Leitsatz (amtlich)

Ist ein Lehrling nach vorzeitiger Beendigung eines Lehrverhältnisses ein neues eingegangen, so liegt eine die Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung ausschließende "Weiterbeschäftigung" iS des AVAVG § 63 Abs 1 S 4 nur dann vor, wenn ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen beiden Lehrverhältnissen besteht.

Dieser ist jedenfalls dann nicht gegeben, wenn zwischen der Beendigung des alten und dem Beginn des neuen Lehrverhältnisses ein Zeitraum von mehr als drei Monaten liegt und die im ersten Lehrverhältnis verbrachte Ausbildungszeit auch nicht teilweise auf die Gesamtdauer der Ausbildung angerechnet wird.

 

Leitsatz (redaktionell)

Arbeitslosenversicherungsfreiheit von Lehrlingen: 1. Lehrlinge, die bei einer Behörde für den Beruf eines Angestellten (nicht Beamten) ausgebildet werden, sind keine Verwaltungslehrlinge iS von RVO § 172 Abs 1 Nr 4.

2. Bei Ersatzkassenmitgliedern haftet nicht der Arbeitgeber, sondern der Versicherte gegenüber der Einzugsstelle für die Entrichtung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung (RVO § 520) iVm AVAVG § 160 Abs 2 S 1.

 

Normenkette

AVAVG § 63 Abs. 1 S. 4; RVO § 520

 

Tenor

Auf die Revision der Beigeladenen werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 4. Juli 1967 und des Sozialgerichts Lüneburg vom 30. August 1966 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist die Versicherungspflicht des Klägers zur Arbeitslosenversicherung für seine Lehrzeit vom 1. April 1962 bis zum 31. Oktober 1963 streitig.

Der am ... 1947 geborene Kläger war vom 1. April 1962 an aufgrund eines schriftlichen Lehrvertrags bei der Stadt G als Angestelltenlehrling beschäftigt. Wegen eines Wohnungswechsels wurde das bis zum 31. März 1965 abgeschlossene Lehrverhältnis zum 31. Oktober 1963 einverständlich gelöst. Am 7. Februar 1964 schloß der Kläger mit der Allgemeinen Ortskrankenkasse in C einen neuen Lehrvertrag über eine Ausbildung im Krankenkassendienst für die Zeit vom 10. Februar 1964 bis zum 31. März 1967 ab. Die frühere Ausbildungszeit wurde auf die neue Lehrzeit nicht angerechnet.

Auf Anforderung der beklagten Ersatzkasse zahlte die Stadt G für die Zeit vom 1. April 1962 bis zum 31. Oktober 1963 den Arbeitgeberanteil zur Arbeitslosenversicherung für den Kläger nach. Der Kläger lehnte die Zahlung seines Anteils ab. Sein Widerspruch blieb erfolglos.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) nach Beiladung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb) den angefochtenen Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides durch Urteil vom 30. August 1966 aufgehoben.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beigeladenen zurückgewiesen: Die Lehrzeit des Klägers bei der Stadt G sei gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) versicherungsfrei. Eine Versicherungspflicht sei nicht dadurch rückwirkend eingetreten, daß das Lehrverhältnis vorzeitig vor Ablauf von zwei Jahren beendet worden sei; denn der Kläger sei im Sinne des § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG weiterbeschäftigt worden. Hierbei genüge es, daß eine Gesamtausbildung aufgrund eines schriftlichen Lehrvertrages für die Dauer von mindestens zwei Jahren vorgesehen sei, der Lehrvertrag nur aus wichtigem Grund gelöst werden könne und die Ausbildung auch nicht vor Ablauf von zwei Jahren ende. Damit werde dem Zweck des Gesetzes, eine planmäßige Berufsausbildung zu fördern und den Lehrling vor einer ungesicherten Arbeitslosenzeit zu schützen, hinreichend Rechnung getragen. Ein innerer Zusammenhang zwischen den aufeinanderfolgenden Lehrverhältnissen sei nicht erforderlich (Urteil vom 4. Juli 1967). Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beigeladene hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Sie ist der Ansicht, von einer Weiterbeschäftigung könne nur gesprochen werden, wenn beide Lehrverhältnisse sich gegenseitig zu einem einheitlichen Ausbildungsverhältnis in der Weise ergänzten, daß das abgebrochene Lehrverhältnis mit einem anderen Lehrherrn unter voller oder teilweiser Anrechnung der bisherigen Lehrzeit in einem gleichen oder artverwandten Beruf fortgesetzt werde. Im Falle des Klägers fehle dieser Zusammenhang zwischen dem alten und dem neuen Lehrverhältnis. Er habe nach Abbruch des ersten Lehrverhältnisses eine neue Lehre begonnen, ohne daß bei ihrer Dauer die bereits abgeleistete Lehrzeit berücksichtigt worden sei. Seine Beschäftigung bei der Stadt Gelsenkirchen sei daher von ihrem Beginn an arbeitslosenversicherungspflichtig gewesen.

Die Beigeladene beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG Niedersachsen vom 4. Juli 1967 und des Urteils des SG Lüneburg vom 30. August 1966 die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Revision ist begründet, weil der Kläger in der Zeit vom 1. April 1962 bis zum 31. Oktober 1963 der Versicherung in der Arbeitslosenversicherung unterlegen ist.

Der Kläger war in der betreffenden Zeit als Angestelltenlehrling im Dienst der Stadt G beschäftigt. Nach § 56 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG war er für diese Beschäftigung zur Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig, soweit er nach den Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung (RVO) der Krankenversicherungspflicht unterlag und eine sonstige Ausnahmeregelung nach der Art des Beschäftigungsverhältnisses nicht zutraf. In der Krankenversicherung sind gemäß § 165 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 und § 165 b Abs. 1 und 2 RVO Angestelltenlehrlinge jeder Art, auch diejenigen, die bei einer Behörde tätig sind, der Versicherungspflicht unterworfen. Hiervon ausgenommen sind nach § 172 Abs. 1 Nr. 4 RVO nur die "Verwaltungslehrlinge", die ähnlich den in Ausbildung befindlichen Beamten (§ 172 Abs. 1 Nr. 1 RVO) im Hinblick auf die später regelmäßig gegebene Versicherungsfreiheit (§ 169 RVO) schon als Lehrlinge versicherungsfrei sind. Diese Ausnahmeregelung trifft für den Kläger nicht zu, da er nicht als Beamtenanwärter, sondern als Angestelltenlehrling für den späteren Beruf eines Angestellten ausgebildet werden sollte, wie das LSG zutreffend angenommen hat.

Das erste Lehrverhältnis wäre daher nur dann versicherungsfrei in der Arbeitslosenversicherung gewesen, wenn § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG zum Zuge gekommen wäre. Dies war aber entgegen der Ansicht des LSG nicht der Fall.

Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 AVAVG ist eine Beschäftigung zur Ausbildung aufgrund eines schriftlichen Lehrvertrages von mindestens zweijähriger Dauer ohne Rücksicht auf die Höhe der Vergütung in der Arbeitslosenversicherung versicherungsfrei, wenn der Lehrvertrag nur aus einem wichtigen Grunde gelöst werden kann und die Beschäftigung zur Ausbildung nicht vor Ablauf von zwei Jahren endet. Gemäß Satz 4 dieser Vorschrift liegt eine solche versicherungsfreie Beschäftigung auch dann vor, wenn das Lehrverhältnis vorzeitig beendet, der Auszubildende aber bei einem anderen Ausbildenden aufgrund eines schriftlichen Lehrvertrages weiterbeschäftigt wird und die Gesamtdauer der vertragsmäßigen Ausbildung mindestens zwei Jahre umfaßt.

Das Lehrverhältnis des Klägers bei der Stadt G ist zwar nach Form und Inhalt des Lehrvertrags zunächst versicherungsfrei zustande gekommen. Mit seiner vorzeitigen Auflösung entfielen jedoch rückwirkend die Voraussetzungen für die Versicherungsfreiheit, weil das Beschäftigungsverhältnis vor Ablauf von zwei Jahren endete und keine Weiterbeschäftigung im Sinne des § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG stattgefunden hat.

Welche Beschäftigungsverhältnisse unter den Begriff der Weiterbeschäftigung in § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG fallen, ist im Gesetz nicht gesagt. Im Schrifttum wird angenommen, es müsse sich um eine Fortsetzung der früheren Ausbildung, somit um ein gleiches oder artverwandtes neues Lehrverhältnis handeln, auf das die frühere Lehrzeit angerechnet werde. Diese Ansicht ist insbesondere den Kommentierungen zu § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG zu entnehmen, die teils von einem Anschlußlehrvertrag und einer Fortsetzung der abgebrochenen Lehre (Draeger/Buchwitz/Schönefelder, Anm. 8/12 zu § 63 AVAVG), einer Fortsetzung des ersten Vertrages durch einen zweiten, wobei es sich um eine gleiche oder verwandte Lehre handeln müsse, unter voller oder teilweiser Anrechnung der alten Lehrzeit (Krebs, Anm. 25 § 63 AVAVG) oder von einem Eintritt eines neuen Lehrherrn in das alte Lehrvertragsverhältnis (Sauer/Brodhun/Strippel, Anm. 6 zu § 63 AVAVG) sprechen.

Diese Auslegung des § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG stimmt mit dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift überein. Die Formulierung "weiterbeschäftigt" in § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG neben der Voraussetzung einer Gesamtdauer der Ausbildung von mindestens zwei Jahren läßt darauf schließen, daß eine Fortsetzung des Ausbildungsverhältnisses gemeint ist. Es muß ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang mit dem ersten Lehrverhältnis bestehen. Hierunter kann eine Weiterführung des bisherigen Lehrverhältnisses im gleichen wie auch in einem ähnlichen Beruf fallen, wenn beide Lehrverhältnisse sich zu einer einheitlichen Gesamtausbildung fachlich und zeitlich ergänzen. Daß damit auch die Fälle erfaßt sein sollten, in denen ein Lehrling nicht weiterbeschäftigt, sondern unabhängig von der bisherigen Ausbildung und der verbrachten Ausbildungszeit neu beschäftigt wird, ist aus der Fassung des § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG nicht zu erkennen, ebenso wenig aus dem Wortlaut des § 74 AVAVG idF vom 16. Juli 1927, dessen Regelung § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG übernommen hat (vgl. BT-Drucks., 2. Wahlper. 1952, 1274 S. 113).

Daß § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG in diesem Sinne einschränkend anzuwenden ist, ist auch dem Sinn und Zweck der Versicherungsfreiheit zu entnehmen. § 63 Abs. 1 Satz 4 AVAVG stellt eine Ausnahme von dem in der Arbeitslosenversicherung herrschenden Grundsatz dar, daß die Versicherungspflicht für jedes einzelne Beschäftigungsverhältnis gesondert zu prüfen ist, auch soweit sich mehrere abgeschlossene Ausbildungsverhältnisse aneinander anschließen. Eine Zusammenrechnung verschiedener Zeiten zu einer versicherungsrechtlichen Einheit ist danach nur berechtigt, wenn ein innerer Zusammenhang zwischen den verschiedenen Lehrverhältnissen besteht und es sich insgesamt - auch zeitlich - gesehen um eine einheitliche Ausbildung handelt. Das ist dann der Fall, wenn beide Lehrverhältnisse sich ergänzen und zu einem Ausbildungsziel führen, sei es, daß das ursprüngliche Lehrverhältnis im gleichen Beruf weitergeführt wird oder daß es Teil der Ausbildung zu einem neuen ähnlichen Beruf wird. Voraussetzung hierfür ist in beiden Fällen, daß eine mindestens teilweise Anrechnung des ersten Lehrverhältnisses auf das zweite erfolgt, weil nur insoweit beide Ausbildungsverhältnisse Bestandteil einer einheitlichen Gesamtausbildung sind; des weiteren muß verlangt werden, daß sich beide Lehrverhältnisse ohne größere Unterbrechung - gleichgültig, worauf diese beruht - aneinanderschließen.

Im vorliegenden Fall fehlt es an einem solchen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zwischen den beiden Lehrverhältnissen. Ein solcher Zusammenhang ist dann nicht mehr gegeben, wenn zwischen beiden Lehrverhältnissen ein beschäftigungsloser Zeitraum von mehr als drei Monaten liegt und die Ausbildungszeit des ersten Lehrverhältnisses nicht einmal teilweise auf das zweite angerechnet worden ist. Eine so lange Unterbrechung zwischen den beiden Lehrverhältnissen kann schon deshalb nicht als unschädlich angesehen werden, weil in diesen Fällen nach Abbruch des ersten Lehrverhältnisses ein längerer Schwebezustand eintreten würde, in dem offen wäre, ob der Lehrling vorher versicherungspflichtig war und ob er gegebenenfalls (bei Bejahung der Versicherungspflicht) Leistungen der Arbeitslosenversicherung erhalten könnte. Ein solcher Schwebezustand ist aber im Interesse aller Beteiligten nicht vertretbar. Der Kläger unterlag daher für die Zeit vom 1. April 1962 bis zum 31. Oktober 1963 der Versicherungs- und Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung.

Als Mitglied einer Ersatzkasse haftete der Kläger selbst für die Entrichtung seiner Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, insbesondere für seinen eigenen Anteil, den die beklagte Ersatzkasse mit den angefochtenen Bescheiden geltend gemacht hat. § 520 RVO, der die Zahlung der Krankenkassenversicherungsbeiträge im Falle der Mitgliedschaft des Versicherten bei einer Ersatzkasse regelt, gilt gemäß § 160 Abs. 2 Satz 1 AVAVG entsprechend für den Beitragseinzug zur Arbeitslosenversicherung.

Die Berechtigung der beklagten Ersatzkasse zum Beitragseinzug folgt aus § 160 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG. Nach dieser Vorschrift sind die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für diejenigen Versicherten, die in der Krankenversicherung pflichtversichert sind, mit den Beiträgen zur Kranken- und Rentenversicherung in einem Betrag einzuziehen. Soweit diese Beiträge - wie hier - von einer Ersatzkasse eingezogen werden, ist die Ersatzkasse auch für den Einzug der Arbeitslosenversicherungsbeiträge zuständig.

Der Beitragsbescheid der beklagten Ersatzkasse in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist somit nicht zu beanstanden.

Auf die Revision der beigeladenen BfArb sind daher das Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 191

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