Leitsatz (amtlich)
Der Anrechnung der Zeiten der Verschleppung iS des § 51 Abs 1 Nr 2 RKG (= § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO) als Ersatzzeiten steht nicht entgegen, daß die Versicherte während der Verschleppungszeit aus dem Arbeitsleben ausgeschieden ist und eine russische Rente erhalten hat (Bestätigung von BSG 1978-02-28 4 RJ 125/76 = BSGE 46, 54 = SozR 2200 § 1251 Nr 45 und von BSG 1979-06-28 4 RJ 61/78 = SozR 2200 § 1251 Nr 65).
Normenkette
RKG § 51 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1251 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1957-02-23; FRG § 19 Abs 3 Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 24.11.1981; Aktenzeichen L 6 KnV 777/81) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 23.01.1981; Aktenzeichen S 2 KnV 1690/80) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Anrechnung der Zeit vom 22. April 1964 bis zum 15. November 1977 als Ersatzzeit streitig.
Die 1920 in Marienburg (Odessagebiet/UdSSR) geborene Klägerin war dort Kolchosarbeiterin und Hausfrau. Nach Umsiedlung in den Warthegau wurde sie 1945 nach Berjosowsk/Sibirien verschleppt und mußte dort in der staatlichen Goldgrube unter und über Tage arbeiten. Am 22. April 1964 wurde sie auf Antrag aus dem Arbeitsverhältnis entlassen, war dann Hausfrau und erhielt ab 25. Mai 1965 eine russische Rente. Am 15. November 1977 wurde sie in die Bundesrepublik ausgewiesen. Sie ist als Heimkehrerin iS des § 1 Abs 3 des Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer (HkG) anerkannt und besitzt den Ausweis "A" für Vertriebene und Flüchtlinge sowie eine Bescheinigung nach § 10 Abs 4 des Häftlingshilfegesetzes.
Bei der der Klägerin durch Bescheid vom 15. April 1980 ab 1979 gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit berücksichtigte die Beklagte die Zeit von November 1945 bis Dezember 1955 als Ersatzzeit und die anschließende Zeit bis zum 21. April 1964 als Beitragszeit nach § 15 Fremdrentengesetz (FRG), rechnete aber die streitige Zeit nicht an und wies den dagegen erhobenen Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 8. August 1980).
Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat die Beklagte am 23. Januar 1981 in Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, die streitige Zeit als Ersatzzeit anzuerkennen. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 24. November 1981 zurückgewiesen. Es hat auf die Entscheidungen des 4. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Februar 1978 (BSGE 46, 54 = SozR 2200 § 1251 Nr 45) und vom 28. Juni 1979 (SozR 2200 § 1251 Nr 65) verwiesen. Danach komme es für die Anrechnung einer Ersatzzeit darauf an, ob die Klägerin ohne die Verschleppung während der streitigen Zeit in der Bundesrepublik noch Beiträge hätte entrichten können. Dies treffe selbst auf die Zeit des Bezugs der russischen Rente zu, da nach deutschem Recht die Entrichtung von Pflichtbeiträgen nur bei Bezug eines deutschen Altersruhegeldes ausgeschlossen sei. § 19 Abs 3 FRG untersage sinngemäß zwar die Anrechnung ausländischer Beiträge auf das Altersruhegeld, greife hier aber schon deshalb nicht ein, weil es an Beiträgen zur russischen Rentenversicherung während der streitigen Zeit fehle. Im übrigen könne diese Sondervorschrift des Fremdrentenrechts nicht auf die Regelung der Ersatzzeiten im allgemeinen Rentenrecht übertragen werden.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 51 Abs 1 Nr 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) und des § 19 Abs 3 FRG. Die streitige Zeit sei deshalb nicht als Ersatzzeit anzuerkennen, weil ab 22. April 1964 nicht mehr die Verschleppung, sondern die freiwillige Aufgabe der Beschäftigung und ab 25. Mai 1965 auch der Bezug der vom Lebensalter abhängigen russischen Rente eine Pflichtbeitragsleistung verhindert habe. An dieser Lebenswirklichkeit müsse sich die Ersatzzeitenanrechnung orientieren, zumal das im FRG verankerte Eingliederungsprinzip dafür spreche, daß die Klägerin auch in der Bundesrepublik ihre Beschäftigung freiwillig aufgegeben haben würde. Daher könne dem Urteil des 4. Senats des BSG vom 28. Juni 1979 (aaO), auf das sich das LSG stütze, nicht gefolgt werden. Auch die analoge Anwendung des § 19 Abs 3 FRG rechtfertige entgegen der Auffassung des LSG die Nichtanrechnung der Zeit des Rentenbezugs als Ersatzzeit, weil sonst eine während der Verschleppung zurückgelegte fremde Versicherungszeit unberücksichtigt bleibe, während eine Ersatzzeit aus der Verschleppung angerechnet werde.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom vom 24. November 1981 und das Urteil des SG Freiburg vom 23. Januar 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet und daher zurückzuweisen. Die Vorinstanzen sind zu Recht davon ausgegangen, daß die Klägerin für die Zeit vom 22. April 1964 bis 15. November 1977 den Tatbestand des § 51 Abs 1 Nr 2 RKG erfüllt, so daß diese Zeit von der Beklagten als Ersatzzeit anzuerkennen ist.
Ersatzzeiten sind nach § 51 Abs 1 Nr 2 RKG Zeiten der Internierung oder der Verschleppung, wenn der Versicherte Heimkehrer iS des § 1 HkG ist. Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen. Das LSG hat sowohl die Heimkehrereigenschaft der Klägerin als auch ihre Verschleppung festgestellt. Zwar sind die in der Heimkehrerbescheinigung enthaltenen Feststellungen für den Rentenversicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht bindend (vgl BSG in SozR 2200 § 1251 Nr 45, 65, 89); selbst die Beklagte ist aber in der Revisionsbegründung von deren Richtigkeit ausgegangen. Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Anrechnung der streitigen Zeit als Ersatzzeit nicht entgegen, daß die Klägerin in dieser Zeit aus persönlichen Gründen, nämlich wegen ihrer Tätigkeit als Hausfrau und wegen des Rentenbezuges, einer Erwerbstätigkeit nicht nachgegangen ist.
Der Sinn und Zweck der Ersatzzeitenregelung ist es, versicherungsrechtliche Nachteile auszugleichen, die dadurch entstanden sind, daß wegen der besonderen, im Gesetz enumerativ aufgeführten Tatbestände Versicherungsbeiträge nicht entrichtet werden konnten (vgl BSG in SozR Nr 42 zu § 1251 Reichsversicherungsordnung -RVO- mwN). Wer ohne sein Zutun und seinen Willen in eine Lage gebracht wurde, in der er keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung nach dem im Bundesgebiet geltenden Recht ausüben konnte, soll einen Ausgleich für den Beitragsausfall erhalten. Wenn der Berechtigte innerhalb von zwei Monaten nach der Entlassung im Bundesgebiet oder im Lande Berlin ständigen Aufenthalt genommen und damit die Heimkehrereigenschaft begründet hat (§ 1 Abs 1 HkG), unterstellt der Gesetzgeber, daß die Verschleppung eine Beitragsentrichtung in der Bundesrepublik verhindert hat. Er verzichtet dabei auf den Nachweis der Kausalität zwischen dem Ersatzzeittatbestand und fehlender Beitragsentrichtung (vgl BSGE 4, 186, 189; SozR Nr 4, 12, 21, 42, 44, 66, 69 zu § 1251 RVO) und erachtet es als ausreichend, wenn die Ersatzzeit mit der gesetzlichen Rentenversicherung durch vorherige Versicherung oder durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit innerhalb einer bestimmten Zeit danach (vgl § 50 Abs 3 RKG) zeitlich verbunden gewesen ist. Durch die Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs wollte der Gesetzgeber die Versicherten gegen die oft erheblichen Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des tatsächlichen und eines hypothetischen Versicherungsverlaufs absichern. Deshalb hat er mit der generalisierenden Regelung des § 51 Abs 1 Nr 2 RKG in Kauf genommen, daß im Einzelfall auch Ersatzzeiten mit wenig wahrscheinlicher Kausalität zwischen Verschleppung und unterbliebener Beitragsleistung anzurechnen sind.
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Wirksamkeit dieser Bestimmung greifen nicht durch, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 17, 1, 23 mwN; 28, 324, 355; 36, 237, 245) und ihm folgend das BSG (SozR 2200 § 1255 Nr 6 mwN, § 1244a Nr 21) wiederholt in bezug auf generalisierende und typisierende Regelungen im Bereich der Sozialversicherung entschieden haben.
Die Fiktion des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Ersatzzeittatbestand und Beitragsausfall hat das BSG nur dann als widerlegt angesehen, wenn dem Versicherten in der Zeit des Beitragsausfalls jede rechtliche Möglichkeit fehlte, wirksam Beiträge zu entrichten (SozR 2200 § 1251 Nr 2, 6 jeweils mwN). Das ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes, folgt aber aus dem Wesen der Ersatzzeit. Was rechtlich nicht als Beitragszeit in Betracht kam, kann nicht durch eine Ersatzzeit ausgeglichen werden; der rechtlich bedingte Beitragsausfall wäre nämlich auch ohne den Ersatzzeittatbestand eingetreten.
In dem von der Beklagten beanstandeten Urteil vom 28. Juni 1979 (aaO) ist der 4. Senat des BSG zu dem Ergebnis gelangt, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen Verschleppung und fehlendem Beitragsausfall durch Hinderungsgründe tatsächlicher Art nicht ausgeschlossen wird. Dem stimmt der erkennende Senat nach eigener Prüfung zu. Er tritt ausdrücklich auch der daraus vom 4. Senat gezogenen Folgerung bei, daß Zeiten der Verschleppung selbst dann als Ersatzzeiten anzurechnen sind, wenn der Versicherte während der Verschleppungszeit Beitrags- und Beschäftigungszeiten nach §§ 15, 16 FRG hätte zurücklegen können, tatsächlich aber nicht zurückgelegt hat. Mit dem 4. Senat ist auch der erkennende Senat der Auffassung, daß der Gesetzgeber bei Schaffung des FRG vom Grundsatz der Subsidiarität der Ersatzzeit zur Beitragszeit ausgegangen ist (vgl Urteil des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1251 Nr 89). Er hat deshalb in Kauf genommen, daß einem Verschleppten, der gleichzeitig Vertriebener ist und während der Verschleppungszeit entweder Beitragszeiten bei einem nichtdeutschen Träger zurückgelegt hat oder in einer die Versicherungspflicht nach Bundesrecht begründenden Weise beschäftigt war, diese Zeiten nach § 15 bzw § 16 FRG angerechnet werden, während für denjenigen, der nicht einer solchen Beschäftigung nachgegangen ist, eine Ersatzzeit zur Anrechnung kommt. Dafür spricht insbesondere auch, daß § 51 RKG nach Inkrafttreten des FRG schon mehrfach geändert worden ist, nicht aber die generalisierende Regelung in Abs 1 Nr 2 der Vorschrift.
Wie die Vorinstanzen zutreffend erkannt haben, war der Klägerin während ihres Zwangsaufenthalts in Berjosowsk/Sibirien nicht nach dem im Bundesgebiet geltenden Recht eine wirksame Beitragsleistung unmöglich. Für die Zeit vom 23. April 1964 (Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses aus persönlichen Gründen) bis zum 25. Mai 1965 (Bezugsbeginn der russischen Rente) hätte die Klägerin in der Bundesrepublik bei Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung wirksam Pflichtbeiträge entrichten können. Ob sie darüber hinaus auch noch freiwillige Beiträge an den Rentenversicherungsträger hätte leisten können (vgl hierzu SozR Nr 61 zu § 1251), kann deshalb dahinstehen. Da sie wegen Fortdauer der Verschleppung keine Beiträge entrichten konnte, ist ihr Beitragsausfall nach dem Willen des Gesetzgebers durch eine Ersatzzeit auszugleichen.
Mit dem Einwand, die theoretische Versicherungsmöglichkeit müsse hier außer Betracht bleiben, weil die Klägerin als Hausfrau nach allgemeiner Lebenserfahrung weder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen noch sich freiwillig weiterversichert hätte, kann die Beklagte nicht durchdringen. Das BSG hat zwar die theoretische Versicherungsmöglichkeit für unbeachtlich gehalten, wenn sie äußerst selten, dh praktisch nie oder so gut wie nie, genutzt wird. Dies hat es zur Möglichkeit der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder zum Eintritt in die Selbstversicherung bei einem in der fraglichen Zeit noch volksschulpflichtigen bzw noch nicht schulpflichtigen Vertriebenen entschieden (vgl SozR Nrn 44 und 49 zu § 1251 RVO). Damit ist der vorliegende Fall aber nicht vergleichbar. Bei der Klägerin liegt nämlich trotz gewisser Bedenken die Möglichkeit einer Pflichtversicherung, zB durch Teilzeitarbeit, nicht so fern, daß sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen wäre und deshalb außer Betracht bleiben müßte.
Auch während des Bezuges der russischen Rente (vom 25. Mai 1965 bis zum 15. November 1977) war es der Klägerin rechtlich nicht unmöglich, nach dem in der Bundesrepublik geltenden Recht wirksam Beiträge zu entrichten. Sie hätte zu dieser Zeit nur hier leben müssen. Nach § 31 RKG - diese am 1. März 1957 in Kraft getretene Vorschrift wäre in der in Betracht kommenden Zeit einschlägig gewesen - waren von der Pflichtbeitragsentrichtung nur Personen ausgeschlossen, die ein Altersruhegeld aus einer deutschen Rentenversicherung erhielten. Der Bezug eines Altersruhegeldes nach dem Recht eines ausländischen Staates bewirkte die Versicherungsfreiheit nur dann, wenn dies durch zwischenstaatliche Rechtsvorschriften ausdrücklich bestimmt war (vgl BSGE 29, 268, 269 = SozR Nr 9 zu § 1233 RVO). Im Verhältnis zur UdSSR fehlt es indes an einer derartigen Regelung. Das Versicherungsverhältnis der Klägerin galt deshalb nicht als durch den Bezug der russischen Rente abgeschlossen; eine "Sperrwirkung" (vgl BSGE 18, 212; 29, 268, 269) in bezug auf die Entrichtung von Pflichtbeiträgen trat nicht ein.
Entgegen der Auffassung der Beklagten steht auch § 19 Abs 3 FRG der Anrechnung der Zeit des Bezuges der russischen Rente als Ersatzzeit nicht entgegen. Dies hat mit überzeugenden Gründen ebenfalls der 4. Senat des BSG im Urteil vom 28. Februar 1978 (aaO) entschieden. Der erkennende Senat schließt sich dieser Entscheidung an und nimmt auf sie Bezug. Danach kommt eine analoge Anwendung des Beitragszeiten erfassenden § 19 Abs 3 FRG auf Rentenbezugszeiten nicht in Betracht, weil die Anrechnung von Ersatzzeiten im Rentenversicherungsrecht geregelt ist und es im FRG deshalb an einer Regelungslücke fehlt. Die Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, daß Personen, die während des Bezugs einer fremden Altersrente nicht gearbeitet haben, Ersatzzeiten angerechnet werden, hingegen bei denjenigen, die während dieses Rentenbezugs weiter gearbeitet haben, nach § 19 Abs 3 FRG Beitragszeiten nicht anrechenbar sind. Auch hier resultiert das unterschiedliche Ergebnis aus dem das Recht der Rentenversicherung beherrschenden Grundsatz des Vorrangs der Beitragszeiten vor Ersatzzeiten, von dem die Vorschriften des FRG keine Ausnahme machen (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 16. Oktober 1981 aaO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen