Leitsatz (redaktionell)
Hat im Zeitpunkt der Wiederverheiratung der Witwe des Versicherten deswegen kein Anspruch auf Gewährung von Witwenrente bestanden, weil kein Versicherungsträger für die Gewährung der Witwenrente zuständig gewesen ist, so kann auch das Wiedergutmachungsrecht keine Vergünstigungen verschaffen.
Normenkette
AVG § 68 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; WGSVG; NVG
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. Dezember 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten sind der Klägerin auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die im Jahre 1914 geborene und zum Kreis der Verfolgten des Nationalsozialismus gehörende Klägerin begehrt "wiederaufgelebte" Witwenrente aus der Angestelltenversicherung (AnV) ihres im September 1944 gestorbenen ersten Ehemannes. Dieser lebte mit ihr nach seiner Flucht aus Berlin (1938) bis zu seinem Tode in Chile. Dort heiratete sie im Juni 1947 zum zweiten Mal. Ihr zweiter Ehemann starb am 7. Juni 1970.
Die Beklagte lehnte den im Juni 1970 gestellten Rentenantrag der Klägerin ab (Bescheid vom 7. August 1970), weil im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung kein Anspruch auf Gewährung von Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes bestanden habe. Die Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg. Nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) scheitert der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente daran, daß im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung kein Versicherungsträger für die Gewährung der Rente zuständig gewesen sei; sie habe auch nicht nach späteren Rechtsvorschriften rückwirkend einen Witwenrentenanspruch erworben. Das Wiedergutmachungsrecht verschaffe der Klägerin keine Vergünstigung. Das LSG ließ die Revision zu zur Klärung der Frage, ob im Hinblick auf das Verfolgtenschicksal der Klägerin im Rahmen von § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) eine ausfüllungsbedürftige Gesetzeslücke bestehe.
Die Klägerin legte frist- und formgerecht Revision ein mit dem Antrag,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zur Zahlung einer Witwenrente zu verurteilen.
Sie rügt eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG. Hiernach komme es nur darauf an, daß im Zeitpunkt der Wiederverheiratung ein materiell-rechtlicher Anspruch auf Witwenrente bestanden habe. Das LSG verkenne, daß ein derartiger Anspruch nicht gleichbedeutend sei mit dem Anspruch auf Auszahlung der Rente. Die Besonderheit des vorliegenden Falles beruhe darauf, daß die Klägerin sich auf Grund von Verfolgungsmaßnahmen unfreiwillig im Ausland aufgehalten habe. Es dürfe deshalb nicht darauf abgestellt werden, daß zur Zeit ihrer Wiederverheiratung ein zuständiger Versicherungsträger nicht vorhanden gewesen sei oder daß sie nicht im Zuständigkeitsbereich einer Landesversicherungsanstalt (LVA) gewohnt habe. Der Klägerin müsse zumindest im Wege der Lückenausfüllung geholfen werden.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Der Anspruch der Klägerin auf "wiederaufgelebte" Witwenrente ist nach § 68 Abs. 2 AVG zu beurteilen, weil ihre zweite Ehe nach dem 1. Januar 1957 aufgelöst worden ist (Art. 2 § 25 Abs. 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG - idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972). Die Klägerin erfüllt zwar die sonstigen Voraussetzungen des § 68 Abs. 2 AVG; sie kann aber die "wiederaufgelebte" Witwenrente deshalb nicht beanspruchen, weil durch ihre Wiederverheiratung im Jahre 1947 kein Witwenrentenanspruch weggefallen ist. § 68 Abs. 2 AVG läßt den Anspruch auf Witwenrente nicht originär entstehen, sondern setzt voraus, daß ein solcher Anspruch bestanden hat. Zwar muß nicht eine Rente tatsächlich auch ausgezahlt worden sein; es muß jedoch ein materiell-rechtlicher Anspruch wirklich begründet gewesen sein (vgl. BSG 16, 204). Hieran fehlt es; denn ein Anspruch der Klägerin auf Witwenrente, den ein im späteren Bundesgebiet ansässiger Versicherungsträger hätte erfüllen müssen, hat im Zeitpunkt ihrer Wiederheirat im Jahre 1947 nach den damaligen reichsrechtlichen Vorschriften - Bundesrecht kommt für die damalige Zeit nicht in Betracht - nicht bestanden (vgl. BSG 14, 238). Das LSG hat die hierfür maßgeblichen, auf dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches und der damit verbundenen Stilllegung der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) beruhenden Gründe zutreffend dargelegt. Ebenso hat es mit Recht ausgeführt, daß die Klägerin auch nicht nach späteren, im Bundesgebiet gültigen Rechtsvorschriften einen Witwenrentenanspruch rückwirkend erworben hat. Nach der Regelung im Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz vom 7. August 1953 hat ein Anspruch frühestens vom 1. April 1952 an entstehen können; damals aber ist die Klägerin nicht mehr Witwe gewesen. Zwar haben bis zur Errichtung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) im Jahre 1953 die Landesversicherungsanstalten in den Ländern bzw. Gebieten der westlichen Besatzungszonen auf Grund von Anordnungen der Besatzungsmächte und der zuständigen deutschen Stellen, unmittelbar nach dem Zusammenbruch auch kraft eigenen Entschlusses, die Aufgaben der früheren AnV durchgeführt (vgl. BSG 3, 286, 292; 4, 91, 96); sie haben aber entsprechend dem sogenannten Wohnsitzgrundsatz nur diejenigen Versicherten der stillgelegten RfA und die Hinterbliebenen dieser Versicherten betreut, die in ihrem jeweiligen Bezirk gewohnt haben. Die Klägerin wäre daher selbst dann, wenn sie vor ihrer Wiederverheiratung im Jahre 1947 einen Antrag auf Witwenrente aus der AnV ihres ersten Ehemannes bei einem Versicherungsträger im jetzigen Bundesgebiet gestellt hätte, wegen ihres damaligen Auslandsaufenthalts nicht anspruchsberechtigt gewesen. Bis zu ihrer Wiederverheiratung hatte die Klägerin allenfalls eine Aussicht auf Witwenrente, falls sie, ohne vorher wieder zu heiraten, in das spätere Bundesgebiet übergesiedelt wäre. Eine derartige Aussicht steht jedoch einem Anspruch auf Witwenrente im Sinne des § 68 Abs. 2 AVG nicht gleich (vgl. BSG 19, 97, 99; 25, 20, 22).
Die Rechtslage der Klägerin war somit keine andere als die aller gegenüber der RfA Rentenberechtigten, die bis zum Inkrafttreten des Fremdrentengesetzes (FRG) im Ausland gelebt und deshalb vor dem 1. April 1952 keinen Anspruch gegen einen Versicherungsträger im Bundesgebiet gehabt haben.
Der Senat verkennt nicht, daß der Auslandsaufenthalt der Klägerin auf ihrem Verfolgtenschicksal beruht; er ist jedoch ebenso wie das LSG der Auffassung, daß die gesetzliche Regelung des § 68 Abs. 2 AVG für Fälle der vorliegenden Art keine Lücke enthält, die durch Berücksichtigung des dem Verfolgtengesetz und dem Bundesentschädigungsgesetz zugrunde liegenden Prinzips einer vollständigen Wiedergutmachung zu schließen ist.
Zeiten eines durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufenen Auslandsaufenthalts bis zum 31. Dezember 1949 können zwar nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG unter bestimmten Voraussetzungen als Ersatzzeiten berücksichtigt werden. Wie jedoch schon das LSG zutreffend ausgeführt hat, läßt sich weder aus dem Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 (NVG) noch aus dem Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 herleiten, daß bei der Klägerin ein Witwenrentenanspruch im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung zu unterstellen oder sie so zu behandeln wäre, als hätte sie bis zu ihrer Wiederheirat im späteren Bundesgebiet gewohnt. Es ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, daß der Gesetzgeber Fälle der vorliegenden Art übersehen hat. Deshalb entfällt auch die Möglichkeit, der Klägerin im Wege der Ausfüllung einer Gesetzeslücke zu helfen. Auch wenn - wie hier - das Fehlen eines Rentenanspruchs letztlich auf einen Verfolgungstatbestand zurückzuführen ist, sieht es der Gesetzgeber offenbar nach dem Sinn und Zweck des § 68 Abs. 2 AVG als sachgerecht an, Witwen, die sich bis zu ihrer Wiederverheiratung in ihrer Lebensweise noch nicht auf einen Rentenbezug eingestellt hatten und durch ihre Wiederverheiratung keinen "Besitzstand" aufgegeben haben, nicht in den Genuß der "wiederaufgelebten" Witwenrente kommen zu lassen. Dabei kommt es nicht darauf an, aus welchen Gründen ein Anspruch auf Witwenrente bei der Wiederverheiratung nicht gegeben war (vgl. BSG 14, 238, 244; 19, 97, 99). Dieser Grundsatz gilt schlechthin und kann auch bei dem Personenkreis der Nicht-Verfolgten zu Auswirkungen führen, die mit allgemeinen Billigkeitserwägungen nicht zu vereinbaren sind.
Die Revision der Klägerin ist sonach unbegründet und muß deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen