Leitsatz (amtlich)

Der Träger der Rentenversicherung ist bei seiner Entscheidung über das Ruhen der Rente nach RVO § 1278 in der Regel nicht berechtigt, der Entscheidung des Trägers der Unfallversicherung über die aus diesem Versicherungszweig zu zahlende Rente einen anderen Inhalt zu geben. Er hat diese Rente - auch der Art und Höhe nach - seiner Entscheidung zugrunde zu legen (Weiterführung von BSG 1971-08-18 4 RJ 355/68 = BSGE 33, 103).

 

Normenkette

RVO § 1278 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 587 Fassung: 1963-04-30, § 568 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 2. Februar 1972 wird aufgehoben.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 21. Januar 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Verfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Wegen der Folgen eines im Jahre 1966 erlittenen Arbeitsunfalls bezog der Kläger von der zuständigen Berufsgenossenschaft (EG) zunächst eine Teilrente aus der Unfallversicherung; diese wurde für die Zeit bis zum Beginn der von der BG vorgesehenen Berufsförderung (Umschulung) nach § 587 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf die Vollrente erhöht. Die Umschulung fand in der Zeit vom 7. Oktober 1968 bis 26. März 1971 statt. Mit Ablauf des 6. Oktober 1968 stellte die EG die Zahlung der Vollrente ein und zahlte - aufgrund eines bindend gewordenen Bescheides - für die Folgezeit wieder eine Teilrente, und zwar von 40 % der Vollrente. Zugleich bewilligte sie dem Kläger für die Dauer der Umschulung einen Unterhaltsbeitrag (§ 568 RVO) in Höhe der Differenz zwischen der Teil- und der Vollrente, abzüglich eines Betrages von 90,- DM monatlich wegen ersparter Kosten für Unterkunft und Verpflegung.

Die beklagte Landesversicherungsanstalt sprach dem Kläger für die Zeit vom 1. Mai 1968 bis 31. März 1971 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu (Bescheid vom 18. November 1968 in Verbindung mit dem Bescheid vom 1. September 1970). Sie ging davon aus, daß die von der BG während der Zeit der Umschulung gewährten Leistungen wirtschaftlich und rechtlich als Vollrente anzusehen seien. Sie legte deshalb den Gesamtbetrag dieser Leistungen bei der Entscheidung über das Ruhen der Berufsunfähigkeitsrente in Anwendung des § 1278 RVO zugrunde. - Demgegenüber machte der Kläger geltend, der Unterhaltsbeitrag dürfe im Rahmen des § 1278 RVO keine Beachtung finden.

Die Klage hatte in erster Instanz Erfolg. Die Beklagte ist verpflichtet worden, die Berufsunfähigkeitsrente des Klägers neu festzustellen und dabei für die Zeit vom 7. Oktober 1968 an nur die Teilrente der BG-nicht dagegen den Unterhaltsbeitrag - zu berücksichtigen (Urteil des Sozialgerichts - SG - Stade vom 21. Januar 1970).

Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 2. Februar 1972). In den Entscheidungsgründen ist ua ausgeführt: Der Kläger habe zwar während der Zeit der Umschulung aus der Unfallversicherung lediglich eine Teilrente bezogen. Der Unterhaltsbeitrag nach § 568 Abs. 1 Nr. 2 RVO könne der Verletztenrente nicht gleichgestellt werden. Jedoch sei der Unterhaltsbeitrag zu Unrecht bewilligt worden. Die BG sei verpflichtet gewesen, dem Kläger auch für die Zeit der Berufsförderung die Vollrente gemäß § 587 RVO zu zahlen. Auch während dieser Zeit sei der Kläger infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen gewesen. Die Rechtswidrigkeit des Bescheides, durch den der Unterhaltsbeitrag bewilligt worden sei, müsse im Verfahren zwischen dem Kläger und dem Träger der Rentenversichrung - eine Bindungswirkung sei nur zwischen dem Kläger und der BG eingetreten - zu einer Umdeutung dieses Bescheides führen. Der Kläger sei so zu behandeln, als ob er von der BG die Vollrente erhalten habe. Dadurch ergebe sich für ihn keine Schlechterstellung. Zwar werde in Anwendung des § 1278 RVO die Berufsunfähigkeitsrente zum Teil zum Ruhen gebracht. Auf der anderen Seite bestehe bei Zahlung eines Unterhaltsbeitrages die Verpflichtung der BG, diesen unter Anrechnung der vom Träger der Rentenversicherung gewährten Rente zu kürzen. Eine Kürzung der Berufsunfähigkeitsrente sei jedoch eher gerechtfertigt, da es in erster Linie Aufgabe der Unfallversicherung sei, die Folgen eines Arbeitsunfalls auszugleichen.

Der Kläger hat Revision eingelegt. Er ist der Auffassung, daß der Bescheid der BG von der Beklagten nicht in seinem Inhalt verändert werden könne.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie beruft sich im wesentlichen auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung.

Die Revision ist begründet. Entgegen der Auffassung des LSG durfte die Beklagte bei der Feststellung der von ihr zu zahlenden Rente nicht von der Vollrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung ausgehen.

Nach § 1278 RVO ruht eine Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Rentenversicherung, wenn sie - beim Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - mit einer Verletztenrente aus der Unfallversicherung zusammentrifft. Die Voraussetzung des Zusammentreffens zweier Renten der vorbezeichneten Art ist erfüllt; dem Kläger war von der Beklagten die Rente wegen Berufsunfähigkeit bewilligt worden, wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles bezog er eine Verletztenrente. Die Entscheidung darüber, ob und ggf. in welcher Höhe die Rente der Beklagten zum Ruhen gekommen ist, hängt - insoweit ist dem LSG zu folgen - davon ab, ob die von der BG gewährte Gesamtleistung als Teilrente mit Unterhaltsbeitrag oder als Vollrente zu werten ist. Die BG hat ihre Leistungen für die in Rede stehende Zeitspanne aufgeschlüsselt, nämlich in eine Teilrente von 40 % sowie in einen Unterhaltsbeitrag nach § 568 RVO. Sie hat - nach außen erkennbar - zum Ausdruck gebracht, daß sie die Gewährung der Vollrente in Anwendung des § 587 RVO für fehlerhaft halte. Die Überlegung des LSG, daß eine Umdeutung des vorbezeichneten Bescheides nicht dem Willen der BG entspreche, ist nicht zu beanstanden. Eine Umdeutung gegen den Willen der BG hält der Senat - anders als das LSG - nicht für zulässig. In § 1278 RVO ist auf das Zusammentreffen zweier Renten abgestellt. Die Voraussetzungen dafür, daß die Renten zusammentreffen, werden auf dem Gebiet der Unfallversicherung von der zuständigen BG, auf dem der Rentenversicherung von dem insoweit zuständigen Versicherungsträger geschaffen. Aus dem Gesetz ergibt sich kein Anhalt dafür, daß eine Überprüfung der Entscheidung des einen Versicherungsträgers durch den anderen in Erwägung zu ziehen wäre. Daß eine andere Auslegung durch den der Vorschrift innewohnenden Zweck geboten sein könnte, vermag der Senat nicht zu erkennen. Es soll verhindert werden, daß die mehreren Renten eine im Gesetz festgelegte Höhe überschreiten; der in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkte Versicherte soll aus dieser Einschränkung keinen unvertretbaren Nutzen ziehen. Dieser Zweck erfordert es nicht, den Versicherten der Gefahr von Nachteilen auszusetzen. Diese könnten schon darin liegen, daß er, wollte man in Fällen der vorliegenden Art dem Träger der Rentenversicherung das Recht zubilligen, die Entscheidung der BG zu überprüfen, für eine nicht unbeträchtliche Zeitspanne über seine Renten im Ungewissen bliebe und möglicherweise gezwungen wäre, ein neues Verfahren über sich ergehen zu lassen. Der Versicherte muß - wie auch sonst - auf den Bescheid der BG vertrauen können. Der Träger der Rentenversicherung ist deshalb bei seiner Entscheidung über das Ruhen der Rente nach § 1278 RVO in der Regel nicht berechtigt, der Entscheidung des Trägers der Unfallversicherung über die aus diesem Versicherungszweig zu zahlende Rente einen anderen Inhalt zu geben. Er hat diese Rente vielmehr - auch der Art und Höhe nach - seiner Entscheidung zugrunde zu legen. Ihm ist es verwehrt, in die Befugnisse einer anderen Selbstverwaltungskörperschaft einzugreifen. Dies hat der erkennende Senat bereits früher (BSG 33, 103 = SozR Nr. 19 zu § 1278 RVO) ausgesprochen. Er sieht nach Überprüfung der dort vertretenen Auffassung keinen Anlaß, von ihr abzuweichen.

Es kann offen bleiben, ob Ausnahmen - etwa dann, wenn der Träger der Unfallversicherung offensichtlich oder bewußt gesetzwidrig verfahren ist - denkbar sind. Um einen solchen Ausnahmefall handelt es sich hier nicht. Die Frage, ob im Falle der Umschulung vom Träger der Unfallversicherung die Vollrente nach § 587 RVO zu gewähren ist oder ob es bei der Teilrente - evtl. wie hier zusammen mit einem Beitrag zum Unterhalt (§ 568 RVO) - sein Bewenden haben muß, ist umstritten (vgl. BSG aaO). Eine höchstrichterliche Entscheidung ist hierzu noch nicht ergangen, sie war auch in dem vorliegenden Fall aus den bereits dargelegten Gründen entbehrlich.

Die Beklagte mußte bei ihrer Entscheidung über die Rente des Klägers von einer - durch bindend gewordenen Bescheid festgestellten - Teilrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung in Höhe von 40% der Vollrente ausgehen. Nach diesem Rentenbetrag richtet sich das eventuelle Ruhen der dem Kläger zustehenden Berufsunfähigkeitsrente. Der ihm von der BG gewährte Unterhaltsbeitrag kann im Rahmen des § 1278 RVO nicht wie eine Verletztenrente aus der Unfallversicherung behandelt werden, wenn er auch in dem vorliegenden Fall der Höhe nach dem Differenzbetrag zwischen der Teilrente und der Vollrente entsprach. Der Beitrag zum Unterhalt nach § 568 RVO unterliegt nicht den für die Rente geltenden strengen Regeln. Der Träger der Unfallversicherung ist berechtigt, diesen Beitrag wechselnden Verhältnissen in der wirtschaftlichen Lage des Verletzten anzupassen. Solche Leistungen - in § 1278 RVO ist auch allein auf "Renten" abgestellt - sind nicht geeignet, das Ruhen einer Rente aus der Rentenversicherung herbeizuführen.

Hiernach hat das SG zu Recht dahin entschieden, daß das Ruhen der Rente aus der Rentenversicherung allein von der Teilrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung abhängig war. Das anderslautende Urteil des LSG muß aufgehoben, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden.

Der vorliegende Fall böte selbst dann keinen Anlaß für eine andere Entscheidung, wenn man der vom erkennenden Senat vertretenen Auffassung nicht folgen wollte. Der Beklagten ist der Bescheid der BG über die Gewährung der Teilrente und des Beitrags zum Unterhalt zugegangen; sie konnte hierdurch im Hinblick auf § 1278 RVO mittelbar in ihrer Rechtsstellung betroffen werden. Bei dieser Betrachtungsweise müßte sie als Beteiligte i. S. des § 77 SGG gelten. Auch ihr gegenüber wäre der Bescheid, da die Anfechtungsfrist von ihr nicht gewahrt wurde, bindend geworden (vgl. hierzu BSG 15, 118; 34, 289 und BSG in SozR Nr. 140 zu § 54 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669500

BSGE, 168

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