt sie durch Einreichung eines Schriftsatzes (SGG § 202 in Verbindung mit SGG § 102 S 1 und ZPO § 271 Abs 2).
Ist der Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten, der die Klagerücknahme enthält, nicht dem Gericht, sondern versehentlich dem Kläger zugegangen, dann dadurch die Klage nicht zurückgenommen.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03, § 102 S. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 271 Abs. 2 Fassung: 1950-09-12
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1956 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der … 1887 geborene Kläger hatte am 18. Dezember 1952 die Altersinvalidenrente beantragt. Mit Bescheid vom 2. November 1953 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab, da der Kläger nach ärztlicher Feststellung im Jahre 1952 bereits invalide gewesen, die in diesem Jahre für die Zeit von 1949 bis 1952 entrichteten Beiträge daher rechtsunwirksam seien und die Anwartschaft aus den übrigen Beiträgen auch durch Halbdeckung nicht erhalten sei.
Nachdem die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid bei Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG.) übergegangen war, ergab auch die vom SG. angeordnete neue Untersuchung, daß der Kläger nach Auffassung des Gutachtens zur Zeit der Beitragsentrichtung im Jahre 1952 invalide war. Auf die Anfrage des SG. beim damaligen Prozeßbevollmächtigten des Klägers, ob er die Klage unter diesen Umständen aufrecht erhalte, ging beim Gericht am 1. Juni 1954 die Mitteilung des Klägers ein, sein Prozeßbevollmächtigter habe am 25. Mai 1954 die Klage zurückgenommen, er sei damit jedoch nicht einverstanden und halte sie weiterhin aufrecht. Das SG. billigte die Ansicht der Beklagten über die Unwirksamkeit der Beitragsentrichtung und wies die Klage am 2. Februar 1955 ab.
Mit der Berufung machte der Kläger geltend, er sei zur Zeit der Beitragsentrichtung im Jahre 1952 noch nicht invalide gewesen. Auf Anfrage des Landessozialgerichts (LSG.) teilte sein Prozeßbevollmächtigter erster Instanz mit, er habe die Klage - der Anregung des SG. entsprechend - zurückgezogen und übersandte dem LSG. Abschriften der Klagerücknahme und des folgenden an ihn gerichteten Schreibens des Klägers vom 3. Juni 1954: "Anbei Ihre beiden Schreiben an das SG. Augsburg zurück. Ich habe sofort an das SG. Augsburg Einspruch erhoben und werde mich selbst verteidigen...". Das LSG. wies die Berufung zurück und ließ die Revision nicht zu. Es nahm an, die Klage sei durch Schriftsatz vom 25. Mai 1954 zurückgenommen und erblickte in der Weiterverfolgung des Klagebegehrens durch den Kläger eine neue, verspätet erhobene und daher unzulässige Klage. Die Rechtsmittelbelehrung enthielt zum Armenrecht sinngemäß die Wiedergabe des § 167 Abs. 1 SGG. Das Urteil wurde dem Kläger am 10. August 1956 zugestellt.
Am 5. September 1956 beantragte der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG.) die Bewilligung des Armenrechts, reichte jedoch erst auf die ihm vom BSG. unter dem 22. September 1956 erteilte Belehrung ein am 27. September 1956 ausgestelltes Zeugnis zur Erlangung des Armenrechts ein (Eingang beim BSG. am 11. Oktober 1956). Nachdem das SG. dem Senat auf Anfrage mitgeteilt hatte, es lasse sich nicht feststellen, ob die Klagerücknahmeerklärung vom 25. Mai 1954 beim SG. eingegangen sei, wurde dem Kläger durch Beschluß vom 12. Mai 1958 - zugestellt am 16. Mai 1958 - unter Bewilligung des Armenrechts sein jetziger Prozeßbevollmächtigter beigeordnet. Dieser beantragte am 22. Mai 1958 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen den Ablauf der Revisionsfrist und legte gleichzeitig Revision ein. Er beantragt
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1956 aufzuheben und nach dem Klageantrag zu erkennen;
hilfsweise,
die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Mit der am 23. Juni 1958, einem Montag, beim BSG. eingegangenen Revisionsbegründung macht er geltend, das LSG. habe zu Unrecht Klagerücknahme angenommen, denn der Schriftsatz, der sie enthalten habe, sei nicht dem SG., sondern - versehentlich - dem Kläger zugegangen. Das LSG. hätte daher auf die Berufung des Klägers in der Sache selbst entscheiden müssen; weil das LSG. dies unterlassen und zu Unrecht Klagerücknahme angenommen habe, seien die §§ 102, 103 und 106 SGG verletzt. Der Kläger hält seinen Rentenanspruch weiterhin aufrecht und verweist hinsichtlich seiner Arbeitsfähigkeit im Jahre 1951 auf das Zeugnis des Arztes Dr. W. B... in M...
Entscheidungsgründe
I
Die Revision ist zulässig. Der Kläger hat zwar die Revisionsfrist versäumt; der Senat gewährt ihm jedoch insoweit gemäß § 67 Abs. 1 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung ist nach § 67 Abs. 3 SGG zulässig, obwohl die in dieser Vorschrift genannte Jahresfrist im vorliegenden Fall bei Stellung des Antrages bereits verstrichen war, denn der Kläger war infolge höherer Gewalt gehindert, den Antrag vor Ablauf dieser Frist zu stellen. Er war, wie er durch das Zeugnis zur Erlangung des Armenrechts dargetan hat, wirtschaftlich nicht in der Lage, sich ohne Bewilligung des Armenrechts durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen und hatte daher zunächst, solange die Entscheidung über sein Armenrechtsgesuch ausstand, keine Möglichkeit, wirksam Revision einzulegen oder diese Rechtshandlung in Verbindung mit einem Wiedereinsetzungsantrag nachzuholen (§ 67 Abs. 2 Satz 3 SGG). Auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Senats über das Armenrechtsgesuch hatte der Kläger aber keinen Einfluß (vgl. hierzu auch RVA. GE Nr. 3644 in AN. 1930 S. 59 [61]; ferner BGH. NJW. 1955 S. 1225). Der demnach zulässige Wiedereinsetzungsantrag ist fristgerecht gestellt worden (§ 67 Abs. 2 Satz 1 SGG); nachdem die Behinderung des Klägers, wirksam Revision einzulegen, durch Beiordnung seines jetzigen Prozeßbevollmächtigten weggefallen war, wovon der Kläger am 16. Mai 1958 Kenntnis erhielt, legte er durch seinen Prozeßbevollmächtigten am 22. Mai 1958 Revision ein und stellte gleichzeitig den Wiedereinsetzungsantrag. Dieser Antrag ist begründet, denn der Kläger war ohne Verschulden - nämlich durch seine Armut - verhindert, die Revisionsfrist einzuhalten.
Auch wenn man mit dem 10. Senat des BSG. annehmen wollte, daß im sozialgerichtlichen Verfahren das Armutszeugnis grundsätzlich innerhalb der Revisionsfrist beigebracht werden muß (BSG. Bd. 1 S. 287), so wäre doch auch diese Fristversäumnis von dem Kläger nicht verschuldet und die Wiedereinsetzung auch insoweit begründet. Es ist nämlich dem Kläger - anders als in dem vom 10. Senat entschiedenen Fall - nicht als Verschulden anzurechnen, daß er das Zeugnis zur Erlangung des Armenrechts erst nach Ablauf der Revisionsfrist einreichte (zu dieser Frage vgl. neuerdings BGH. in Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofes, § 233 ZPO Nr. 87), denn der Kläger war in der Rechtsmittelbelehrung des LSG. zwar darauf hingewiesen worden, daß das Armenrecht innerhalb der Revisionsfrist beantragt werden könne, es war aber in der Rechtsmittelbelehrung nicht zum Ausdruck gekommen, daß auch das Armutszeugnis innerhalb der gleichen Frist dem BSG. vorgelegt werden müsse. Es kommt hinzu, daß der Kläger noch nach Ablauf der Revisionsfrist vom BSG. aufgefordert worden ist, ein Armutszeugnis vorzulegen. Unter diesen Umständen erscheint eine Fristversäumnis des Klägers entschuldbar, die Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Revisionsfrist ist daher begründet und die Revisionsfrist als gewahrt anzusehen.
Auch die Revisionsbegründungsfrist ist eingehalten. In diesem Zusammenhang kann die Frage offen bleiben, ob mit dem 11. Senat (vgl. BSG. Bd. 8 S. 207) anzunehmen ist, daß nach Bewilligung des Armenrechts die Revisionsbegründungsfrist nach § 164 Abs. 1 Satz 1 SGG einen Monat nach Einlegung der Revision oder erst zwei Monate nach Zustellung des Beschlusses abläuft, durch den dem Antragsteller das Armenrecht bewilligt worden ist. Auch wenn man der Auffassung des 11. Senats folgt, hat der Kläger die Revision fristgerecht begründet, weil die hiernach geltende Revisionsbegründungsfrist nicht schon mit dem 22. Juni 1958, einem Sonntag, sondern erst mit dem 23. Juni 1958 ablief (§ 64 Abs. 3 SGG) und die Revisionsbegründung an diesem Tage beim BSG. einging.
Die vom LSG. nicht zugelassene Revision ist statthaft, denn der Kläger hat mit Erfolg einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG. gerügt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; vgl. hierzu BSG. Bd. 1 S. 150). Das LSG. hat die ihn nach § 123 SGG obliegende Sachentscheidungspflicht verletzt, weil es rechtsirrig annahm, die Klage sei im Verfahren vor dem SG. wirksam zurückgenommen worden.
Die Klagerücknahme ist als Prozeßhandlung wie die Klageerhebung in einer bestimmten Form dem Gericht gegenüber vorzunehmen, und zwar, sofern sie nicht in der mündlichen Verhandlung erklärt wird, durch Einreichung eines Schriftsatzes (§ 202 SGG in Verb. mit § 102 Satz 1 SGG und § 271 Abs. 2 ZPO). Im vorliegenden Fall ist der Schriftsatz, der die Erklärung der Klagerücknahme enthielt, nicht dem SG., sondern, wie auch der damalige Prozeßvertreter des Klägers dargelegt hat, versehentlich dem Kläger zugegangen. Die Richtigkeit dieser Auffassung ergibt sich auch daraus, daß sich der Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten des Klägers, in dem die Zurücknahme der Klage erklärt wurde, nicht bei den Akten des SG. befindet, sowie aus dem Schreiben des Klägers vom 30. Mai 1954 an das SG. in Verbindung mit der Auskunft des SG., es lasse sich nicht feststellen, ob die Klagerücknahme dort eingegangen sei.
Da somit die Klage nicht zurückgenommen ist, hätte das LSG. nach § 123 SGG eine Sachentscheidung treffen müssen. Die Revision ist somit begründet. Dies rechtfertigt die Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil es sich auch aus anderen Gründen nicht als richtig darstellt (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Unter diesem Gesichtspunkt hat der Senat geprüft, ob der Kläger berechtigt sein konnte, im Jahre 1952 Beiträge für das Jahr 1949 nachzuentrichten. Das war abweichend von § 1442 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. der Fall, denn nach § 18 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges vom 15. Januar 1941 (RGBl. I S. 34) lief die Frist für die Nachentrichtung von Beiträgen (§ 1442 Abs. 1 RVO a.F.) erst mit dem auf das Kriegsende folgenden Kalenderjahr ab; für die US.-Besatzungszone wurde als Kriegsende aber durch § 1 Abs. 1 Satz 1 des Kriegsfristengesetzes vom 13. November 1952 (BGBl. I S. 737) der 31. Dezember 1950 bestimmt, und gemäß § 3 Satz 2 und 3 des Kriegsfristengesetzes bewendet es bei der Nachentrichtung von Beiträgen, wenn diese für Zeiten vor dem 1. Januar 1950 in der Zeit vom 1. Januar 1952 bis zum 16. November 1952 entrichtet und die betreffenden Quittungskarten bis zum 31. März 1953 zum Umtausch eingereicht wurden. Der Kläger hat die Beiträge für das Jahr 1949, wie sich aus seiner Quittungskarte Nr. 20 ergibt, aber spätestens am 19. Mai 1952 entrichtet und diese Quittungskarte am gleichen Tage zum Umtausch eingereicht. Für eine Entscheidung des Senats darüber, ob der Kläger bei Entrichtung der Beiträge für das Jahr 1949 bereits invalide war, fehlen die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen des LSG. Der Rechtsstreit mußte daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem endgültigen Urteil vorbehalten.
Fundstellen