Leitsatz (amtlich)
Beiträge, die nach dem im April 1967 eingetretenen Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit aufgrund des AnVNG Art 2 § 50 für Zeiten vor und nach Eintritt dieses Versicherungsfalls nachentrichtet werden, dürfen, wenn der Versicherte im Juni 1970 erwerbsunfähig wird, bei der nun zu gewährenden Erwerbsunfähigkeitsrente nicht angerechnet werden.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 50 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1965-06-09; AVG § 10 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09, § 141 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 52 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1233 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1419 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. März 1972 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die vom Kläger nach Art. 2 § 50 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) nachentrichteten Beiträge auf seine Erwerbsunfähigkeitsrente anzurechnen sind.
Der 1909 geborene Kläger ist Inhaber des Vertriebenenausweises C. Er war von 1924 bis 1936 versicherungspflichtig beschäftigt und von 1937 bis 1945 als selbständiger Kaufmann in Mecklenburg tätig. Von November 1945 bis Mai 1946 war er im Gebiet der heutigen Bundesrepublik versicherungspflichtig beschäftigt. Seit dem 1. April 1967 bezieht er Rente wegen Berufsunfähigkeit (Eintritt des Versicherungsfalles am 27. April 1967). Im Dezember 1969 entrichtete der Kläger für die Zeit von Mai 1938 bis Januar 1968 insgesamt 159 Monatsbeiträge, nachdem die Beklagte die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen für die Zeit vom 1. Juni 1925 bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres für zulässig erklärt hatte (Bescheid vom 17. April 1969).
Den im Juli 1970 gestellten Antrag des Klägers, die Rente wegen Berufsunfähigkeit in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umzuwandeln, lehnte die Beklagte zunächst ab, erkannte aber diesen Anspruch während des Klageverfahrens an. Der Kläger bezieht daher seit Juli 1970 (Eintritt des Versicherungsfalles am 30. Juni 1970) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 19. April 1971). Die Beteiligten streiten jetzt nur noch um die Berechnung dieser Rente, der die Beklagte die nachentrichteten Beiträge nicht zugrunde gelegt hat.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die Erwerbsunfähigkeitsrente unter Berücksichtigung der nachentrichteten 159 Monatsbeiträge neu zu berechnen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 10. März 1972 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Nach der Ansicht des LSG sind die im Jahre 1969 nachentrichteten 159 Monatsbeiträge auf die Erwerbsunfähigkeitsrente nicht anzurechnen. Das ergebe sich aus den §§ 141 Abs. 1 und 10 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG stelle zwar eine Sondervergünstigung dar, die nicht nach den allgemeinen Grundsätzen beurteilt werden könne, welche für das - in die Zukunft gerichtete - Recht der freiwilligen Weiterversicherung gelten; § 10 Abs. 2 AVG bilde daher an sich keinen geeigneten Ausgangspunkt, um die Anrechenbarkeit der wirksam nachentrichteten Beiträge zu bestimmen. Das gelte aber nur dann, wenn es sich um einen Versicherungsfall handele, der vor dem Stichtag des 1. Januar 1967 eingetreten sei. Der Endtermin, bis zu dem der Eintritt des Versicherungsfalles die Beitragsnachentrichtung nicht ausschließe, bilde gleichzeitig hinsichtlich der Anrechenbarkeit der Beiträge die Begrenzung für die Unanwendbarkeit der allgemeinen gesetzlichen Vorschriften. Bei Eintritt des Versicherungsfalles nach dem 1. Januar 1967 - wie hier - könnten deshalb während der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit entrichtete freiwillige Beiträge nur auf das Altersruhegeld und die Hinterbliebenenrenten angerechnet werden.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Er rügt die Verletzung von Art. 2 § 50 AnVNG und meint, die Entscheidung des LSG beruhe auf einer unrichtigen Anwendung der §§ 10 Abs. 2, 141 AVG. Das Bundessozialgericht (BSG) habe bereits klargestellt, daß das außerordentliche Nachentrichtungsrecht des Art. 2 § 50 AnVNG nicht nach den Grundsätzen zu beurteilen sei, die für das Recht der freiwilligen Weiterversicherung gelten, sondern sich auf die Anwendung der §§ 32 Abs. 8 und 35 Abs. 4 AVG beschränke. Für die Ansicht des LSG, daß diese besondere Behandlung der nachentrichteten Beiträge nur für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1967 gelte, fehle jede Begründung. Im übrigen habe die Beklagte weder bei der Zulassung der Nachentrichtung noch bei der Entgegennahme der Beiträge irgendwelche Einschränkungen hinsichtlich ihrer Anrechnung gemacht, wozu sie - bei Übereinstimmung der jetzt von ihr vertretenen Auffassung mit den gesetzlichen Bestimmungen - verpflichtet gewesen wäre.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Revision berufe sich zu Unrecht auf das Urteil des BSG vom 7. Juli 1964 (BSG 21, 193). Nach dem eindeutigen Wortlaut der §§ 10 Abs. 2 und 141 Abs. 1 AVG sei es dem Versicherten schon nach dem Eintritt der Berufsunfähigkeit verwehrt, freiwillige Beiträge für die Zeit davor zur Anrechnung auf die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu entrichten. Es könne nach der Entstehungsgeschichte der Vorschrift zweifelhaft sein, ob der Gesetzgeber dieses Ergebnis gewollt habe. Dennoch dürften die Bestimmungen der §§ 10 Abs. 2 und 141 Abs. 1 AVG nicht von der Rechtsprechung im Sinne des reinen Versicherungsprinzips dahin korrigiert werden, daß nur die Anrechnung für den bereits eingetretenen Versicherungsfall ausgeschlossen sein solle. Es müsse angenommen werden, daß die §§ 10 Abs. 2 und 141 Abs. 1 AVG das Risiko des Versicherungsträgers absichtlich beschränkten, um ihn nicht zu sehr zu belasten.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Streitig ist allein die Anrechenbarkeit der vom Kläger nach Art. 2 § 50 Abs. 1 Satz 2 AnVNG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I S. 476) rechtmäßig nachentrichteten 159 Beiträge auf seine Erwerbsunfähigkeitsrente. Bei diesen Beiträgen handelt es sich um freiwillige Beiträge, die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit (27. April 1967) und vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit entrichtet worden sind für Zeiten, die zum überwiegenden Teil vor, teils aber auch nach Eintritt der Berufsunfähigkeit liegen.
Nach § 10 Abs. 2 AVG in der bis zum Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 geltenden Fassung konnte während einer Berufsunfähigkeit eine Weiterversicherung nur zur Anrechnung für das Altersruhegeld und die Hinterbliebenenrente, also nicht zur Anrechnung für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit, erfolgen. § 141 Abs. 1 AVG verbietet darüber hinaus die Entrichtung freiwilliger Beiträge nach Eintritt der Berufsunfähigkeit (der Erwerbsunfähigkeit oder des Todes) für Zeiten vorher. Schon das LSG hat dazu zutreffend dargelegt, daß darin kein Entrichtungsverbot schlechthin liegt, diese Vorschrift vielmehr ebenfalls nur ein Anrechnungsverbot enthält. Anders als bei Pflichtbeiträgen können deshalb nach Eintritt der Berufsunfähigkeit, aber vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit entrichtete freiwillige Beiträge weder für die Berufsunfähigkeitsrente noch für die Erwerbsunfähigkeitsrente berücksichtigt werden (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd. III S. 652 g).
Die §§ 10 Abs. 2 aF und 141 Abs. 1 AVG sind zwar insoweit Auswirkungen des Versicherungsprinzips, als sie nach Eintritt eines bestimmten Versicherungsfalles (z. B. Berufsunfähigkeit) die Leistung freiwilliger Beiträge für Zeiten nach und vor Eintritt dieses bestimmten Versicherungsfalles nicht zur Anrechnung auf die Leistung aus diesem bestimmten Versicherungsfall gestatten. Hier aber geht es um de Frage, ob eine Anrechnung auch auf einen späteren anderen Versicherungsfall entfällt. Das läßt sich aus dem Versicherungsgedanken allein nicht herleiten. Das BSG hat bereits im Urteil vom 25. Juni 1971 - 1/11 RA 122/69 (BSG 33, 41, 43) dargelegt, daß und weshalb die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit entrichteten freiwilligen Beiträge auf den Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit grundsätzlich nicht anrechenbar sind. Die Einführung der dort erläuterten Stufen- und Wertfolge der beiden auf der Rentenreform des Jahres 1957 beruhenden neuen Versicherungsfälle der Berufsunfähigkeit und der Erwerbsunfähigkeit habe dazu geführt, daß grundsätzlich nach Eintritt des geringerwertigen Versicherungsfalles noch Beiträge entrichtet werden können, die auf den nächst höheren Versicherungsfall anzurechnen sind. Hiervon habe der Gesetzgeber nur insofern Ausnahmen angeordnet, als nach Eintritt der Berufsunfähigkeit keine freiwilligen Beiträge mehr entrichtet werden können, die auf den Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit anrechenbar sind, und daß der Empfänger eines Altersruhegeldes keine Beiträge mehr entrichten kann, die im Falle seines Todes die Höhe der Hinterbliebenenrenten beeinflussen. Diesen Regelungen habe ersichtlich u. a. der Gedankengang zugrunde gelegen, daß sich hier andernfalls Möglichkeiten ergeben hätten, das Versicherungsrisiko allzu sehr und einseitig zum Nachteil des Versicherungsträgers zu verschieben. Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest. Sie wird durch den Wortlaut des § 10 Abs. 2 AVG aF gestützt; danach konnte "während einer Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit" eine Weiterversicherung nur zur Anrechnung auf Altersruhegeld und Hinterbliebenenrente erfolgen. Hiervon ausgehend war auch § 141 Abs. 1 AVG nicht anders zu verstehen, was die zeitlich noch mehr zurückreichenden Beiträge für Zeiten vor einer Berufsunfähigkeit betraf. Offenbar bestand die Befürchtung, daß ein Versicherter, bei dem bereits Berufsunfähigkeit eingetreten ist, ein so erhebliches Risiko hinsichtlich des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit darstelle, daß man die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen für diesen nächst höheren Versicherungsfall nicht mehr zulassen könne.
Die auf § 141 Abs. 1 und § 10 Abs. 2 AVG idF vor dem RRG beruhende Regelung wird allerdings durch die Vorschrift des Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG durchbrochen. Hiernach darf ein bestimmter begünstigter Personenkreis, zu dem der Kläger unstreitig zählt, für die Zeit vor Vollendung des 65. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1924 zurück freiwillige Beiträge nachentrichten. Nach Abs. 1 Satz 4 dieser Vorschrift steht der Eintritt des Versicherungsfalles vor dem 1. Januar 1967 der Nachentrichtung von Beiträgen nicht entgegen. Das bedeutet, daß sich die nachentrichteten Beiträge auch auf den zur Zeit der Nachentrichtung bereits eingetretenen Versicherungsfall - und bei Berufsunfähigkeit auch auf den Versicherungsfall einer späteren Erwerbsunfähigkeit - auswirken (BSG 21, 193). Ist dagegen - wie hier - der Versicherungsfall erst nach diesem Endtermin (1. Januar 1967) eingetreten, so gelten für die Anrechenbarkeit der nachentrichteten freiwilligen Beiträge die allgemeinen gesetzlichen Vorschriften (§ 141 Abs. 1 und § 10 Abs. 2 AVG aF). Für ein anderes Verständnis dieses Endtermins fehlt ein sinnvoller Grund. Von denjenigen, bei denen der Versicherungsfall bis zu diesem Zeitpunkt nicht eingetreten war, konnte erwartet werden, daß sie von ihrer Nachentrichtungsberechtigung sobald wie möglich Gebrauch machten. Das LSG hebt mit Recht hervor, daß in solchen Fällen ein Schutzbedürfnis entfällt. Die Revision beruft sich insoweit zu Unrecht auf das Urteil des BSG vom 7. Juli 1964 - 1 RA 253/61 (BSG aaO). Dort ist zwar dem Entschädigungsgedanken in Art. 2 § 50 AnVNG der Vorrang eingeräumt vor dem Versicherungsgedanken, wie er in den §§ 32 Abs. 8 und 35 Abs. 4 AVG zum Ausdruck kommt. Es wird aber ebenso deutlich gesagt, daß der in Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG genannte Endtermin nur dann sinnvoll erscheine, wenn bis dahin der Versicherungsfall als Hinderungsgrund nicht nur für die Nachentrichtung, sondern auch für die Anrechenbarkeit der Beiträge entfalle, und ferner, daß der Versicherungsgedanke nur solange unberücksichtigt bleiben könne, als nicht der Versicherungsfall nach dem genannten Stichtag eintritt (BSG 21, 193, 196, 197). Die Begünstigung des in Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG genannten Personenkreises bedeutet bereits eine erhebliche Erhöhung des Versicherungsrisikos zum Nachteil des Versicherungsträgers. Es ist - jedenfalls für die Vergangenheit - kein überzeugender Grund ersichtlich, weshalb dieses Risiko durch Anrechnung der nachentrichteten Beiträge auf eine Erwerbsunfähigkeitsrente zum Nachteil der Versichertengemeinschaft noch zusätzlich hätte erhöht werden sollen (vgl. Waldmann in Deutsche Rentenversicherung 1971, S. 83 ff).
Zwar ist die bisherige Einschränkung des § 10 Abs. 2 AVG aF durch seine Neufassung auf Grund des RRG vom 16. Oktober 1972 entfallen, so daß nach der zur Zeit geltenden Regelung die während einer Berufsunfähigkeit entrichteten freiwilligen Beiträge auch schon bei einer Erwerbsunfähigkeitsrente angerechnet werden. Möglicherweise wird sich diese Gesetzesänderung auch auf die Auslegung des § 141 Abs. 1 AVG künftig auswirken müssen (vgl. Albrecht in "Mitteilungen der LVA Berlin" 1973 S. 108 ff). Die neue Regelung gilt aber erst für Versicherungsfälle, die seit dem Inkrafttreten des RRG (19. Oktober 1972) eingetreten sind (Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG). Gerade diese Neuregelung macht deutlich, daß es nach der bisherigen Regelung nicht zulässig gewesen ist, die vom Kläger nachentrichteten freiwilligen Beiträge auf seine Erwerbsunfähigkeitsrente anzurechnen.
Der Meinung der Revision, dem Kommentar von Eicher/Haase "Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten", 4. Aufl., Art. 2 § 50 AnVNG, Anm. 5 b Abs. 1, wonach die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit entrichteten freiwilligen Beiträge - gleichgültig, ob sie für Zeiten vor oder nach Eintritt des Versicherungsfalles bestimmt sind - sich nur auf das Altersruhegeld und die Hinterbliebenenrente auswirken, sei zu entnehmen, daß sie schon bei seiner Erwerbsunfähigkeitsrente anzurechnen seien, vermag der Senat nicht zu folgen. Ein überzeugender Anhaltspunkt für die "Annahme" des Klägers ist nicht zu erkennen. In Anbetracht der bislang bestehenden gesetzlichen Regelung hatte die Beklagte auch keinen Anlaß, den Kläger bei Entgegennahme der nachentrichteten Beiträge besonders darauf aufmerksam zu machen, daß diese Beiträge bei einer späteren Erwerbsunfähigkeitsrente nicht berücksichtigt werden könnten.
Die Revision des Klägers ist demnach unbegründet und muß deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen