Entscheidungsstichwort (Thema)
Verspätete Urteilsabsetzung. Urteil ohne Gründe. Verspätete Absetzung eines Urteils
Orientierungssatz
1. Zur verspäteten Übergabe des Urteils an die Geschäftsstelle (hier: nach 1 Jahr).
2. Zur zuverlässigen Wiedergabe des Beratungsergebnisses in den Entscheidungsgründen.
Normenkette
ZPO § 551 Nr 7; SGG § 134 S 1 Fassung: 1953-09-03, § 134 S 2 Fassung: 1953-09-03, § 136 Abs 1 Nr 6 Fassung: 1953-09-03, § 202
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 29.03.1982; Aktenzeichen L 1 Ar 214/79) |
SG Marburg (Entscheidung vom 24.01.1979; Aktenzeichen S 5 Ar 44/77) |
Tatbestand
Die Klägerin betreibt eine Tapetenfabrik. In ihrer Anzeige über die Berechnung der Ausgleichsabgabe gemäß § 10 Abs 2 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) für das Jahr 1975 ging sie von 85 vH der zu zählenden Arbeitsplätze aus. Sie war der Auffassung, sie sei ein Saisonbetrieb gemäß § 7 Abs 2 SchwbG. Mit Bescheid vom 27. Juli 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 1976 vertrat die Beklagte eine gegenteilige Ansicht. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung dieser Bescheide verurteilt, den Betrieb der Klägerin als Saisonbetrieb anzuerkennen (Urteil vom 24. Juli 1979). Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Zur Begründung seines Urteils vom 29. März 1982, das ein Jahr später zur Geschäftsstelle gegeben und Anfang April 1983 den Beteiligten zugestellt worden ist, hat das Landessozialgericht (LSG) unter anderem folgendes ausgeführt:
Für die Entscheidung über die von der Beklagten erlassenen Verwaltungsakte seien die Sozialgerichte zuständig. Entgegen der nach seiner Entscheidung ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung (BSG vom 5. Oktober 1982 - 7 RAr 83/81 -) sei es der Auffassung, daß die Beklagte insoweit auch eine Regelungsbefugnis habe und entscheiden könne, ob die Klägerin einen Saisonbetrieb betreibe. Das Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten hinsichtlich der Verpflichtung der Klägerin zur Abgabe der Anzeige gemäß § 10 Abs 2 SchwbG und hinsichtlich der Folgen einer Verletzung dieser Verpflichtung, die hier streitbefangen sei, sei öffentlich-rechtlicher Natur. Es sei zwar richtig, daß nicht jedes öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnis den zuständigen Träger der öffentlichen Verwaltung ermächtige, Ansprüche hieraus durch Verwaltungsakt geltend zu machen. Die Befugnis zum Erlaß eines Verwaltungsaktes erfordere nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zusätzlich zum öffentlich-rechtlichen Verhältnis eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung oder eine Legitimation durch Überordnung der Verwaltungsbehörde gegenüber dem Adressaten. Eine derartige Ermächtigungsvorschrift sehe die höchstrichterliche Rechtsprechung (siehe Urteil vom 5. Oktober 1982) vorliegend nicht als erfüllt an, während der erkennende Senat in § 7 Abs 2 SchwbG eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage gesehen habe. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung geltend gemachten Gründe gegen eine Ermächtigungsgrundlage seien insoweit bedeutsam, als zum einen rechtsstaatliche Gründe strenge Anforderungen an eine Ermächtigungsgrundlage geböten und zum anderen auch Gründe einer Verwaltungsvereinfachung zu berücksichtigen seien. Dem stehe allerdings entgegen, daß die Beklagte gerade für die Frage der Beurteilung, ob ein Saisonbetrieb vorliege, besondere Sachkunde besitze, was sicherlich auch Grund für die Einbeziehung der Beklagten in den Entscheidungsprozeß gewesen sei. Insoweit sei auch zu berücksichtigen, daß letztlich gerade die Sozialgerichte in ihrer Zuständigkeit für Streitigkeiten aus dem Arbeitslosenversicherungsbereich besondere Bezüge und Erfahrungen zu diesem Regelungsbereich hätten, während nach anderer Auffassung dieser Fragenkreis letztlich von den Verwaltungsgerichten zu entscheiden wäre, wenn insoweit allein mit Außenwirkung der Landeswohlfahrtsverband tätig werde.
Die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Saisonbetrieb lägen vor, was ausgeführt wird.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 7 Abs 2 SchwbG und trägt dazu vor: Hinsichtlich der Frage, ob die Beklagte die Befugnis habe, die (richtige) Einstufung eines Betriebes als Saisonbetrieb durch Verwaltungsakt zu regeln, sei der vom LSG vertretenen Auffassung zuzustimmen. Der Ansicht des LSG, daß die Klägerin ein Saisonbetrieb sei, weil auch ein regelmäßig im Zweijahresrhythmus auftretender verstärkter Arbeitsanfall die Merkmale des Begriffes "Saisonbetrieb" im Sinne des § 7 Abs 2 SchwbG erfülle, könne dagegen nicht gefolgt werden.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. März 1982 und das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 24. Januar 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene stellt keine Anträge. Er hält die Beklagte für befugt, die beanstandete Regelung zu treffen. Im übrigen gibt er keine Äußerung ab.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung des LSG ist nicht mit Gründen versehen. Dies hat gem § 202 SGG, § 551 Nr 7 Zivilprozeßordnung (ZPO) zur Folge, daß sie so zu behandeln ist, als ob sie auf einer Verletzung des Gesetzes beruht. Es wird also unterstellt, daß die in § 551 Nr 7 ZPO angeführten Verfahrensmängel ursächlich für die Entscheidung des Berufungsgerichtes sind. Zwar hat die Beklagte diesen Verfahrensmangel nicht gerügt; darauf kommt es indes nicht an. Es handelt sich um einen Mangel, der von Amts wegen zu berücksichtigen ist; denn ein Urteil ohne Gründe ist nicht geeignet, die Grundlage für ein Revisionsverfahren abzugeben. Es versetzt das Revisionsgericht nicht in die Lage, das angefochtene Urteil zu überprüfen (BSG SozR 1750 § 551 Nr 9; BVerwGE 50, 278, 279).
Zwar hat das LSG, wie es die §§ 134, 136, 153 SGG vorschreiben, sein Urteil mit Tatbestand und Entscheidungsgründen versehen. Indes besteht in der Rechtsprechung Übereinstimmung dahin, daß ein Urteil auch dann unter § 551 Nr 7 ZPO fällt, wenn es tatsächlich mit Gründen versehen ist, die Gründe aber unvollständig sind und Anhaltspunkte dafür bestehen, daß sie das Beratungsergebnis nicht zuverlässig beurkunden. Nach der Rechtsprechung des BGH, des BVerwG, des 8a und des 10. Senats des BSG kann allein die verspätete Absetzung und Zustellung eines Urteils dem Fehlen von Gründen gleichstehen (BGHZ 7, 155; BGH LM § 551 Nr 7 ZPO Nr 3 und 6; BVerwGE 39, 51; 49, 61; 50, 278; BVerwG Buchholz 310 § 86 Abs 1 Nr 78; BSG SozR 1750 § 551 Nr 8; BSGE 51, 122 = SozR 1750 § 551 Nr 9). Dem hat allerdings das Bundesarbeitsgericht (BAG) unter Berufung auf den 6. Senat des BSG (SozR Nr 11 zu § 551 ZPO) zunächst widersprochen (BAG MDR 1981, 83; vgl auch BAGE 14, 313, 315 f). Inzwischen hat es sich diese Grundsätze jedoch zu eigen gemacht (BAGE 38, 55, 58). Der Senat hat es in seiner Entscheidung vom 18. März 1982 (SozR 1750 § 551 Nr 10) offengelassen, welcher Ansicht zu folgen ist, weil er der Auffassung war, eine Verzögerung der Zustellung des Urteils um 6 bis 7 Monate, wie sie in dem dort zu entscheidenden Falle vorlag, sei noch hinzunehmen, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, daß das Urteil das Beratungsergebnis nicht zuverlässig beurkundet hat. Es gebe keinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß die Beurkundungsfunktion der etwa 6 Monate nach der Verkündung niedergelegten Gründe eines Urteils generell nicht mehr gewährleistet sei.
Im vorliegenden Falle liegt zwischen der Verkündung des Urteils und der Absetzung der Gründe etwa 1 Jahr. Nach der Überzeugung des 10. Senats des BSG (SozR 1750 § 551 Nr 9) liegt in einem solchen Falle der absolute Revisionsgrund des § 551 Nr 7 ZPO immer vor. Demgegenüber lehnt es das BVerwG ab, eine vom Gesetzgeber nicht vorgesehene starre Frist für die Absetzung der Entscheidungsgründe festzusetzen. Es stellt vielmehr darauf ab, ob im Einzelfalle gewährleistet ist, daß das schriftliche Urteil die Gründe, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen waren, zuverlässig wiedergibt (BVerwG Buchholz 310 § 86 Abs 1 Nr 78; BVerwGE 49, 61; 50, 278; 60, 14; NJW 1980, 1865; vgl auch BGHZ 32, 17, 26 und BGHSt 21, 4). Welcher Ansicht zu folgen ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Es bestehen neben dem Zeitablauf von etwa 1 Jahr auch Anhaltspunkte dafür, daß die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils nicht zuverlässig das Beratungsergebnis wiedergeben. Das LSG nimmt auf den Seiten 8, 9 und 10 seines Urteils zu der Entscheidung des Senats vom 5. Oktober 1982 - 7 RAr 83/81 - Stellung. Diese Entscheidung kann aber nicht Gegenstand der Beratung vom 29. März 1982 gewesen sein.
Ist hiernach davon auszugehen, daß das angefochtene Urteil gem § 551 Nr 7 ZPO nicht mit Gründen versehen ist, dann wird kraft Gesetzes unterstellt, daß diese Verletzung des Gesetzes ursächlich für die Entscheidung des LSG ist. Damit ist dem Senat eine Entscheidung in der Sache verwehrt. Die Grundlage für eine revisionsgerichtliche Nachprüfung des Urteils des Berufungsgerichts ist nicht mehr vorhanden. Die Sache muß daher gem § 170 Abs 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen