Leitsatz (amtlich)
Ist im sozialgerichtlichen Verfahren die Verhängung einer Sperrfrist AVAVG (§§ 90 ff.aF) angefochten, so betrifft die Berufung auch dann nicht die Höhe der Leistung, wenn während des Laufs der Sperrfrist eine Unterstützung gewährt wird, die auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche beschränkt ist (MRV 117 Anhang § 5).
Normenkette
SGG § 147 Fassung: 1953-09-03; AVAVG § 90; AVAVG 1927 § 90; AVAVG § 92; AVAVG 1927 § 92; AVAVG § 93; AVAVG 1927 § 93; MRV BrZ 117 Anh 1 § 5
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. September 1957 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I Der 1898 geborene Kläger ist gelernter Tischler. Seit Juni 1948 bezog er mit Unterbrechungen Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Vom Arbeitsamt V war bereits im Oktober 1953 gegen ihn wegen unberechtigter Ablehnung eines Arbeitsangebots eine Sperrfrist von vier Wochen verhängt worden, die später auf seinen Einspruch hin auf zwei Wochen ermäßigt wurde. Im Juni 1955 bot das Arbeitsamt dem Kläger einen Arbeitsplatz als Tiefbauarbeiter (Notstandsarbeiter) bei der Firma Gebrüder H in B an, die Entwässerungsgräben bauen ließ. Der Arbeitsamtsarzt hatte ihn auf Grund ärztlicher Untersuchung vom 11. Mai 1955 als "einsatzbereit" für derartige Arbeiten befunden. Mit der Begründung, bei seinem vorgerückten Alter könne er diese Tätigkeit körperlich nicht ausführen, stand der Kläger von einer Arbeitsaufnahme ab. Daraufhin verhängte das Arbeitsamt mit Bescheid vom 11. Juni 1955 eine Sperrfrist von sechs Wochen gegen den Kläger. In demselben Bescheid bewilligte es ihm zugleich für die Dauer der Sperrfrist (1.6. bis 11.7.1955) statt der vollen Unterstützung von 28,80 DM (zuständiger Alfu-Satz) "eine auf das zum Lebensunterhalt unerläßliche Maß beschränkte Unterstützung" von 9,90 DM wöchentlich. Der Widerspruch des Klägers hiergegen wurde mit Bescheid der Widerspruchsstelle beim Arbeitsamt V vom 18. Juli 1955 zurückgewiesen.
Die vom Kläger mit dem Antrag auf Aufhebung der Bescheide vom 11. Juni und 18. Juli 1955 erhobene Klage wies das Sozialgericht Oldenburg durch Urteil vom 24. Januar 1957 ab. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war es der Auffassung, daß der Kläger ohne berechtigten Grund die Aufnahme der angebotenen Arbeit verweigert habe; er habe sich von der Baustelle entfernt, ohne einen Arbeitsversuch gemacht zu haben, obwohl der Schachtmeister der Unternehmerfirma die Arbeiten auf die einzelnen Notstandsarbeiter nach ihrer Leistungsfähigkeit verteilte. Auch der Kläger habe dort mit leichten bis mittelschweren Arbeiten beschäftigt werden können, deren Zumutbarkeit die vom Gericht befragten ärztlichen Sachverständigen uneingeschränkt bejaht hätten. Die Rechtsmittelbelehrung des sozialgerichtlichen Urteils wurde von dem Satz eingeleitet: "Gegen dieses Urteil ist gemäß §§ 143, 147 des Sozialgerichtsgesetzes die Berufung an das Landessozialgericht in Celle gegeben (Urteil des Bundessozialgerichts vom 21.9.1956 - RAr 104/54)". Richtig müßte dieses Aktenzeichen lauten: 7 RAr 104/55.
II Der Kläger legte Berufung ein. Seinen Gesundheitsverhältnissen nach habe er die angebotene Arbeit nicht leisten können. Er habe nicht die Arbeitsaufnahme verweigert, sondern der Schachtmeister der Baufirma habe ihn nicht für tauglich gehalten und ihm die Zuweisungskarte des Arbeitsamts mit dem Vermerk "für die Arbeit nicht geeignet" zurückgegeben. Mit Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. September 1957 wurde die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts verworfen. Mit der Klage gegen den Sperrfristbescheid werde tatsächlich der Anspruch auf die zuständige Unterstützung für die Dauer der Sperrfrist geltend gemacht, und somit sei ein Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von weniger als 13 Wochen in Streit. Schon aus diesem Grunde sei die Berufung nicht zulässig. Sie sei ferner ausgeschlossen, weil die Höhe der Leistung betroffen werde, insofern statt der gekürzten Unterstützung die ungekürzte Alfu begehrt werde. Wesentliche Verfahrensmängel habe der Kläger nicht gerügt; sie lägen offensichtlich auch nicht vor.
Revision wurde zugelassen.
Das Landessozialgericht begründete die Zulassung damit, daß es von dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 21. September 1956 (7 RAr 104/55) abweiche.
III Der Kläger legte gegen das Urteil, das ihm am 12. Oktober 1957 zugestellt wurde, am 26. Oktober 1957 Revision ein und beantragte,
die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Gleichzeitig begründete der Kläger die Revision: Das Landessozialgericht habe zu Unrecht die Zulässigkeit der Berufung verneint. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts werde mit Klage gegen eine Sperrfristverfügung nicht der Anspruch auf wiederkehrende Leistungen verfolgt; deswegen sei dieses Rechtsmittel insoweit statthaft. Es handele sich aber auch nicht um einen Höhenstreit. Die statt der normalen Alfu dem Kläger gewährte "Notunterstützung" habe ausschließen sollen, daß er im Wege der Fürsorgeunterstützung etwa in den Genuß eines ähnlichen Unterstützungssatzes gelange, wie er ihm durch Auferlegung der Sperrfrist entzogen worden sei. Dies stelle in Wirklichkeit eine "Strafmaßnahme" dar und falle somit unter den eigentlichen Streit über die Berechtigung der Sperrfrist. Im übrigen sei bisher nicht geprüft worden, ob die Beklagte hinsichtlich der Dauer der Sperrfrist den vom Gesetz eingeräumten Ermessensspielraum richtig angewandt habe. Wenngleich früher schon einmal gegen den Kläger eine Sperrfrist verhängt worden sei, so müsse seine Handlungsweise im vorliegenden Falle doch milder beurteilt werden, da er sich wegen des Verhaltens des Schachtmeisters der Baufirma im Glauben befunden habe, er könne sich ohne Schaden vom Arbeitsplatz wieder entfernen.
Die Beklagte stellte keinen Antrag. In der Sache selbst verwies sie auf die ihrer Meinung nach zutreffenden Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen Urteils.
IV Die Revision ist statthaft; das Landessozialgericht hat sie ausdrücklich zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Zulassung ist auch unbeschränkt erfolgt. Der Umstand, daß in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils als Motiv der Zulassung eine Abweichung von dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 21. September 1956 (7 RAr 104/55) angegeben wurde, ändert nichts an dieser Rechtslage. Die Zulassung kann nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zwar auf einen bestimmten materiell-rechtlichen Anspruch beschränkt werden, nicht jedoch auf eine einzelne Rechtsfrage (vgl. BSG. 3 S. 135 ff.; 11 S. 135 ff.). Um eine Rechtsfrage handelt es sich aber, wenn das Landessozialgericht die Berufung gegen das sozialgerichtliche Urteil nicht nur wegen § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG, sondern auch wegen § 147 SGG für unzulässig hielt. Der geltend gemachte Anspruch, der den Streitgegenstand bildet, ist in beiden Fällen derselbe.
Die Revision ist ferner form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist daher zulässig.
Die Revision ist auch begründet.
Da die Zulässigkeit der Berufung eine Voraussetzung ist, von der das gesamte weitere Verfahren und damit auch die Rechtswirksamkeit des Revisionsverfahrens abhängt, ist bei einer statthaften Revision von Amts wegen zu prüfen, ob bereits die Berufung statthaft gewesen ist (BSG. 1 S. 227 ff.; BSG. 2 S. 225 ff.). Dies ist hier zu bejahen.
Das Landessozialgericht hat die Zulässigkeit der Berufung des Klägers zu Unrecht verneint.
Nach § 143 SGG findet gegen die Urteile der Sozialgerichte die Berufung statt, soweit sich aus den Vorschriften der §§ 144 bis 149 SGG nichts anderes ergibt. § 144 Abs. 1 Nr. 2 a.a.O. schließt die Berufung für die Streitfälle aus, in denen Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu dreizehn Wochen (drei Monaten) geltend gemacht werden. Nach § 147 a.a.O. ist die Berufung in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe nicht zulässig, soweit sie Beginn oder Höhe der Leistung betrifft. Maßgebend für die Beurteilung des Berufungsausschlusses ist der Streitgegenstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (BSG. 2 S. 135 ff.), d.h. der prozessuale Anspruch im Sinne des durch den Antrag gekennzeichneten Begehrens auf rechtskräftige Feststellung einer Rechtsfolge (BSG. 4 S. 208; BSG. 5 S. 222 ff.). Der Inhalt dieses Begehrens bestimmt sich regelmäßig nach dem Inhalt des ablehnenden Verwaltungsakts. Im vorliegenden Falle ist der Bescheid der Beklagten vom 11. Juni in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18. Juli 1955 angefochten, durch den gegen den Kläger eine Sperrfrist von sechs Wochen verhängt wurde. Wenn daran anschließend diesem für die Zwischenzeit statt des vordem bereits bewilligten und bisher ausgezahlten Alfu-Tabellensatzes zugleich eine nach Maßgabe des § 5 des Anhangs zur Militärregierungsverordnung (MRVO) Nr. 117 für die (ehemalige) britische Zone "auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche beschränkte" Unterstützung zuerkannt wurde, ändert das nichts am Hauptinhalt und am Grundcharakter jenes Verwaltungsakts.
Die Verhängung einer Sperrfrist ist nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats - jedenfalls soweit Fälle nach dem bis zum 31. März 1957 geltenden Recht des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in Betracht kommen - ein "Mehr" als die bloße Verweigerung oder Beschränkung einer Unterstützung nach Dauer und Höhe (vgl. BSG. 3 S. 298 ff.; 5 S. 87 ff; 6 S. 80 ff.; 7 S. 29 ff.). Diese Entscheidung berührt die persönliche Sphäre des Betroffenen. Sie erwächst aus der Prüfung der Arbeitswilligkeit als einer der Voraussetzungen für den Unterstützungsanspruch in seiner Substanz. Sie hat die Nichtauszahlung einer bereits bewilligten Unterstützung und deren Verbrauch für die Zeit der Sperre zur Folge. Weil die Sperrfristverhängung indessen regelmäßig die vorausgegangene Bewilligung der Unterstützung voraussetzt, bedeutet diese Maßnahme gerade nicht die teilweise Ablehnung des Unterstützungsanspruchs und nicht eine Modifizierung der zuvor bewilligten (ursprünglichen) Alfu nach Beginn, Höhe und Dauer. Über diese Einzelheiten befindet vielmehr allein die - hier nicht betroffene - Bewilligungsverfügung. Der Sperrfristbescheid beinhaltet also nicht die Versagung eines Anspruchs auf Leistungen, so daß mit der dagegen gerichteten Klage auch nicht ein Anspruch auf wiederkehrende Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG geltend gemacht wird. Gegen einen Sperrfristbescheid besteht an sich nur für die Anfechtungsklage, nicht aber bezüglich einer damit verbundenen Leistungs- oder Verpflichtungsklage ein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BSG. in SozR. zu § 144 SGG Bl. Da 4 Nr. 15).
Auch § 147 SGG schließt die Statthaftigkeit der Berufung nicht aus; denn wie dargelegt werden die Unterstützungsmodalitäten durch den Sperrfristbescheid selbst nicht beeinflußt. Im übrigen ist die nach § 5 des Anh. zur MRVO Nr. 117 gewährte, auf das für den Lebensunterhalt Unerläßliche beschränkte Unterstützung aber auch keine Abwandlung der tabellenmäßig geregelten, nach Hauptbetrag und Zuschlägen in bestimmten Sätzen festgelegten Alfu. Es handelt sich vielmehr um die (nur für die ehemalige britische Zone vorgesehene) Sonderform einer "Notunterstützung", die dazu bestimmt war, den Einsatz von Mitteln der öffentlichen Fürsorge auszuschalten. Mithin liegt ein Streit über die Höhe der Leistung, soweit die Berechnung und Bemessung der Alfu in Betracht kommt, nicht vor. Daß aber die Höhe der Notunterstützung selbst unzutreffend berechnet oder angewendet worden sei, ist nicht geltend gemacht.
Nach alledem sieht der erkennende Senat auch im vorliegenden Rechtsstreit keinen Anlaß, von seiner ständigen Rechtssprechung in Sperrfristsachen abzuweichen.
V Das Landessozialgericht hat ohne Rechtsgrund die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Es hätte sachlich über dessen Rechtsmittel entscheiden müssen. Wegen eines Verstoßes gegen § 158 Abs. 1 SGG mußte das angefochtene Urteil daher auf die Revision des Klägers hin aufgehoben werden.
Der Senat konnte in der Sache selbst nicht entscheiden, weil das Landessozialgericht, da es über die Berufung des Klägers lediglich durch Prozeßurteil entschied, tatsächliche Feststellungen nicht getroffen hat. Die Sache mußte deshalb zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 SGG).
Das Landessozialgericht wird nunmehr umfassend zu untersuchen haben, ob dem Kläger für die Ablehnung der angebotenen Arbeit einer der im Gesetz vorgesehenen Rechtfertigungsgründe zur Seite steht. Es wird ferner, wenn dies nicht zutrifft, zu prüfen haben, ob die Beklagte etwa bei der Verhängung der Sperrfrist - abgestellt insbesondere auch auf § 93a AVAVG a.F. - das ihr zustehende Ermessen fehlerhaft oder mißbräuchlich ausgeübt hat.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen