Entscheidungsstichwort (Thema)

Entziehung einer Berufsunfähigkeitsrente. Wirkung der rechtskräftigen Entscheidung eines Oberversicherungsamts

 

Orientierungssatz

Eine Berufsunfähigkeitsrente darf aufgrund der §§ 42 AVG, 1293 Abs 2 RVO iVm SVD 3 nicht entzogen werden, wenn eine rechtskräftige Verurteilung des Versicherungsträgers zur Rentenzahlung vorliegt. Die Ermächtigung in § 1293 Abs 2 RVO beschränkt sich auf die Nachprüfung bindender Bescheide des Versicherungsträgers, sie bedeutet aber nicht, daß die Rechtskraft gerichtlicher Urteile von den verurteilten Versicherungsträgern aufgehoben werden kann.

 

Normenkette

AVG § 42 Fassung: 1934-05-17; RVO § 1293 Abs. 2 Fassung: 1934-05-17; SVD 3 Fassung: 1945-10-14

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 27.05.1959)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 21.11.1955)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Mai 1959 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten um die Weitergewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) R gewährte in Wahrnehmung der Aufgaben der Rentenversicherung der Angestellten dem Kläger Ruhegeld wegen vorübergehender Berufsunfähigkeit zunächst bis zum 30. Juni 1948 (Bescheide vom 28.5.1947 und 26.10.1948). Auf die vom Kläger eingelegte Berufung hin verurteilte das Oberversicherungsamt (OVA.) D die LVA., dem Kläger Ruhegeld wegen dauernder Berufsunfähigkeit zu gewähren (Entscheidung vom 28.6.1949). Diese Entscheidung wurde rechtskräftig, weil die von der LVA. eingelegte Revision alten Rechts von der inzwischen in den Rechtsstreit eingetretenen Beklagten nicht weiter verfolgt wurde (§ 214 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Unter Bezugnahme auf §§ 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) a.F., 1293 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. in Verbindung mit der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 entzog die Beklagte dem Kläger von Juni 1954 an das Ruhegeld mit der Begründung, er sei nicht berufsunfähig (Bescheid vom 26.4.1954). Das Sozialgericht (SG.) Düsseldorf wies die Klage gegen diesen Bescheid ab (Urteil vom 21.11.1955), das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen die Berufung zurück: Es könne dahingestellt bleiben, ob zur Zeit der Entziehung eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne der §§ 42 AVG a.F., 1293 Abs. 1 RVO a.F. vorgelegen habe, auf jeden Fall sei das Ruhegeld nach §§ 42 AVG a.F., 1293 Abs. 2 RVO a.F. zu entziehen gewesen, weil der Kläger mindestens seit der Zeit der Entziehung berufsfähig sei; § 1293 Abs. 2 RVO a.F. sei nach der SVD Nr. 3 anzuwenden; mit der Anwendung dieser Vorschriften werde nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes verstoßen; das Recht und die Pflicht des Versicherungsträgers, eine Rente auf Grund des § 1293 Abs. 2 RVO a.F. zu entziehen, bestehe auch dann, wenn ihre Bewilligung oder Weiterbewilligung auf der Entscheidung eines OVA. beruhe; die materielle Rechtskraft des Urteils werde durch die genannten Vorschriften entsprechend eingeschränkt. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 27.5.1959).

Der Kläger legte gegen das ihm am 18. August 1959 zugestellte Urteil des LSG. am 15. September 1959 Revision ein und beantragte, die Urteile der Vorinstanzen sowie den Entziehungsbescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verpflichten, ihm die Rente auch über Mai 1954 hinaus zu zahlen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Er begründete die Revision - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 19. November 1959 - am 17. November 1959 mit einer Rüge der §§ 103, 106, 128 SGG, §§ 27 AVG a.F. und 1293 Abs. 2 RVO a.F.; seiner Meinung nach hätte das Ruhegeld nicht entzogen werden dürfen, weil es ihm durch ein Urteil des OVA. zugesprochen worden sei; hinsichtlich der Frage, ob er berufsfähig oder berufsunfähig sei, hätte es weiterer Aufklärungen bedurft; auch sei der Begriff der Unzumutbarkeit verkannt worden.

Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Nach § 42 AVG a.F. in Verbindung mit § 1293 Abs. 2 RVO a.F. sowie der SVD Nr. 3 war 1954 in dem Gebiet der ehemals britischen Zone die Entziehung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten zulässig, wenn eine erneute Prüfung ergab, daß dieser nicht berufsunfähig war (BSG. 2 S. 188). Eine Rente durfte auf Grund dieser Vorschriften jedoch dann nicht entzogen werden, wenn eine rechtskräftige Verurteilung des Versicherungsträgers zur Rentenzahlung vorlag. Die Ermächtigung in § 1293 Abs. 2 RVO a.F. beschränkte sich auf die Nachprüfung bindender Bescheide des Versicherungsträgers, sie bedeutete aber nicht, daß die Rechtskraft gerichtlicher Urteile von den verurteilten Versicherungsträgern aufgehoben werden konnte. Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat dies aus der Entstehungsgeschichte sowie dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift geschlossen und hält ein anderes Ergebnis mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltentrennung nicht für vereinbar (BSG. 11 S. 231). Dieser Entscheidung schließt sich der erkennende Senat im Ergebnis an. § 1293 Abs. 2 RVO a.F. bietet - jedenfalls insoweit, als er auf Grund der SVD Nr. 3 gilt - keine Handhabe zur Durchbrechung der Rechtskraft. Das dem Kläger gewährte Ruhegeld beruht auf der rechtskräftigen Entscheidung eines OVA. Die Entziehung durfte deshalb nicht auf § 1293 Abs. 2 RVO a.F. gestützt werden. Die Revision ist daher begründet.

§ 42 AVG a.F. in Verbindung mit § 1293 Abs. 1 RVO a.F. erlaubte eine Rentenentziehung, wenn der zum Bezug einer Rente wegen Berufsunfähigkeit Berechtigte infolge einer wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig war. Das LSG. hat die Frage, ob eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen des Klägers eingetreten war, dahingestellt sein lassen und durfte das von seiner Rechtsauffassung her auch. Es hat folgerichtig keine Feststellungen in dieser Richtung getroffen. Der erkennende Senat kann den Rechtsstreit ohne diese Feststellungen jedoch nicht abschließend beurteilen. Eine erneute Verhandlung vor dem LSG. erscheint erforderlich (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dieses Gericht wird auch über die Kosten des Verfahrens mit zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325834

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge