Leitsatz (amtlich)
Eine gesetzlich ausgeschlossene Berufung wird nicht nach § 150 Nr 2 SGG durch die Rüge eines Verfahrensmangels statthaft, den der Kammervorsitzende des Sozialgerichts willkürlich herbeigeführt hat.
Orientierungssatz
1. Eine objektive Willkür liegt nicht nur im Fall der willkürlichen Nichtzulassung der Berufung, sondern stets dann vor, wenn das Urteil insgesamt auf der willkürlichen Verletzung von Verfahrensnormen beruht. Deshalb ist auch die willkürliche Zulassung der Berufung nicht anders zu behandeln als die willkürliche Nichtzulassung.
2. Die Realisierung einer vom Gericht willkürlich zu Gunsten des Beteiligten herbeigeführten verfahrensrechtlichen Position kann gegen Treu und Glauben verstoßen. In einem solchen Fall kann deshalb die Berufung auch nicht auf den vorsätzlich herbeigeführten Verfahrensmangel - hier den Mangel der Verletzung der Vorschrift des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG - gestützt werden. Vielmehr führt die gebotene Abwägung zwischen der Rechtsstaatlichkeit des gerichtlichen Verfahrens sowie seiner Vereinbarkeit mit den Grundprinzipien des Verfassungsrechts einerseits und dem Schutz der formalen Rechtsposition des Rechtsmittelführers andererseits dazu, es eher hinzunehmen, daß ein nicht mit einer Begründung versehenes, also an einem wesentlichen Mangel iS des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG leidendes Urteil, gegen das die Berufung grundsätzlich ausgeschlossen ist, rechtskräftig wird, als daß der ausgeschlossene Rechtsmittelzug vor einem Richter erster Instanz willkürlich durch die Herbeiführung eines Verfahrensmangels eröffnet wird.
Normenkette
SGG § 150 Nr 2, § 136 Abs 1 Nr 6, § 202; ZPO § 551 Nr 7; BKGG § 27 Abs 2; SGG § 144
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte, die dem Kläger ab Februar 1985 Kindergeld in gesetzlicher Höhe für drei Kinder zahlt, das Kindergeld auch für die Zeit von Januar 1984 bis Januar 1985 zu gewähren hatte.
Die Beklagte hatte den Kläger im Januar 1984 durch Formblatt aufgefordert, das Fortbestehen der Anspruchsvoraussetzungen für das Kindergeld nachzuweisen; zugleich hatte sie ihm für den Fall der Nichterbringung der geforderten Nachweise angedroht, das Kindergeld gemäß § 66 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) zu entziehen. Da der Kläger dieser - ohne Fristsetzung erfolgten - Aufforderung bis zum 22. Februar 1984 nicht nachgekommen war, entzog die Beklagte dem Kläger mit Bescheid von diesem Tage das Kindergeld ab Januar 1984. Am 7. August 1985 reichte der Kläger einen Fragebogen zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen auf Kindergeld sowie die von der Beklagten im Januar 1984 geforderten Nachweise ein. Die Beklagte gewährte dem Kläger daraufhin mit Bescheid vom 30. August 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Oktober 1984 unter Berufung auf § 9 Abs 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) rückwirkend Kindergeld ab Februar 1985.
Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat die Klage durch Urteil vom 30. Dezember 1985 abgewiesen. In den Urteilsgründen heißt es nur, die Klageabweisung sei infolge fehlerhafter Rechtsanwendung durch die Kammer zu Unrecht erfolgt. Die Kammer habe ferner übersehen, daß in dem Rechtsstreit eine - in den Urteilsgründen im einzelnen dargelegte - Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung entschieden worden sei und deshalb die Berufung zuzulassen gewesen wäre. Um die Herbeiführung eines der materiellen Rechtslage entsprechenden Verfahrensergebnisses zu ermöglichen, werde davon abgesehen, die klageabweisende Entscheidung mit tragenden Gründen zu versehen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das SG-Urteil und die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt: Die Berufung sei wegen eines Verfahrensmangels statthaft, weil das SG sein Urteil nicht mit einer den Urteilsausspruch tragenden Begründung versehen habe. Dabei sei unerheblich, daß der Vorsitzende der Kammer die Begründung der Entscheidung absichtlich unterlassen hat; wenn schon die versehentliche Verletzung von Verfahrensvorschriften zur Zulässigkeit der Berufung führe, so müsse dies um so eher für die vorsätzliche Herbeiführung eines Verfahrensmangels gelten. Die angefochtenen Bescheide seien auch rechtswidrig, weil die Beklagte die gemäß § 67 SGB I gebotene Ermessensprüfung unterlassen habe.
Die Beklagte macht zur Begründung ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision in erster Linie geltend, das LSG habe die Berufung des Klägers als unzulässig verwerfen müssen, weil der Kläger die Berufung nicht auf einen willkürlich herbeigeführten Verfahrensmangel habe stützen dürfen. Zudem habe das LSG auch den Normgehalt des § 67 SGB I fehlerhaft abgegrenzt.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Juni 1986 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 30. Dezember 1985 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.
Die Revision der Beklagten ist begründet, die Berufung des Klägers gegen das SG-Urteil ist als unzulässig zu verwerfen.
Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits in dem Urteil vom 26. Juli 1979 - 8b RKg 11/78 - (SozR 1500 § 150 Nr 18) entschieden hat, ist auch bei einer zugelassenen Revision, bevor über die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen des streitigen Anspruchs entschieden werden kann, von Amts wegen zu prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt. Zu den vom Revisionsgericht zu prüfenden unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen gehört auch die Zulässigkeit der Berufung (erkennender Senat aaO mwN). Entscheidet nämlich das LSG über eine Berufung sachlich-rechtlich, obwohl es das Rechtsmittel durch Prozeßurteil als unzulässig hätte verwerfen müssen, so ist dies ein wesentlicher Verfahrensmangel, der die Grundlagen des weiteren Verfahrens erschüttert (erkennender Senat aaO mwN).
Das LSG hätte über die Berufung nicht sachlich-rechtlich entscheiden dürfen, sondern das Rechtsmittel durch Prozeßurteil als unzulässig verwerfen müssen, weil die Berufung gegen das Urteil des SG gemäß § 27 Abs 2 BKGG ausgeschlossen war.
Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß das erstinstanzliche Urteil nicht mit Gründen versehen ist, so daß es deshalb auch an einem sogenannten absoluten Verfahrensmangel iS des § 202 SGG iVm § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung (ZPO) leidet. Denn Entscheidungsgründe iS des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG sind nur solche Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, RdNr 7 zu § 136). Derartige Gründe enthält das SG-Urteil jedoch nicht. Der Vorsitzende hat nicht die - nach seiner Auffassung in mehrfacher Hinsicht fehlerhafte - Entscheidung des Gerichts begründet, sondern nur die Gründe dafür dargelegt, weshalb nach seiner Meinung die materiell-rechtliche Entscheidung und die Nichtzulassung der Berufung im Urteil fehlerhaft waren. Da der Vorsitzende der entscheidenden Kammer ferner in den Urteilsgründen ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß er von der Darlegung der Urteilsgründe absehe, um durch die Herbeiführung eines solchen Verfahrensmangels den Berufungsrechtszug zu eröffnen, ist die Urteilsbegründung auch willkürlich unterlassen worden. Aufgabe des Kammervorsitzenden ist es bei der Urteilsbegründung allein, die Gründe der von der Kammer beratenen und verkündeten Entscheidung zu formulieren. Seine Aufgabe ist es hingegen nicht, verkündete Urteile nachträglich auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Insbesondere ist er nicht befugt, Fehler, die der Kammer unterlaufen sind, nach der Verkündung des Urteils zu korrigieren. Einem solchen Verfahren stünde schon der in § 12 Abs 1 SGG geregelte gerichtsverfassungsrechtliche Grundsatz entgegen, daß eine Kammer grundsätzlich in der Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig wird (vgl hierzu auch den Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 18. November 1980 - GS 3/79 -, BSGE 51, 23 = SozR 1500 § 161 Nr 27). Daran würde nichts ändern, wenn der Vorsitzende - was das LSG für den zu entscheidenden Fall allerdings nicht geprüft hat - sich zuvor der Zustimmung der ehrenamtlichen Richter versichert hätte. Denn die Korrektur von Fehlern in verkündeten erstinstanzlichen Urteilen obliegt - soweit die Möglichkeit hierfür überhaupt eröffnet worden ist - allein dem Rechtsmittelgericht im Rechtsmittelverfahren.
Grundsätzlich ausgeschlossen ist die Änderung der vom SG getroffenen Entscheidung über die Zulassung der Berufung. Insbesondere ist die Korrektur einer fehlerhaften Nichtzulassung der Berufung nicht statthaft (BSG SozR 1500 § 150 Nr 1), denn SG und LSG sind an die Nichtzulassung der Berufung gebunden (BSG SozR 1500 § 150 Nr 27 mwN). Eine Ausnahme, der sowohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 57, 39; 58, 161; 59, 98; 62, 198) als auch der 9a-Senat des BSG (SozR 1500 § 150 Nr 27) Verfassungsrang beigemessen haben, bildet der Fall der objektiven Willkür des Gerichts. Im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Frage, welche Rechtsfolgen sich ergeben, wenn das SG die Berufung willkürlich nicht zuläßt, hat bereits der 9a-Senat des BSG (aaO) auf den allgemein gültigen Grundsatz abgehoben, daß die Gerichte sich auch bei der Handhabung der Prozeßgesetze am Grundgesetz zu orientieren haben und daß deshalb ihre Entscheidungen auch verfahrensrechtlich nicht objektiv willkürlich sein dürfen. Willkürlich getroffene Entscheidungen sind unbeachtlich. Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG hat das SG hier jedoch die Berufung nicht willkürlich, sondern allein deshalb nicht zugelassen, weil es - jedenfalls nach den vom Kammervorsitzenden im Urteil angegebenen Gründen - davon ausgegangen war, daß die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hatte.
Eine objektive Willkür liegt aber nicht nur im Fall der willkürlichen Nichtzulassung der Berufung, sondern stets dann vor, wenn das Urteil insgesamt auf der willkürlichen Verletzung von Verfahrensnormen beruht. Deshalb ist auch die willkürliche Zulassung der Berufung nicht anders zu behandeln als die willkürliche Nichtzulassung. Zwar hat der Gesetzgeber mit der Ausschließung der Berufung in den Fällen der §§ 144 ff SGG, § 27 Abs 2 BKGG in erster Linie die Entlastung der Gerichte von sogenannten Bagatellfällen erstrebt (BSGE 46, 167, 169). Jedoch führt die Beschränkung der Zulässigkeit eines Rechtsmittels neben dieser Rechtswirkung zugleich auch zu einer Regelung des verfahrensrechtlichen Interesses der Verfahrensbeteiligten bezüglich der verfügbaren Rechtsmittel. Wird die Berufung zugelassen, so wird nicht nur der Berufungsrechtszug ausnahmsweise eröffnet, sondern auch der Prozeßerfolg des in erster Instanz obsiegenden Beteiligten zunächst in Frage gestellt.
Im Hinblick auf diese Rechtswirkungen der Entscheidung über die Zulassung oder die Nichtzulassung des Rechtsmittels der Berufung macht es jedenfalls dann keinen Unterschied, ob die objektive Willkür den Ausspruch über die Zulassungsentscheidung selbst oder die weiteren Teile des Urteils betrifft, wenn ein willkürlich herbeigeführter Verfahrensmangel zwangsläufig dieselbe Rechtsfolge hat, welche die willkürliche Entscheidung selbst haben würde. Das Fehlen der Urteilsgründe ist, wie bereits erwähnt, ein schwerwiegender Verfahrensmangel, der - sofern eine entsprechende Rüge erhoben wird - zwangsläufig zur Zulässigkeit der Berufung führt. Dabei macht es entgegen der vom LSG vertretenen Ansicht sehr wohl einen erheblichen Unterschied, ob ein solcher Mangel ungewollt oder absichtlich und zudem im Interesse der Begünstigung eines Verfahrensbeteiligten herbeigeführt wird. Das - vom Vorsitzenden der SG-Kammer in den Urteilsgründen auch ausdrücklich herausgestellte - alleinige Ziel der von ihm absichtlich unterlassenen Niederlegung der Entscheidungsgründe war es, für den Kläger die Voraussetzungen einer gemäß § 150 Nr 2 SGG zulässigen Berufung zu schaffen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob ein derart vorsätzlich rechtswidrig herbeigeführter Verfahrensmangel unbeachtlich oder nur seine Geltendmachung durch den hierdurch Begünstigten ausgeschlossen ist, weil auch die Realisierung einer vom Gericht willkürlich zu Gunsten des Beteiligten herbeigeführten verfahrensrechtlichen Position gegen Treu und Glauben verstoßen kann (vgl dazu für den Zivilprozeß Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 43. Aufl, Einleitung III 6 Aa mwN). In einem solchen Fall kann deshalb die Berufung auch nicht auf den vorsätzlich herbeigeführten Verfahrensmangel - hier den Mangel der Verletzung der Vorschrift des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG - gestützt werden. Vielmehr führt die gebotene Abwägung zwischen der Rechtsstaatlichkeit des gerichtlichen Verfahrens sowie seiner Vereinbarkeit mit den Grundprinzipien des Verfassungsrechts einerseits und dem Schutz der formalen Rechtsposition des Rechtsmittelführers andererseits dazu, es eher hinzunehmen, daß ein nicht mit einer Begründung versehenes, also an einem wesentlichen Mangel iS des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG leidendes Urteil, gegen das die Berufung grundsätzlich ausgeschlossen ist, rechtskräftig wird, als daß der ausgeschlossene Rechtsmittelzug vor einem Richter erster Instanz willkürlich durch die Herbeiführung eines Verfahrensmangels eröffnet wird. Dementsprechend ist dem LSG nicht nur die sonst auf Grund einer gemäß § 150 Nr 2 SGG zulässigen Berufung in Betracht kommende - vom LSG hier auch getroffene - eigene Sachentscheidung verwehrt, sondern auch die Zurückverweisung der Sache wegen des Mangels der fehlenden Urteilsbegründung (§ 159 Abs 1 Nr 2 SGG). Die Zurückverweisung der Sache wegen eines Verfahrensmangels, die im richterlichen Ermessen des LSG steht, ist nur nach Aufhebung des SG-Urteils möglich (§ 159 Abs 1 1. Halbsatz SGG). Mit der Aufhebung des SG-Urteils würde dem Rechtsmittelführer der erstinstanzliche Rechtszug in vollem Umfange neu eröffnet werden. Damit würde die mit der willkürlichen Unterlassung der Urteilsbegründung angestrebte Rechtsfolge zwar nur in der Wiedereröffnung des anderenfalls verbrauchten Rechtszuges erster Instanz bestehen. Jedoch ist auch die Erschöpfung eines grundsätzlich nur einmal zur Verfügung stehenden Rechtszuges Ziel der Berufungsausschließungsgründe der §§ 144 ff SGG, § 27 BKGG.
Das willkürlich eröffnete Rechtsmittel der Berufung ist deshalb grundsätzlich ausgeschlossen. Es kann dahingestellt bleiben, ob etwas anderes zu gelten hat, wenn es sich um Verfahrensmängel handelt, die nur anhand der Urteilsgründe gerügt werden können, zB Verstöße gegen die in § 128 SGG normierten Verfahrensvorschriften. Denn hier sind im erstinstanzlichen Verfahren neue Tatsachen nicht vorgetragen oder festgestellt worden; insbesondere hatte eine Beweiswürdigung nach einer Beweisaufnahme nicht zu erfolgen. Andere Verfahrensmängel des erstinstanzlichen Verfahrens hat der Kläger jedoch nicht gerügt. Sein Rechtsmittel war deshalb unzulässig und gemäß § 158 Abs 1 SGG zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen